Maiandacht

[148] Von dem Dom acht Glockenschläge schallen,

Aus den Fenstern flimmert Kerzenglanz,

Tausend hübsche kleine Mädchen wallen

Nach dem Dom mit Buch und Rosenkranz.


Tausend hübsche stramme Burschen warten

An der Kirchentür und flüstern leis:

Schätzchen, um halb neun im städt'schen Garten!

Tausend Mündchen flüstern: Ja, ich weiß!


Drinnen senken sich die hübschen Köpfchen,

Und das Knie das Kirchenpflaster küßt,

Unter all den Löckchen und den Zöpfchen

Kein Gedanke bei der Predigt ist.
[148]

»Gott sei Dank! Die Predigt ist zu Ende,«

Schnell nach draußen strömt der bunte Hauf,

Und des Schloßparks breite Laubgelände

Nehmen die verliebten Pärchen auf.


Welch ein Küssen, Drücken, süße Sünden!

Selbst das frommste Herzchen wird gerührt –

Kalter Himmel, deine Schrecken schwinden,

Und die heiße Hölle triumphiert.


Münster, Mai 1890


Quelle:
Hermann Löns: Sämtliche Werke, Band 1, Leipzig 1924, S. 148-149.
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