3.

[349] In einem glücklichen Lande herschte Güchanas. Dieser Chan hatte von seiner ersten Gemahlin einen Sohn, der hieß Sonnenschein. Nach dem Tode derselben heirathete der Chan wieder und bekam einen Sohn, der hieß Mondschein.

Die Brüder liebten einander von Herzen, aber als sie erwachsen waren, sagte die Chanin zu ihrer Vertrauten: So lange der ältere Chans Sohn lebt, ist er der Erbe des Reichs und Mondschein hat nichts; ist aber der Aeltere aus dem Wege, so wird er Chan. Ersinne ein Mittel.

»Das Mittel hab ich ersonnen, versetzte die Vertraute. Narrani ist uns treu. Wenn der mit dem Chans Sohne jagt, soll er ihn heimlich umbringen.«

Mondschein vernahm diese Worte und sprach zu dem älteren Bruder: »dir steht meine Mutter nach dem Leben, damit das Reich ich erbe. Das ist nicht gut. Laß uns beide entfliehen!«

»Ich will entfliehen, versetzte der Aeltere; du aber bleibe bei Vater und Mutter.« – »Ich kann nicht bleiben, sagte der Jüngere, wo du bist, da will ich auch sein und nirgends anders.[349]

Als sie mit einem Sack voll Kuchen schon weit weg gezogen waren durch Ebenen und Berge, suchten sie einen Fluß und gelangten zuletzt an einen, der war vertrocknet. Da sank Mondschein kraftlos zur Erde. Aber der Bruder sprach zärtlich: verzweifle nicht und bleib hier. Ich gehe und suche Waßer auf jener Höhe.«

Nach langem vergeblichen Suchen kam Sonnenschein wieder und fand den Bruder verschmachtet. Da klagte er weinend um den Bruder: »Ach, wärst du geblieben!« Er bedeckte in zärtlicher Liebe die Leiche des Bruders mit Steinen, und als er den Seegen des Wiedersehens gesungen, wanderte er über zwei Anhöhen und kam an die Thür einer Höhle. Innerhalb der Höhle saß der weise und fromme Greis Arschi.

»Woher kommst du?« fragte der Greis. »Deine Gebehrden verrathen riefe Rührung.« Der Jüngling erzählte ihm Alles.

Arschi nahm Heilmittel und Waßer und ging mit dem Jünglinge zum Steingrabe des Bruders und brachte diesen ins Leben zurück.

»Werdet Beide meine Söhne,« sprach der Greis und sie wurden es und blieben bei dem Alten. Der Alte unterrichtete sie in mancher Kunst und mancher Tugend, wovon Chans Kinder oftmals nichts lernen, und sie waren glücklicher, denn in dem Palaste des Vaters.

In diesem Lande herrschte ein furchtbarer Chan von großer Macht, aber mächtiger als er waren zwei Krokodile, welche die Quellen des Flußes verstopften, womit die Felder bewäßert wurden, wofern ihnen nicht ein Jüngling geopfert wurde, geboren im Tigerjahre. Sie wohnten aber in einem Sumpfe nahe an den Quellen.

Es kam die Zeit des Opfers, aber man suchte vergebens nach[350] einem Sohne des Tigerjahres und das ganze Volk gerieth in Angst und Zagen.

Da traten Leute zum Chan und berichteten: »Nicht weit von hier, wohnt am Fluße der alte Arschi und hat einen Sohn des Tigerjahres. Wir sahen ihn, als wir das Vieh tränkten.«

Nachdem das der Chan vernommen, sandte er zehn Boten mit Schwerdtern und sprach: »Geht ihn zu holen.«

»Was habt Ihr zu suchen? fragte Arschi, als sie an die Thür klopften.« Der Chan, versetzten diese, spricht zu dir: »Du hast einen Sohn des Tigerjahres. Sende ihn mir; das Reich bedarf deßelben.«

Arschi antwortete: »Wie könnt Ihr so sprechen? Wer sollte bei mir einsamen Alten wohl wohnen?«

So sprechend ging er hinein, verschloß die Thüre und versteckte den Jüngling in ein Faß, worin man Branntewein brennt, legte den Deckel darauf und verklebte die Ritzen. Als nun die Boten, zertrümmernd die Thüre hineindrangen, Alles durchsuchten, den Jüngling aber nicht fanden, sagten sie: »Weil der Gesuchte nicht hier, soll auch im Hause nichts bleiben, und Arschi muß umkommen.« So sprechend zogen sie die Schwerdter, aber der Jüngling sprach: »Haut meinen Vater nicht; ich bin hier.«

Die Boten nahmen ihn mit sich und Arschi blieb weinend und klagend zurück.

Da nun der Jüngling in die Wohnung des Chans trat, sah ihn die Tochter des Chans und wurde von Mitleid bewegt, schlang ihre Arme um seinen Nacken und sprach: »du darfst nicht sterben;« und als man ihn fortführen wollte, ihn ins Waßer zu werfen, rief sie: »Werft ihn nicht, oder werft mich auch mit ins Waßer.«

Wegen dieser Worte ergrimmte der Chan und sprach: »Weil[351] diese Dirne so wenig bedacht ist für die Wohlfahrt des chanischen Reiches, so werde sie, mit dem Sohne des Tigerjahres zusammengebunden, den Krokodilen vorgeworfen.«

Als nun der Jüngling mit dem Mädchen zusammengebunden ins Waßer geworfen war, sprach er: Warum mußt du sterben, du himmlisches, mitleidiges Mädchen; mich mochte man opfern, weil ich ein Sohn des Tigerjahres bin! – »Nein, du dankbares Herz, versetzte das Mädchen, wie solltest denn du umkommen; da du aus Liebe und Dankbarkeit zu Arschi sprachst:« »Hier bin ich!« »Nein ich sterbe gern mit dir, da bleiben wir beisammen. Doch fürcht ich mich sehr.« So sprachen sie.

Die gefräßigen Ungeheuer hörten diese Worte, und wie auch menschenwürgende Menschenungeheuer zuweilen Anwandlungen von Großmuth und Mitleid haben, so hatten sie dießmal die Krokodile, vielleicht weil sie schon übervollen Fraß gehabt hatten. Sie setzten Beide ans Ufer zurück.

»Komm, Jüngling, jetzt mit mir nach dem Palaste, und bleibe bei mir,« sagte das Mädchen; er aber versetzte: »Hab ich meinen Vater Arschi gesehen, so komm ich, und ungetrennt leben wir alsdann beisammen.«

Als der Jüngling an die Höhle des Greises kam, hörte er denselben laut jammern: »Mein Sohn! mein Sohn!«

»Jammre nicht, mein Vater, jammre nicht, rief draußen der Jüngling; es ist gerettet dein Sohn und steht draußen.« Da öffnete Arschi die Thür, und sie lagen sich einander in den Armen und der Jüngling erzählte von dem Mitleide der Krokodile.

Als auch die Chanstochter wieder zu dem Palaste zurückgekommen war, wunderten sich der Chan und das Volk. Sie aber erzählte von dem Mitleide der Krokodile, und das Volk ging sich tief[352] verneigend dreimal um die Chanstochter herum und sangen ihr Lobgesänge.

»Es ist sehr gut, sagte der Chan zum Mädchen, daß du wieder da bist, aber der Sohn des Tigerjahres ist wohl umgekommen?«

»Nein, sprach das Mädchen, die Krokodile haben mir nur seiner Milde wegen das Leben geschenkt!«

»Das ist ein Wunder!« riefen der Chan und das Volk, und der Chan gebot seinen Ministern: »Auf! bringt mir den Jüngling und seinen Vater Arschi mit Ehren und Freuden.«

Sie brachten dieselben und Mondschein nahmen sie auch mit, und das Volk wandelte neunmal um sie lobsingend herum.

»Wundervoller Jüngling, sprach der Chan, bist du wohl wirklich ein Sohn des Arschi?« Der Jüngling antwortete: »Ich und dieser hier sind Söhne des Chans Güchanas. Weil meine Stiefmutter aus Liebe zum eigenen Sohn mich zu tödten beschloßen, bin ich entflohen und begleitet von meinem jüngern Bruder aus Liebe, sind wir zu Arschi gekommen und sind seine Söhne geworden!«

»Edelherzige Jünglinge! edelherziger Greis!« rief der Chan. Er überhäufte sie mit Ehren und Geschenken und gab dem ältesten Jüngling seine Tochter zur Gemahlin. Er sandte darauf die Drei mit großer Begleitung zum Chan Güchanas.

Als sie nahe zum Palaste deßelben waren gekommen, schrieben sie diesen Brief:

»Zu dem chanischen Vater sind, zurückkehrend, beide Brüder gekommen.«

Seit vielen Jahren hatten Vater und Mutter über ihre Söhne gejammert, und waren im Jammer alt und finster geworden und einsam geblieben. Der Chan sandte viel Leute ihnen entgegen. Als aber die Chanin den Aeltesten und seine himmlische Gemahlin[353] erblickte, und die Leute und Schätze, welche sie mitbrachten, ward ire Mißgunst so groß, daß sie Blut spie und starb, denn das Glück der Guten ist das Unglück der Bösen.

Quelle:
Johann Andreas Christian Löhr: Das Buch der Maehrchen für Kindheit und Jugend, nebst etzlichen Schnaken und Schnurren, anmuthig und lehrhaftig [1–]2. Band 2, Leipzig [ca. 1819/20], S. 349-354.
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