20. Das unterirdische Hünenland.

Aus dem Volmethale.

[258] Da war einmal ein starker muthiger Kerl, der stieg in eine Grube hinab und fand unten eine neue Welt, die war von Riesen bewohnt. In dem ersten Hause, an welches er kam, saß ein Riesenweib, das warnte ihn und sagte: »Kleiner Wicht, mache daß du fortkommst, denn wenn mein Mann heimkehrt, dann geht's dir schlecht!« – »Den fürchte ich nicht, ich bleibe«, versetzte der Held. »Sieh, da kommt er schon«, fuhr die Riesin fort. Der kleine Held schaute durchs Fenster und erblickte den Riesen, der mit großen Eichbäumen angeschleppt kam, die er im Walde ausgerißen und mit Eichentelgen zusammengebunden hatte. Er war aber dreimal so groß, als das größte Menschenkind, und trug[258] auf der Brust eine Sonne von rothem Kupfer. Unser Held forderte ihn zum Kampfe heraus, erlegte ihn und nahm die eherne Sonne als Siegesbeute mit sich. Darauf ging er in ein zweites Haus. Auch hier fand er ein Riesenweib, das ihn ebenfalls vor ihrem Manne warnte, der gerade schlief. »Mache dich fort, kleiner Kerl«, sagte sie, »ehe mein Mann erwacht.« Aber der kleine Held ließ es darauf ankommen und wartete, bis dieser Riese erwachte. Der war aber viel größer als der erste, hatte gar zwei Köpfe und vor der Brust eine silberne Sonne. Alsobald begann der Kleine mit ihm den Streit, erschlug ihn und hieb ihm beide Köpfe ab, die silberne Sonne aber nahm er wieder als Beute mit. Weiter kam er in ein drittes Haus, wo ein noch weit größerer Riese mit drei Köpfen wohnte, der eine goldene Sonne vor der Brust trug. Auch hier saß eine Riesenfrau, die dem Helden rieth, sich zu entfernen, ehe denn ihr Mann erwache. Aber der Kleine begehrte trotzig den Kampf und blieb Sieger; dem erschlagenen Riesen hieb er alle drei Köpfe ab und trug die goldene Sonne als Siegesbeute mit sich hinweg. Jetzt dünkte ihn, er habe Beute genug, und schwerbeladen stieg er wieder zur Oberwelt hinauf. Er machte die Sonnen zu Gelde und war nun ein reicher Mann.

Quelle:
Adalbert Kuhn: Sagen, Gebräuche und Märchen aus Westfalen und einigen andern, besonders den angrenzenden Gegenden Norddeutschlands 1–2. Band 2, Leipzig 1859, S. 258-259.
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