4. Szene.

[71] Weigelt. Emma.


EMMA in einem einfachen Kleide, mit Schürze und Morgenhäubchen, tritt leise ein. Hier muß es sein. Richtig, da sitzt der Schuster. Es scheint ein ganz alter Mann zu sein? Räuspert sich laut. Hm! Hm!

WEIGELT aufblickend. He? Da is ja Jemand. Fräulein Laura am Ende? Nee, doch nich. Vielleicht ein neue Kundschaft. Steht auf. Sie wünschen, mein Fräulein?[71]

EMMA. Ich bin verheiratet, mein Herr, ich wohne hier im Hause, unter Ihnen, und wollte Sie fragen, was – Bei Seite. Mir ist doch, als hätte ich das Gesicht schon gesehen?

WEIGELT. Nun, was?

EMMA. Mein Mann ist ein bischen furchtsam; ich bin es vielleicht weniger, aber man grault sich doch, wenn man des nachts, wenn alles im Hause still ist, immerfort so ein einförmiges Geräusch hört. Es kommt von hier oben, und darum wollte ich mich erkundigen, was Sie des nachts machen?

WEIGELT. Das is 'ne sonderbare Frage. Ich arbeite.

EMMA. Mitten in der Nacht?

WEIGELT. Ja, mein liebes Madamchen. Der Tag hat bloß zwölf Stunden, das is zu wenig für'n armen Flickschuster. Aengstlich. Aber Sie wollen sich doch nich etwa beim Wirt beklagen? O, tun Sie das nich, er kündigt mir am Ende, und –

EMMA. Auch die Stimme kommt mir so bekannt vor, Mein Gott, Sie sind doch nicht? – Entschuldigen Sie, es ist mir so, als hätten wir uns gekannt, vor längeren Jahren – mein Vatersname ist Zernickow, Emma Zernickow.

WEIGELT erschrickt und wendet sich ab. Ach so!

EMMA. Und Sie? Ja, Sie sind es – Herr Weigelt.

WEIGELT schweigt.

EMMA. Sie schweigen? Ich irre mich also?

WEIGELT finster. Nein, Sie irren sich nich.

EMMA. Aber diese Veränderung – wie es hier aussieht!

WEIGELT. Soll ich mir für meine Flickschufterei vielleicht 'n Laden Unter'n Linden mieten?

EMMA. Verzeihen Sie die Frage: es geht Ihnen wohl sehr schlecht?

WEIGELT. Wenn es Ihnen Vergnügen macht zu hören, ja.

EMMA. Vergnügen? O, Sie glauben gar nicht, wie mich diese Entdeckung traurig macht. Es verstimmt mich, es schnürt mir die Kehle zu, ich werde keines meiner lustigen Lieder mehr herausbringen.

WEIGELT. Wie? Dann sind Sie wohl die kleine Lerche, die jeden Morgen unter meinem Fenster zwitschert?

EMMA. Mein Gesang stört Sie? O, ich will es lassen.

WEIGELT. Nicht doch, im Gegenteil, ich habe mir sogar immer gewünscht, den kleinen Racker, der so viele lustige Lieder kann – Sie nehmen's doch nich übel? – mal zu sehen. Finster. Also Sie sind's?![72]

EMMA. Wenn Sie das gewußt hätten, dann würden Sie wohl nicht den Wunsch gehabt haben, den kleinen Racker bei sich zu sehen – das wollen Sie doch sagen?

WEIGELT bestimmt. Ja. Freundlich. Aber da es nu doch mal geschehen is, bin ich nich weiter böse drum. Ich verspreche Ihnen sogar, mich des Nachts möglichst ruhig zu verhalten; aber ganz kann ich das Arbeiten nich einstellen.

EMMA. Herr Weigelt, wenn das Ihre Tochter wüßte –

WEIGELT rasch. Sie kennen Clara? Sie verkehren mit ihr?

EMMA. Ich eigentlich weniger; aber meine Schwester Marie.

WEIGELT. Ja, richtig, die Marie! Es hat mir damals recht leid getan – Sie wissen ja, was ich meine – denn Ihre Schwester gefiel mir recht gut. Die ist jetzt auch wohl verheiratet?

EMMA. Nein, sie hat es vorgezogen, eine alte Jungfer zu werden.

WEIGELT. O, warum denn?

EMMA. Sie will es zwar nicht eingestehen, aber wir Alle wissen es, sie liebt immer noch Ihren Sohn.

WEIGELT freudig Emmas Hand küssend. Wirklich? Ach, das is hübsch von ihr, sehr hübsch. – Mit einem Seufzer. Schade drum!

EMMA. Herr Weigelt, ist es wahr, daß Ihr Sohn in Amerika ist?

WEIGELT. Seit fünf Jahren – in Amerika oder anderswo, ich weiß es nich.

EMMA. Sie haben also gar keine Nachricht von ihm?

WEIGELT schüttelt den Kopf.

EMMA. Ach, Sie sind recht zu beklagen!

WEIGELT. Ich? Wieso? Weil sich mein Sohn nicht mehr um mir bekümmert? Daran bin ich selber schuld.

EMMA. Sie, der Sie sich für ihn aufgeopfert haben?

WEIGELT. Eben darum! Mein Leopold is von Jugend auf daran gewöhnt worden, nichts auf der Welt mehr zu lieben als sich. Was kann er dafür, daß ich so'n Esel war und ihm so 'ne schlechte Erziehung gegeben habe? Ich will gar nich beklagt sein, ich habe mir die Suppe eingebrockt, ich muß sie auch ausessen. Freilich, bitter schmeckt sie, das is richtig.

EMMA. Aber Clara?[73]

WEIGELT. Still davon. Wenn Sie sie kennen, wird sie Ihnen auch gesagt haben, was ich ihr getan habe.

EMMA. Ach, das ist ja längst vergessen.

WEIGELT. Nee, so was vergißt sich nich. Und wenn sie auch wollte – aber sie hat einen Mann, und der haßt mir – er hat auch ein Recht dazu. Ich will mir nich zwischen die Beiden drängen.

EMMA. Sie verkennen Herrn Starke, er ist ein braver, biederer Mann.

WEIGELT. Kindchen, wenn sich zwei Männer mal so gegenüber gestanden haben, wie wir beide, das gibt 'n Knax, der läßt sich schwer wieder heilen.

EMMA. Hätten Sie denn gar keine Sehnsucht, Ihre Enkelkinder einmal zu umarmen und zu küssen?

WEIGELT wehmütig. Meine Enkel!

EMMA. Zwei prächtige Knaben, der eine heißt Gottlieb.

WEIGELT mit freudestrahlendem Gesicht. Gottlieb! Grade wie ich. Hahaha! Er lacht, nach und nach immer heftiger, bis sich das Lachen in ein leises Schluchzen verwandelt. Er sinkt auf dem Arbeitsschemel nieder und trocknet sich die Augen. – Kleine Pause. Es muß hier rauchen.

EMMA tritt leise näher, kniet neben Weigelt auf die Erde nieder und singt.

O, schäme dich der Träne nicht,

Verbirg nicht scheu dein Angesicht.

Das ist ja grad' das Menschenherz:

Es weint in Freuden und im Schmerz.

O, glaube nicht, du seist kein Mann,

Weil noch dein Auge weinen kann.

Was sich hier drin im Herzen regt,

Das hat ja Gott hineingelegt.


Das Alter naht, dein Haar erbleicht,

Bald ist des Lebens Ziel erreicht;

Und wenn auch Kraft dem Körper fehlt,

Dir bleibt, was ihn bewegt, beseelt.

O, schäme dich der Träne nicht,

Die Liebe ist's, die daraus spricht.

Was sich hier drin im Herzen regt,

Das hat ja Gott hineingelegt.


WEIGELT Emma freundlich anblickend. Also Gottlieb heißt er?

EMMA. Ja, Herr Starke wollte zwar anfangs nicht –[74]

WEIGELT. Das glaube ich wohl.

EMMA. Aber da kam die schwere Stunde, in der kein Mann seiner Frau etwas abschlägt, da bat sie ihn, wenn's ein Knabe wird, soll er Gottlieb heißen. Er, in seiner Herzensangst, sagte »Ja«, und wenn er einmal »Ja« gesagt hat, dann bleibt's dabei.

WEIGELT nachdenkend. Gottlieb! Lächelnd. Is der Junge nett?

EMMA. Ein freundliches, offenes Gesicht und ein gutes Herz hat er.

WEIGELT. Das hat er von ihr, von der Cläre.

EMMA aufstehend. Papa Weigelt, ich habe eine Idee. Schräg gegenüber von Claras Wohnung ist eine Konditorei; wenn wir dorthin gingen und eine Stunde abpaßten, wo Starke nicht zu Hause ist –?

WEIGELT aufstehend. Was haben Sie vor? Sie wollen mich in sein Haus führen? – Nee!

EMMA. Wenn Sie nicht wollen! Sie könnten ja auch in der Konditorei warten, ich hole dann die Kinder herüber, den kleinen Gottlieb –

WEIGELT. Den kleinen Gottlieb!

EMMA. Ueberlegen Sie sich die Sache, ja? Oder nein, es ist abgemacht. Heute nachmittag gehen wir, jetzt kann ich nicht, ich muß dafür sorgen, daß mein Mann etwas zu essen findet, wenn er vom Stundengeben nach Hause kommt. Also auf Wiedersehen, Herr Weigelt.

WEIGELT halb in Gedanken. Aus Wiedersehn.

EMMA kehrt wieder um. Herr Weigelt, als ich Sie vorhin wiedersah, so – so ganz anders wie früher, da fiel es mir schwer aufs Herz, daß ich Ihnen vor fünf Jahren einmal – Sie wissen doch – so unangenehme Dinge sagen mußte. Damals ging's nicht anders; heute aber möchte ich das gern wieder gut machen. Sie kommen mit, heute Nachmittag, nicht wahr, Großpapachen?

WEIGELT freundlich lachend. Großpapachen? Er nickt mit dem Kopf. Ja, ich komme mit. – Großpapachen! Er sieht Emma freundlich ins Gesicht. Beide lachen sich an, sie wirft ihm einen Kußfinger zu und läuft rasch ab.


Der Zwischenvorhang fällt.


Quelle:
Adolph L’Arronge: Gesamt-Ausgabe der dramatischen Werke. Berlin 1908, S. 71-75.
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