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[89] Der Jüngling, dessen groben, verworrenen Lebensfaden wir zu verfolgen unternommen haben, war, als er die väterliche Schwelle wieder betrat, über eine jener unsichtbaren Grenzen geschritten, welche[89] sich durch die Gesellschaft und durch den einzelnen Menschen selbst hindurchziehen. Er empfand vor seinem Vater, wo nicht Achtung, denn zu dieser gehört ein ausgebildeteres Bewußtsein, so doch eine unbestimmte Scheu, ja sogar unter rauher Decke einen Rest kindlicher Zuneigung; und dennoch sagte ihm ein unbestechliches Gefühl, daß er durch den bloßen Rücktritt aus dem Kreise des Waisenpfarrers in den Kreis des Sonnenwirtshauses um eine Stufe gefallen sei. Das Leben war hier ein ganz anderes und wies mit seinen alltäglichen und doch gebieterischen Zwecken so manche Forderung der reifenden Seele zurück, welche dort, obwohl unter dem einförmigen Frondienst des Wollekrämpelns, von einem Geiste, den seine Zeitgenossen apostolisch nannten, geweckt worden war; aber die fortgesetzte Berührung mit dem Alltagsleben mußte auch zugleich die Wirkung haben, daß dieses Gefühl allmählich wieder in ihm abgestumpft wurde. Sein blutiges Handwerk, wie es das unendliche Weh, das aus den stummen Augen der Tiere jammert, zum Schweigen brachte, so schlug es auch die verwandte Stimme in der Menschenbrust nieder. Daneben waren die Gäste, mit denen er täglich in der Wirtsstube zu tun hatte, gewiß lauter »ehrliche Leute«, aber wahrhaftig keine Tugendspiegel, und er hatte nur zu viele Gelegenheit, die mehr oder minder klare Betrachtung anzustellen, daß Achtbarkeit und guter Ruf in dieser Welt sehr oft weniger von einem streng ehrlichen und sittlichen Wesen, als von Klugheit und zufälligen Umständen abhängen. Je minder klar[90] aber diese Betrachtung in ihm aufstieg, desto gefährlicher war sie ihm. Überhaupt wußte sein Kopf nichts von Nachdenken, sondern nur von raschen Eindrücken, die sich unter lärmenden Zechgenossen und auf dem Tanzboden entweder befestigten oder ebenso rasch wieder verdampften. Dieses Bedürfnis, eine immer rege mißbehagliche Unruhe zu verjubeln, söhnte ihn auch wieder mit seiner Schwester aus, bald nachdem sie dem aufgedrungenen Bräutigam angetraut worden war. Denn da sie von ihrem Manne ziemlich leidlich behandelt wurde, so hatte sie dann und wann den Trost, dem geliebten Bruder einen auf die Seite gebrachten Groschen zustecken zu können, und Friedrich, den der Vater sehr kurz zu halten für gut befand, verschmähte die klingenden Beweise der Schwesterliebe nicht.

Während er auf diese Weise teils gleichgültig, teils in dumpfer Lustigkeit dahinlebte, kehrten auch seine äußeren Umstände ganz in das gewöhnliche Geleise zurück. Zu Hause ging er unangefochten aus und ein und stand mit der Stiefmutter in jenem mürrischen Verkehr, wo Gewohnheit die Stelle der Liebe vertritt. Auch in der Gemeinde wär er geduldet; niemand zeigte sich ihm widerwärtig, mancher blickte ihn freundlich an, und des Makels, der auf ihm haftete, schien nicht gedacht zu werden. Ihm selbst war nicht wohl und nicht wehe; mit dem Zuchthause hatte er auch den Waisenpfarrer vergessen. Ein strenges Gesicht machte ihm niemand mehr als der Amtmann. Aber dies hatte wenig zu sagen, denn der Amtmann galt persönlich nicht sehr viel bei der[91] Gemeinde und zu Hause gar nichts; auch nahm der im Grunde gutmütige und schwache Mann eigentlich nur deshalb eine Amtsmiene gegen ihn an, weil er ihn einmal in Untersuchung gehabt hatte und ihn nun, wo nicht mit Worten und Werken, so doch mit Gebärden polizeilich überwachen zu müssen glaubte. Dagegen war er bei der Frau Amtmännin sehr gut angeschrieben, und zwar zu seiner eigenen Verwunderung besser, als er es verdiente, denn er hatte sich schon manche boshafte Bemerkung über ihr Pantoffelregiment erlaubt. Vielleicht wär ihr nichts davon zu Ohren gekommen; genug, die stolze, kräftige Frau empfand eine gewisse Teilnahme für den jungen Burschen, der schon so früh über die Schranken der bürgerlichen Ordnung gesprungen war. Es schien ihr nicht unangenehm zu sein, wenn sie ihren Fleischbedarf von ihm ins Haus getragen bekam, und der alte Sonnenwirt, der keine Art von Gnadenschimmer aus den Augen ließ, sorgte alsbald dafür, seinem Sohne dieses Ehrenrecht auf dem Wege des Herkommens zu überweisen. Die gestrenge Frau pflegte ihn dabei sehr huldvoll zu behandeln, sie reichte ihm manchmal ein Glas Wein, ermahnte ihn zu vernünftiger Aufführung, ergötzte sich aber besonders gerne an seinen eigentümlichen freimütigen Äußerungen. An solchen ließ es Friedrich selten mangeln; denn wenn er einmal seine Schüchternheit gegen Vornehmere überwunden hatte, so tat er seiner Zunge, zumal wenn aufgemuntert, keine Gewalt mehr an. Die Gunst der Amtmännin ebnete ihm auch sonst noch seinen Pfad; der Schütz und die[92] Scharwächter, welche die Polizei im Flecken handhabten, ließen diese Stimmung ihrer Gebieterin nicht unbeachtet und drückten bei manchen Unregelmäßigkeiten des jungen Burschen, bei manchen kleinen Verstößen gegen die öffentliche Ordnung alle ihre Augen zu.

Unter diesen Umständen wär er eines Morgens mit seinem Korbe ins Amthaus eingetreten. Die Amtmännin prüfte den Inhalt und sagte wohlgefällig: »Das gibt ein schönes Brätchen, ich hab alle Konsideration vor Seines Vaters Geschmack, sag Er ihm einen Gruß, und ich sei wohl zufrieden.«

»Oh, ich hab's selber ausgewählt, Frau Amtmännin«, erwiderte Friedrich.

»Um so besser, so darf Er's auch selber in die Küche tragen. Geh Er, mein Sohn, und bring Er's der Kathrine hinaus. Daß Er sich aber nicht untersteht, dem Mädchen zu flattieren; ich habe mir sagen lassen, daß Er ein galanter Junker sei.«

Friedrich lachte und trug das Fleisch in die Küche. »Da, Jungfer«, sagte er, »und die Frau hat mir einen Kuß aufgetragen als Zugabe.«

Das Mädchen ließ mit einem leisen Schrei den Korb fallen und flüchtete sich hinter den Herd. Sie hatte etwas Demütiges und Gedrücktes in ihrem Wesen und sah, obwohl noch jugendlich und nicht unschön, doch blaß und verblüht aus. Sie war eine Verwandte der Amtmännin, die sie unter dem Namen einer Hausjungfer, eigentlich aber als Dienstmagd, zu sich genommen hatte.

»Es ist nicht so ernstlich gemeint, Jungfer«, lachte[93] Friedrich. »Nur sachte mit der Braut! Das Fleischle da hätt so sauber bleiben können, wie Ihre Tugend von meinetwegen bleiben soll.«

Er hob das Fleisch vom Boden auf, warf es ihr auf den Herd und verließ die Küche, indem er brummte: »Was sich die nicht einbildet, und ist nur so ein Flügel.«

Als er wieder ins Zimmer kam, um zu fragen, was die Frau Amtmännin auf morgen zu befehlen habe, fand er ein Glas Wein eingeschenkt, zu dem er sich nicht lange nötigen ließ.

»Hat's draußen was abgesetzt?« fragte sie. »Ich meinte einen Fall zu hören.«

»Oh, der Jungfer ist nur ein kleiner Poss passiert. Darauf hab ich weiter gar nichts gesagt als ›Sachte mit der Braut!‹, und da ist sie gleich ganz schiefrig geworden.«

Die gestrenge Frau lachte recht gnädig. »Es kommt ja nur auf den Mosje Friedrich an«, sagte sie, »ob er aus dem Sprichwort Ernst machen will. Das Mädchen ist aus einer sehr guten, aber während der Minderjährigkeit des Herzogs unterdrückten und herabgekommenen Familie. Nun, dafür hat sie sich desto besser in der Welt fortbringen gelernt; das ist auch eine Aussteuer. Sie ist schon bei einem adeligen Geheimenrat in Diensten gewesen und weiß, was Mores sind. Das gäb eine Wirtin, die den vornehmsten Gästen gewachsen wäre.«

Sie sagte dies alles auf eine scherzhafte Weise, in welcher gleichwohl etwas Aufmunterndes lag. »Aber freilich«, fügte sie hinzu, »Wirte sehen mehr auf[94] äußeres als auf inneres Metall, und bei Wirtssöhnen wird man ohne Zweifel den gleichen Gout antreffen.«

»Konträr, im Gegenteil«, versetzte der junge Mensch, »ich seh bei einem Mädle aufs Herz und nicht auf die Batzen. Liebreich ist über hübsch, und hübsch ist über reich. Aber Exküse, Frau Amtmännin, mein Sinn steht darauf, daß, wenn ich einmal heiraten tu, so muß es ein freies Mädle sein. Ich will mein Weib nicht aus der Dienstbarkeit holen. Arm darf sie wohl sein, aber keine solche, die schon auf der Adelsbank herumgerutscht und in vornehmen Häusern herumgepudelt worden ist.«

Die Amtmännin fuhr aus dem Armsessel auf, und ihre Kontusche von Perse rauschte wie eine Windsbraut durch das Zimmer. »Er Flegel, der Er ist!« schrie sie, »meint Er denn, ich werde meine Perlen vor solche Schweine werfen! Eine Zigeunerin wird Er noch kriegen oder des Seilers Tochter, wenn's hoch kommt, wozu alle Aussicht vorhanden ist! Reis Er sich auf der Stelle, und laß Er sich's nicht beigehen, mir wieder unter die Augen zu treten.«

Friedrich hatte eben das Glas ergriffen, um zur Bekräftigung seiner Rede einen herzhaften Schluck zu tun, als dieser unerwartete Sturm bei vermeintlich heiterem Himmel ausbrach. Er setzte verblüfft das Glas auf den Tisch, ergriff seinen Korb und machte sich rücklings gegen die Türe, wobei er den eben eintretenden Amtmann empfindlich auf den Fuß trat. Dieser neue Fehltritt wär nicht geeignet, ihm seine Fassung wiedergewinnen zu helfen; vielmehr[95] gelangte er strauchelnd und taumelnd zur Tür hinaus, von grimmigen Blicken und unfreundschaftlichen Segenswünschen verfolgt.

»Aber die kann einem den Marsch machen!« sagte er verwundert zu sich, als er auf der Straße war. Er trug langsam seinen Korb nach Hause, ohne sich recht erklären zu können, wodurch er die Frau so plötzlich gegen sich aufgebracht habe. Desto deutlicher stand ihm die doppelte Tatsache vor Augen, daß er um eine nicht zu verachtende Gönnerschaft ärmer und um einen furchtbaren Feind reicher geworden sei. Er verabredete hinter dem Rücken seines Vaters mit einem Knecht, daß dieser künftig statt seiner das Fleisch ins Amtshaus tragen solle; aber trotz dieser Auskunft machte ihm der Vorgang nicht wenig zu schaffen. Verschüttet Öl ist nicht gut aufheben, sagte er den ganzen Tag bedenklich mit dem Sprichwort zu sich.

Was konnte er unter dem Gewichte dieser Betrachtung Besseres vornehmen, als die Flasche aufzusuchen, in welcher der Deutsche, der Jüngling wie der Greis, der gemeine Mann wie der vornehme, schon so manche Verlegenheit ersäuft oder erst recht großgezogen hat! Sein Vater war ausgeritten, Ochsen zu kaufen, und wurde erst in später Nacht zurückerwartet; die Stiefmutter aber stand nicht in so hohem Ansehen bei ihm, um ihretwegen die Hausordnung einzuhalten. Er erlaubte sich, das Nachtessen zu umgehen, und besuchte dafür ein Bäckerhaus, wo er gerne einzusprechen pflegte.

Die Stube war halbdunkel, als er sie betrat. Auf[96] einem Ofenbänkchen dämmerte der Bäcker, wie es ihm schien; die Wärme des Ofens ließ sich bei der vorgerückten Jahreszeit recht behaglich empfinden. Hinter dem erhellten Fenster, das in die Küche ging, bewegte sich eine Gestalt, die er für die Bäckerin hielt. »Duselst, Beck?« sagte er, dem Manne im Vorübergehen einen freundschaftlichen Rippenstoß versetzend; »'n Schoppen Grillengift, Beckin!« rief er dann, gegen die Küche gewendet, und schlug ein paarmal mit der Faust auf den Tisch. Dann setzte er sich und stützte verdrießlich den Kopf auf die Hand.

Ein Licht wurde gebracht und vor ihn gestellt, ohne daß er den Kopf erhob. Gleich darauf stellte dieselbe Hand den begehrten Wein im Schoppenglase vor ihn auf den Tisch. Ohne aufzusehen, wurde er doch der Hand gewahr, die mit dem Glase vor seinen Augen erschien. Sie hatte, trotzdem daß sie nichts weniger als glatt und geschont aussah, etwas Zartes; die wohlgedrechselten Fingerchen schlangen sich allerliebst um das Glas, und an die Hand schloß sich ein zierlicher, runder, voller Arm. Eben wollte er verwundert fragen, wie die beleibte Bäckersfrau zu so anmutigen Gliedmaßen komme, als ein fremdes feines Stimmchen das in den Wirtshäusern übliche »Wohl bekomm's« dazu sprach. Er tat die Hand von den Augen, sah hin, ließ den Arm auf den Tisch fallen, hob den Kopf und starrte mit freudigem Schrecken die Erscheinung an. Es wär niemand anders als das hübsche Mädchen mit den gelben Zöpfen, das ihm neulich bei seinem unglücklichen[97] Werbungsversuch begegnet war, und das er seitdem nicht aus dem Sinn verloren hatte.

»Ei«, sagte er lustig, »heut hätt ich eigentlich einen schwarzen Strich in den Kalender machen sollen, jetzt mach ich aber einen roten dafür. – Was ist denn das, Beckin?« rief er der eintretenden Frau entgegen. »Habt Ihr Euch eine Kellnerin aus dem himmlischen Reich verschrieben?«

»Das ist keine Kellnerin«, entgegnete sie, »es ist mein Dötle (Patchen), das mir ein bißle im Haushalt und in der Wirtschaft aushilft.«

»Wie heiß'st denn, du Herzkäferle?« fragte er.

»Christine«, antwortete das Mädchen mit schüchternem Lächeln und trat einige Schritte von ihm weg, indem sie zugleich jenen hingebenden Blick auf ihn fallen ließ, der ihm schon einmal durch die Seele gedrungen wär.

»Bist du von hier?«

»Ja wäger ist sie von hier«, sagte die Bäckerin, »sie ist ja des Hirschbauern Tochter.«

»Daß dich der Strahl!« rief er. »Ich hätt geglaubt, ich sollt Kind und Kegel im Flecken hier kennen. Ja, dort hinaus bin ich freilich in Jahr und Tag nicht gekommen.«

»Arme Leut sind unwert«, versetzte die Bäckerin, »denen läuft niemand nach.«

»Oh, Beckin, redet nicht so! Ihr wißt wohl, daß es mir anders ums Herz ist. Aber«, wandte er sich zum Mädchen, »wo steckst denn du, du Zuckerstengele, daß ich dich noch kein einzig's Mal ins Aug gefaßt hab? Man sollt dich ja wahrhaftig für eine Fremde halten.«[98]

»Sie ist nie viel unter die Leut kommen«, antwortete ihre Patin für sie. »Sie ist von Kind auf immer so ein Dürftele gewesen.«

»Es ist heut nicht das erst'mal«, sagte Christine leise und freundlich.

»Ja, gelt?« erwiderte er lebhaft, »neulich sind wir einander auch begegnet?«

»Das ist wiederum nicht das erst'mal gewesen.«

»Ja, das Mädle hat Euch noch einen Dank abzustatten von lang her, für etwas, da Euer Herz nicht mehr dran denkt. Geh, erzähl's ihm, Christinele.«

»Ich nicht!« rief das Mädchen und zog sich kichernd hinter den Ofen zurück. »Erzählet Ihr's, Dotel«

»Muß ich das Maul für dich auftun, du Dichele?« sagte diese. »Nun also! Ich will anfangen, wie man ein Märlein anfängt. Es ist einmal ein klein's Mädle gewesen, hat Bäcklein gehabt wie Milch und Blut, das Spruchbuch hat's unterm Arm getragen, und ein großer Apfel, so rotbackig wie es selber, der hat ihm aus dem Schürzentäschle herausgeguckt. So ein Apfel unter der Schulzeit – Ihr werdet's wohl noch wissen –, das ist für ein Schulkind so viel oder noch mehr als für einen jungen Burschen ein Schoppen Wein im Beckenhaus. Kommt so ein barfüßiger Flegel daher, ein paar Jahr älter als das Kind, und sagt: ›Gleich gibst mir dein' Apfel, oder ich schlag dir ein paar Zähn in Hals!‹ Mein Christinele schreit und rennt, was gilt's, was hast! Aber der Bub hintendrein und faßt sie am Fittich und schüttelt sie und will ihr den Apfel nehmen. Da kommt aber einer über ihn, und wer anders als der[99] Sonnenwirtle, der Frieder, der nie kein Unrecht mit müßiger Faust hat ansehen können. Der faßt den groben Zolgen und schüttelt ihn ebenmäßig und steckt ihm ein paar, aber nicht wie's die Buben austeilen, sondern wie's die Buben von einem Mann kriegen, wenn ein Markstein gesetzt wird.«

»Gott's Blitz!« rief er fröhlich lachend, »jetzt geht mir ein Licht auf. Das ist ja der Fischerhanne gewesen, ja, ja, den hab ich einmal durchgeliedert, weil er ein Kind mißhandelt hat, wie ein Räuber und Buschklepper.«

»Ja, und dann habt Ihr dem Kind noch ein Brot dazu gegeben. Da, nimm, habt Ihr gesagt, damit dir der Apfel kein' öden Magen macht.«

»Kann sein«, sagte er, »das weiß ich nicht mehr, jedenfalls ist's gern geschehen. Was, und das Kind bist du gewesen, du Engele, du goldig's?« rief er hinter den Ofen.

»Freilich«, erwiderte die Bäckerin. »Aus Kindern werden Leute und so weiter, Ihr wißt ja, wie das Sprichwort sagt. Aber die Guttat, die hat Euch mein Christinele in einem feinen Herzen nachgetragen, beides, das Brot und daß Ihr meinen Apfel verteidigt habt, – denn von mir ist er gewesen.«

Er hatte nicht mehr ganz ausgehört. »Ist's wahr«, rief er, indem er das Mädchen, das sich sträubte und anmutig lachte, hinter dem Ofen hervorzog, »ist's wahr, daß du mich noch kennst und hast selbiges Stück im Herzen behalten?«

»Ja, es ist wahr«, antwortete sie, »und ich hätt gern –«[100]

»Was hätt'st gern? Wieder ein Stück Brot?«

Sie lachte überlaut. »Heimgegeben hätt ich's gern.«

»So, du möchtest mir die Laib heimgeben?« Er schlang den Arm um ihre Hüfte und gab ihr mit einem Wink zu verstehen, daß jetzt die beste Gelegenheit zu einer ihm anständigen Belohnung wäre. Die Bäckerin hatte den Kopf gewendet, der Mann schlief auf der Ofenbank. Er drückte sie an sich und suchte mit dem Munde ihre Lippen. Sie wich ihm lächelnd aus, ohne die vielverheißenden Augen von ihm abzuwenden, und wie er sie am Kinn fassen wollte, um das unbotmäßige Köpfchen in festen Verwahrsam zu nehmen, kam sie ihm plötzlich mit den Lippen zuvor. Sein Wunsch wär in Freiheit gewährt, ehe er zu Zwangsmitteln schreiten konnte; ein Kuß, nicht lang, nicht voll, nicht feurig, aber blitzartig treffend wär ihm an den Mund geflogen und fuhr ihm durch Mark und Bein. Ihre Lippen hafteten nur einen Augenblick; im selben Augenblick war sie ihm unter dem Arm durchgeschlüpft und huschte in die Küche hinaus.

Mit diesem Kusse wär der Würfel über sein künftiges Schicksal geworfen.

In der ersten Aufwallung seiner Leidenschaft wollte er dem Mädchen nacheilen, aber eine andere Regung hielt ihn zurück. Er glaubte in dem hellen, freundlichen Gesichte, obgleich es fast noch unmündig aussah, einen Zug zu erkennen, der keine Zudringlichkeit aufkommen ließ, und besorgte, daß er die gute Meinung, die das Mädchen seit den Kinderjahren in ihrem dankbaren Herzen von ihm behalten hatte,[101] leicht verscherzen könnte. Diese Betrachtungen hüllten sich jedoch in das Gewand des Stolzes. »Was, soll ich den Küchemichel machen?« sagte er zu sich und setzte sich trotzig wieder an den Tisch.

Die Stube füllte sich allmählich mit Gästen. Was auf dem Dorfe Wirtshausbesucher sind, die bilden so ziemlich denselben unveränderten Kreis und wechseln nur den Ort. Heute findet man sie in der ›Sonne‹, morgen geben sie dem ›Dreikönig‹ etwas »zu lösen«, übermorgen sind sie beim ›Becken‹, überübermorgen in der ›Krone‹, donnerstags gehen sie zum, wütigen Esel', freitags kriechen sie zum ›Kreuz‹, und am Sonnabend tut ihnen die Wahl weh zwischen dem Dutzend von Wirtshäusern, die noch übrig sind.

Friedrich nahm sich den Abend zusammen, um seinen Herzenszustand nicht zu verraten. Er verriet ihn aber jeden Augenblick. Er trank ein Glas um das andere, um Christinens Gegenwart zu genießen und etwa ihre Hand beim Darreichen zu berühren. Hierzu mußte er jedesmal den Augenblick wählen, wo sie gerade im Zimmer anwesend war, und dies nötigte ihn, oft einen starken Rest mit einem einzigen Zuge zu leeren. Die andern hatten sein Treiben schnell durchschaut und gaben ihr mutwilliges Ergötzen bald durch einen Augenwink, bald durch ein schiefgezogenes Maul zu erkennen. Die Gläser, die er aus Christinens Hand empfing, stiegen ihm nach und nach in den Kopf. Er sang, lachte, schwatzte viel und ließ- seine gute Laune an einem und dem andern der Anwesenden aus, endlich aber[102] auch an der abwesenden Frau Amtmännin, die er sich nicht entblödete, eine alte Kupplerin zu schelten. Wer weiß, welch törichtes Zeug er noch angerichtet haben würde, wenn nicht Christine, vielleicht absichtlich zu seinem Besten, den klugen Einfall gehabt hätte, die Magnetnadel nach dem entgegengesetzten Pol zu drehen. Sie wischte auf einmal mit einem ›Gut Nacht‹, das wenigstens deutlich auf sein Ohr berechnet war, zur Türe hinaus. Er wagte ihr nicht seine Begleitung anzubieten, aber nun war auch seines Bleibens nicht länger mehr. Allen Neckereien und Herausforderungen der andern zum Trotz machte er sich so schnell als möglich los; er hoffte, sie noch unterwegs einzuholen. Da er aber bei all seiner Aufregung doch so viel Rücksicht genommen hatte, um einigermaßen den Schein zu meiden, so gelang ihm sein Vorhaben nicht.

Er ging mit eiligen Schritten ans Ende des Fleckens, wo etwas abgesondert das Häuschen ihres Vaters lag. Seine Tritte hallten durch die Nacht. Er umging das Haus, aber kein Licht war zu sehen. Er lehnte sich lange an den Backofen, der wie ein großer Bauch aus dem Hause hervorragte. Dann setzte er sich auf die Deichsel des Wagens, der unter dem Schupfe stand. Im Hause war alles stille, nirgends ein Laut, weder ein Tritt in einer Kammer, noch das Krachen einer Treppenstufe zu vernehmen. »Du leichtfüßig's Vögele du«, sagte er, »bist schon ins Bett geschlupft und schlafst. Gut Nacht, Christinele, gut Nacht, Schatz! Mein mußt du werden, und wenn ich die Stern vom Himmel reißen müßt!«[103]

Seine Zechgenossen, als er die Stube verlassen hatte, sahen einander erst stillschweigend an, dann machten sie allerlei Bemerkungen, sowohl über den unerhörten trunkenen Freimut, mit dem er die Maria Theresia des Fleckens anzutasten gewagt, als über das plötzliche Feuer, das sich durch Flammen und Rauch verraten hatte, und zwar kreuzten sich die Bemerkungen über diese beiden Gegenstände.

»Ich glaub, der hat 'n Leibschaden unterm Hut«, fing einer an.

»Schätz wohl, und unterm Brusttuch desgleichen«, sagte ein anderer.

»Der hat dem Dr– 'n Ohrfeig geben!« versetzte ein dritter.

»Reitet der das Maul spazieren, oder das Maul ihn

»Ja, der reitet sich selber hinein.«

»Und die Augen sind auch mit ihm durchgegangen.«

»Ich glaub, die hat's ihm angetan.«

»Beckin, ich glaub, Euer Dötle kann hexen. Sie gäb übrigens eine zierliche Sonnenwirtin, heißt das, wenn ihm der Alte, nach Gestalt der Sachen, die Regierung übergibt.«

»Oh, ihr Leut, redet doch nicht so gottlos!« sagte die Bäckerin lachend dazwischen.

»Der wird ankommen, wie die S– im Judenhaus.«

»Er ist und bleibt halt des Sonnenwirts sein Frieder.«

»Ja, ja!« riefen alle zusammen, und nachdem sie in[104] solchen sprichwörtlichen Redensarten dem »Geist« Luft gemacht hatten, gingen sie heim, um denselben für dieses Mal »ruhen zu lassen«.

Quelle:
Hermann Kurz: Der Sonnenwirt. Kirchheim / Teck 1980, S. 89-105.
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