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[355] Richtig, das muß man sagen, hatte die Krämerin prophezeit. Nie war seit Jahren in dem doch so christlich gesinnten Flecken die Kirche so gefüllt gewesen wie an dem Sonntag, an welchem Friedrich mit Christinen proklamiert wurde. Außer den Kranken und Gebrechlichen blieb niemand zurück, von den Gesunden fehlte nur die Familie des Sonnenwirts. Der alte Hirschbauer hatte alle die Seinigen in die Kirche geschickt: »die Mucken werden mich derweil nicht fressen«, hatte er gesagt. Selbst der kleine Wollkopf hatte in dem Weiberstande neben seiner Mutter und Schwester Platz gefunden und hörte andächtig der Predigt zu. Wohl gab es ein Zischeln und Murmeln, und alles steckte die Köpfe zusammen, als der Pfarrer vor dem Segen die Verlesung der Paare, die in den heiligen Stand der Ehe treten wollten, begann, aber Friedrich blickte mutig nach der Kanzel und zugleich aufmerksam, ob der Pfarrer in seiner Verkündigung nicht vielleicht irgendein Zeichen seiner Abgunst einfließen lassen werde. Es geschah jedoch nichts dergleichen, und er konnte es höchstens auffallend finden, daß der Pfarrer unter den zu verkündigenden Paaren ihm[355] und seiner Braut die letzte Stelle angewiesen hatte; diese Ordnung konnte aber der Reihenfolge der Anmeldung entsprechen, somit eine zufällige sein. Der Pfarrer erteilte den Proklamierten und der Gemeinde den kirchlichen Segen, und Orgel und Choral beschlossen den Gottesdienst.

Beim Herausgehen aus der Kirche stieß Friedrich auf den Invaliden. »Was, Ihr seid auch in der Kirch gewesen, Profos? Hätt nicht geglaubt, Eure mürbe Knochen täten Euch so weit tragen. Aber 's ist mir eine Freud und eine Ehr. Nur wundert's mich, denn Ihr habt ja auch Mäus dagegen gehabt.«

»Es bleibt dabei, daß Er nicht recht gescheit ist«, sagte der Invalide. »Aber zu Seiner Hochzeit soll nichtsdestoweniger meine alte Lise krachen.«

Friedrich drückte ihm die Hand und begab sich zu den Seinigen, die vor der Kirchentür warteten. Er führte seine Braut am Arme, reichte dem kleinen Buben die andere Hand, und die neue Familie setzte sich, die Mutter und beide Söhne voraus, das Brautpaar hinter ihnen, in Bewegung. Wer von der Gemeinde den gleichen Weg hatte, ging spöttisch lächelnd an ihnen vorbei: auch konnten sie allerlei Bemerkungen hören. Doch schienen die Leute wenigstens das in der Ordnung zu finden, daß das Paar sich heute am Arme führte; daß er, ohne gültig verlobt zu sein, Arm in Arm mit ihr durch den Flecken zu der Kirchenkonventsverhandlung gegangen war, hatte bei der herrschenden Sitte noch größeren Anstoß gefunden als ihre vorzeitige Mutterschaft.

So langsam sie wegen dieses Zustandes gingen, so[356] gingen doch zwei von den andern proklamierten Paaren noch langsamer hinter ihnen drein, um sich über sie lustig zu machen. »Das ist ein Schwanenpaar!« sagte der eine Bräutigam. »Im Ludwigsburger Schloßgarten, im See, hab ich auch einmal eins gesehen, die sind grad so gewesen, nur anders, säuberer.«

»Die da sind weiß wie ein Ofenloch«, sagte seine Braut.

»Es gibt auch schwarze«, fuhr der Bräutigam fort. »Ich hab's einmal von einem Reisenden gehört, dem ich den Weg auf den Staufen hab zeigen müssen. Ist ein kurioser Herr gewesen und hat viel Kauderwelsch durcheinander geschwätzt. Sie seien aber eine große Rarität, hat er gesagt.«

»Es wird gut für den Flecken sein«, bemerkte die Braut, »wenn die da gleichfalls eine Rarität bleiben.«

»Kann denn der Schwan auf trockenem Boden laufen?« fragte der andere Bräutigam.

»Freilich«, versetzte der erste, »aber es macht ihm Müh, er wackelt schier gar so schwer daher, wie die da.« Er deutete auf Christinen, und alle vier brachen in ein rohes Gelächter aus.

Friedrich machte seine Arme los und kehrte sich um. »Ihr Spitzruten«, sagte er, »ist ein Ehrentag ein Tag zum Gassenlaufen? Aber gut, wenn ihr's nicht anders haben wollet, so möget ihr's haben. Du Michel, grüner Tralle«, wandte er sich an den einen, »du bist so dumm, daß man Riegelwänd mit dir nausstoßen könnt und daß dein Mädle zu dir[357] hat in die Scheuer kommen müssen, statt du zu ihr, aber wenn man euch erwischt hätte, so hätt's noch eine ganz andere Konventsverhandlung geben als bei uns. Verstanden? Und du, Lorenz«, sagte er zu dem andern, »du spitziger Gscheidle, so pfiffig du bist, so weiß ich doch, daß du dich in Zebedä drüben hast nachts von den ledigen Buben müssen in Brunnentrog tunken lassen, zur Abkühlung, wie sie gemeint haben, jedoch ohne alle Not, denn an dir ist nichts Hitzig's als dein Geiz, der dich verführt hat, vom Herrn Vikarius drüben, dem reichen Prälatensohn, sein aushraucht's Spielzeug um ein Draufgeld einzuhandeln, nachdem dein voriger Schatz gestorben ist, man weiß nicht einmal recht an was. Ich will's an dem gnug sein lassen, denn ich seh, daß eure Bräut rot worden sind, und 's wär gut, sie täten sich der Heuchelei und Splitterrichterei noch mehr schämen als der Sund. Euch zwei Lumpen aber hätt ich gute Lust, über einen wackern Stecken tanzen zu lassen, wenn ich heut nicht so vergnügt wär. Wiewohl, ihr brauchet mir nicht viel gute Wort zu geben, wenn ich euch soll den Gefallen tun.«

Die Hirschbäuerin, die mit ihren Söhnen etwas vorausgegangen war, kam eilig zurück, um abzuwehren; aber weder ihre Ermahnung, noch das vielleicht kräftigere Einschreiten der beiden Söhne war vonnöten, denn die Getroffenen zogen mäuschenstille ab und wagten erst in weiter Entfernung wieder zu schimpfen und zu spotten.

Friedrich aber sagte zu seiner Braut: »Christine,[358] bleib standhaft und mach mir kein' Streich. Du kannst mein'twegen Hochzeit und Kindbett am gleichen Tag halten, aber nur fein nacheinander, damit nicht ein Segen zu früh kommt und der ander zu spät.«

»Sei doch ruhig«, erwiderte sie, »das hat keine Not.«

»Der Kuckuck hat's gesehen«, fuhr er fort, »daß man sich dreimal proklamieren lassen muß. Gleich das erst'mal sollt man von der Kanzel vor den Altar kommen, damit einem die Welt keinen Prügel mehr in den Weg werfen könnt.«

»Das wär doch nicht gut«, meinte Christine dagegen. »Da könnt ja kein arm's Mädle mehr Einspruch tun, wenn ihr Schatz sie sitzen ließ und ließ sich mit einer andern zusammengeben.«

»Ist auch wahr«, sagte er. »Um der Untreu der Menschen willen müssen die Treuen mitleiden. Übrigens möcht ich nichts mehr von einem, der mich einmal verkauft und verraten hätt, und was den Einspruch betrifft, so wird eine Arme wunderselten dadurch ihr Recht erlangen, weil gleich alles zusammenhilft, daß sie geschweigt wird.«

»Darum ist's eben das best, wenn man sich aufeinander verlassen kann«, sagte Christine, »dann sind die drei Wochen Aufschub auch nicht zu lang.«

»Gott geb's«, erwiderte er, »aber ich wollt, sie wären vorbei.«

Die zweite Proklamation, die am nächstfolgenden Sonntage stattfand, machte schon nicht mehr so viel Aufsehen wie die erste; denn die Menschen fügen[359] sich in vieles, und manche neue Erscheinung, die sie im ersten Augenblick mit Keulenschlägen empfingen, ist ihnen im Lauf der Zeiten vertraut und befreundet oder, oft richtiger gesagt, zur Gewohnheit geworden.

An diesem Tage begehrte Friedrich von seinem Vater eine Unterredung, die er die ganze Woche schüchtern aufgeschoben hatte. Er stellte ihm vor, daß es jetzt höchste Zeit sei, an die Einrichtung eines kleinen Hauswesens zu denken, und daß er zu diesem Zwecke sein mütterliches Vermögen heraushaben müsse.

»Nun, nun«, sagte der Alte, »es hat ja noch Zeit. Ich seh überhaupt nicht ein, wozu du so viel Geld brauchst. Du hast ja selbst gesagt, du wollest froh sein, wenn du mir als Knecht dienen dürfest.«

»Ich bin's zufrieden«, entgegnete der Sohn, »aber ich muß doch wenigstens eine Stube haben, wo ich mit meinem Weib drin wohnen kann.«

»Als Knecht kannst du bei mir wohnen wie bisher.«

»Ja, wollt Ihr denn mein Weib auch zu Euch ins Haus nehmen?« fragte der Sohn mit einem Freudenschimmer in den Augen.

»Das kommt noch aufs Wohlverhalten an«, antwortete der Vater mit einem spöttischen Blick. »Am End wär's freilich das best, ich nähm euch beide unter Aufsicht; ihr könntet's vielleicht brauchen.«

Der Alte ging seinen häuslichen Verrichtungen nach, ohne sich zu einer bestimmten Erklärung bringen zu lassen. Ein paar weitere Versuche seines Sohnes[360] liefen ebenso ab, und er erhielt nichts als ausweichende, rätselnde, stichelnde Antworten, wobei der Alte jedesmal ein Geschäft oder einen Besuch zu benützen wußte, um das Gespräch abzubrechen. Friedrich verging beinahe vor Unmut und Ungeduld, aber er hatte Christinen versprechen müssen, diese letzten Tage der Prüfung vollends in Ruhe auszuharren. – »Sieh, ich hab Eselsgeduld«, sagte er oft zu ihr.

Unterdessen war die Sonnenwirtin nicht müßig gewesen, im Wege der Gunst wie des Hasses auf ihre Gönnerin, die Amtmännin, und durch diese auf den Amtmann einzuwirken. »Es wäre ja doch schrecklich«, sagte sie, »wenn so ein eigensinniger, gewalttätiger Trotzkopf vernünftige Leute abzwingen könnte.« Der Amtmann, der sich gleichfalls von ihm überrumpelt sah, hatte, nachdem die erste kirchliche Handlung durchgesetzt war, doppelte Lust gewonnen, die Heirat doch noch am Ziele zu hintertreiben. Er schalt auf die Regierung, welche viel zu liberal sei und das junge Volk, wenn es nur brav Dispensgelder bezahle, ins Blaue hinein heiraten und den Gemeinden zur Last fallen lasse; übrigens, meinte er, der Sonnenwirt brauche nur den Taugenichts aus dem Hause zu jagen und jede Verbindung mit ihm abzubrechen, dann habe er allen Boden unter den Füßen verloren, und wenn ihn die Regierung zehnmal für volljährig erkläre, so nehme ihn eben die Gemeinde nicht an. »Dafür laß Sie nur mich sorgen, Frau Sonnenwirtin.«

»Wenn nur mein Mann nicht so schwach war!« erwiderte[361] die Sonnenwirtin hierauf. »Er will sich's nicht nachsagen lassen, daß er seinen Sohn, der ihm als Knecht zu dienen erbötig ist, von sich gestoßen hab, und doch kränkt's ihn auch wieder, daß er ihm sein Mütterlich's hinauszahlen soll, denn die Zeiten sind eben gar schwer. Die Eve Marget und die Magdalene haben ihren Anteil auch stehenlassen müssen, mit Vorbehalt, daß sie nachher am Vater mehr erben sollen. Nun besorgt er, wenn der Bruder sein Sach ganz rauskriegt und auf einmal, so könnten die Schwestern auch rebellisch werden. Er glaubt, er hab eigentlich die Nutznießung davon sein Leben lang, aber er weiß nicht gewiß, ob man sie ihm nicht vielleicht strittig könnt machen.«

»Jedenfalls«, bemerkte der Amtmann, »ließe sich dieser Streit in die Länge ziehen, ich sehe jedoch nicht ein, zu was das in der Hauptsache führen sollte, denn wenn der Sonnenwirt seinem ungeratenen Sohne die Existenz garantiert, so kann ihn niemand am Heiraten hindern. Übrigens will ich mir die ganze Sachlage noch einmal in Revision nehmen und sehen, ob noch etwas zu machen ist.«

Unter solchen Beratungen war die zweite Proklamation vorübergegangen, und der Vorteil des unabänderlichen Laufes der Dinge schien ganz auf Friedrichs Seite zu sein, als der Amtmann die Sonnenwirtin rufen ließ. »Gratuliere, Frau Sonnenwirtin«, sagte er, »zur leibeigenen Schnur!«

»Was? leibeigen?« rief die Sonnenwirtin. »Und davon hat das schlecht Gesindel gar nichts gesagt? Das hebt ja alle Verpflichtungen auf!«[362]

»Vielleicht haben sie es selbst nicht mehr recht gewußt«, sagte der Amtmann, »denn die Sache ist etwas in Vergessenheit geraten. Tatsache aber ist es, daß der Hans Jerg Müller und die Seinigen zu gnädigster Herrschaft im Verhältnis der Leibeigenschaft stehen.«

»Dann«, rief die Sonnenwirtin mit einem Strahl von Hoffnung, »ist's doch möglich, daß der stolz Bub sein Kopf noch ändert. Eine Leibeigene wird er nicht zur Frau haben wollen.«

»Diese Verhältnisse ließen sich ja mit Geld abkaufen«, bemerkte der Amtmann, »denn dazu ist gnädigste Herrschaft stets geneigt. Ohnehin bestund es, in neuerer Zeit wenigstens, aber schon seit lange, in einer jährlichen Geldabgabe. Früher mögen schwerere körperliche Leistungen erfordert worden sein: da es mich nicht interessiert hat, so habe ich auch nicht nachgeschlagen. Die prästierende Abgabe wurde dem Hans Jerg Müller schon vor geraumer Zeit ob summam paupertatem, wie er ja auch schon von der Gemeinde ex pio corpore Unterstützung genossen hat, auf sein untertänigstes Ansuchen nachgesehen, daher es leicht möglich, daß er sich der Verhältnisse selbst nicht klar erinnert. Das einfältige Volk weiß ja niemals, wie es dran ist, noch auf welchen Füßen es steht: die Beamten müssen es ihm sagen, was es zu leisten schuldig ist, und müssen ihm zur Not noch Bittschriften machen, wenn es einige Linderung seiner Lage erzielen möchte. So habe ich auch diesem die betreffende Supplik aufgesetzt, um ihm das Geld zu ersparen, das er einem Advokaten für[363] die Schrift hätte geben müssen, und ihn vor den Entenmaiern zu bewahren, den Winkeladvokaten, die der Leute Verderben sind. Es ist recht undankbar von dem alten Habenichts, daß er, indirekt wenigstens, Ihren Stiefsohn in dessen Unfug und übler Aufführung steift; aber auf Dank darf man ja bei diesem Volke nicht rechnen. Ich selbst muß freilich von mir auch gestehen, daß ich die Sache bei mir mit den Jahren habe in Vergessenheit kommen lassen; derlei verwickelte Materien tauchen einem allemal erst wieder auf, wenn man die Akten nachschlägt. Summa Summarum ist jedoch soviel gewiß: der sogenannte Hirschbauer ist nebst seinen Deszendenten leibeigen, und zwar haftet die Leibeigenschaft auf dem Haus. Ob nun, wie es bei diesem Volke nicht ungewöhnlich, die Vererbung des Besitzes samt der darauf haftenden Last seit Generationen direkt vom Vater auf den Sohn stattgefunden hat, ob dabei Töchter hinausgegeben worden sind und ob selbige durch die bloße Emanzipation vom väterlichen Herde infolge des eingegangenen matrimonii – wobei sie ja bloß den Herren wechseln, wie der Frau Sonnenwirtin selbst wissend sein wird, ha, ha! – ob sie schon hiedurch auch von der Leibeigenschaft emanzipieret sind oder ob sie erst noch specialiter mit Gelde abgelöset werden müssen, ja, darüber könnte man einen langen Prozeß führen, und wehe dem, der die Kosten davon zu bezahlen hätte. Für mich ist jedenfalls so viel klar, daß, wenn auch die fürstliche Regierung diesem jungen Menschen die Majorennität und die[364] Heiratserlaubnis gnädigst bewilligt hat, ich, im fürstlichen Interesse selbst, vorderhand auf der baren Leibeigenschaftsablösung seiner, wenn auch proklamierten, doch immer nur erst prätendierten sponsa bestehen muß, muß demnach namens gnädigster Herrschaft sowohl, als auch seitens dieser Kommune, deren Gericht und Rat ich mit tunlichster Beförderung des näheren instruieren werde, beharren, daß ein gültiger Ehevollzug des Johann Friedrich Schwanen mit der Christina Müllerin nicht eher ins Werk gerichtet werden kann, als bis und bevor gedachter Ablösungsschilling entweder in barem erlegt oder eine durchaus satisfazierende Kaution dafür geleistet ist; wobei, bewegender Gründe halber, überhaupt zu erfordern sein dürfte, daß sotane Kaution sich auf den gesamten Nahrungsstand des Nupturienten zu erstrecken habe, denn wenn auch, aus Rücksicht auf die besonderen Verhältnisse und die bei Gericht und Amt notorische Vermöglichkeit des Sonnenwirts, hievon Umgang genommen werden könnte, falls er seinem Sohne zur Seite zu stehen gesonnen ist, so muß doch im vorhandenen Zweifelsfall für den Nupturienten, unerachtet er ein hiesiger Bürgerssohn, genügende Sicherheit verlangt werden, daß er erstlich seine ihm von gnädigster Herrschaft auferlegende praestationes richtig zu erfüllen imstande sei, und zweitens, daß er, wo ihn sein Vater eventualiter außer Brot setzen sollte, gemeinem Flecken nicht mit einem penuriösen und armutseligen Hausstande, mit Ansprüchen an das pium corpus und endlich gar mit einem Heere von mangelhaften Kindern,[365] die um Brot und Kleidung schreien und deren wir hier schon genug und übergenug haben, nicht wissend, wo sie unterzubringen, beschwerlich fallen werde.«

Der Amtmann wischte sich den Schweiß von der Stirne; seine Auseinandersetzung schien ihn etwas angegriffen zu haben. Doch lächelte er zufrieden, denn der Vortrag war nunmehr hinlänglich zu Faden geschlagen, um mit der nötigen Geläufigkeit vor dem Magistrat gehalten werden zu können. Die Sonnenwirtin hatte zwar, trotz der Andacht, mit der sie der Rede zugehört, schon der eingestreuten lateinischen Brocken wegen, sehr viel davon nicht verstanden; doch begriff sie vollkommen, daß der Heirat ihres Stiefsohnes noch ein Riegel vorgeschoben werden könne. Sie ließ sich über die beiden Hauptpunkte, auf die es ankam, noch einmal belehren und verließ das Amthaus in vollem Triumphe, nachdem sie es übernommen hatte, ihrem Manne und ihrem Sohne die amtliche Eröffnung, welche der erstere sich zu holen aufgefordert wurde, im voraus mitzuteilen. »Ihren Stiefsohn«, rief ihr der Amtmann nach, »lasse Sie mir nur aus dem Haus, mein alter Anwalt sagt immer von ihm, und mit Recht, er führe eben ein ödes Geschwätz, das gar keine Heimat habe.«

Aus dem Munde der Stiefmutter erfuhr denn Friedrich, welches neue Gewitter gegen ihn heraufbeschworen worden war. Zuerst nahm er die Nachricht, daß Christine leibeigen sei, mit Gleichmut auf und erklärte, dies ändere nichts in seinen Gesinnungen;[366] als er vollends hörte, daß diese Abhängigkeit mit Geld gelöst werden könne, machte er sich gar keine Sorge mehr; aber er war wie aus den Wolken gefallen, als er sehen mußte, wie sein Vater die Sache nahm.

»Was!« rief der Sonnenwirt, »ich soll Bürgschaft stellen für die Bezahlung einer Abgab, die mich mit Haut und Haar nichts angeht? Ich bin froh, wenn ich meine eigene Schuldigkeit abgetragen hab, bin hoch genug besteuert, kann mich nicht auch noch um anderer Leut ihre Abgaben annehmen.«

»Vater«, sagte Friedrich, den diese Äußerung zuerst nur ärgerte, »ich glaub, Ihr werdet altersschwach. Es handelt sich ja gar nicht drum, daß Ihr vom Eurigen etwas zahlen sollet. Gebt mir mein Mütterlich's heraus, dann leg ich das Geld dem Amtmann selber hin.«

»Du tust immer, als ob du von deinem Mütterlichen die halb Welt kaufen könntest, und hast doch schon genug davon vertan. Du wirst dich wundern, wenn ich einmal mit dir abrechne.«

»Nun, so rechnet ab, und wenn Ihr so viel Zeit brauchet, bis Ihr wisset, was Ihr alles in die Rechnung schreiben wollet, so müsset Ihr eben derweil die Bürgschaft leisten.«

»Ich nicht. Das Sprichwort sagt: den Bürgen soll man würgen. Und wie kann man denn von mir verlangen, daß ich noch einen weiteren Revers ausstellen soll von wegen deines Fortkommens? Ich hab dir zwar wohl versprochen, daß ich dich bei mir behalten will, und ich will auch dabei bleiben, wenn[367] du dich hältst, wie's recht ist, nämlich besser als bisher. Aber Hand und Fuß will ich mir durch einen Revers nicht binden lassen, denn sonst wärest ja du der Herr, und ich müßt mir zeitlebens gefallen lassen, was dir anständig wär. Nein, der Sklav in meinem eigenen Haus will ich. nimmermehr werden.«

Friedrich legte den Kopf eine Weile auf beide Hände, die er auf dem Tische liegen hatte. Als er das Gesicht wieder erhob, war alle Farbe daraus gewichen. »Jetzt seh ich erst, daß es eine abgekartete Sach ist«, sagte er mit einem Blick auf die Stiefmutter und verließ die Stube.

Christine weinte bitterlich über dieses neue Hindernis. »Das ist eine Welt!« sagte der Hirschbauer und kehrte sich nach der Wand. Die Bäuerin heulte und schrie, daß man arme Leute so unterdrücke, die Söhne fluchten, und der kleine Weißkopf, der heute die Welt gar nicht verstand, saß bestürzt und furchtsam in der Ecke. Friedrich aber glaubte zu bemerken, daß der abermals in Zweifel gestellte Erfolg seiner ehrlichen Bemühungen auf die Würdigung seiner Absicht oder wenigstens auf die Schätzung seiner selbst zurückwirke. Die Hirschbäuerin wenigstens schien ihn bereits mit minder günstigen Augen anzublicken; als sie ausgeheult hatte, machte sie ein Gesicht und gönnte ihm beim Abschiede kaum ein Wort. Christine aber nahm ihm wiederholt das Versprechen ab, auch diese Prüfung womöglich durch Geduld und Gehorsam zu überwinden.

Schon die folgenden Tage zeigten ihm, daß er sich[368] in seinen Berechnungen völlig getäuscht habe und für den nächsten Sonntag auf die letzte, bestätigende Proklamation verzichten müsse. Er sprach nichts, war in seinen Verrichtungen fleißiger denn je, aber seine wundgebissenen Lippen, seine mit Blut unterlaufenen Augen verrieten den Sturm, der in ihm arbeitete. Die Narbe auf seiner Stirne trat oft blutrot hervor. Die Leute steckten bei diesem Anblick die Köpfe zusammen und murmelten einander zu, das sei ein Kerl, von dem man sich des ärgsten gewärtigen dürfe.

Quelle:
Hermann Kurz: Der Sonnenwirt. Kirchheim / Teck 1980, S. 355-369.
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