Der Esel und der Hund

[152] Man muß einander helfen, fordert die Natur.


Der Esel, sonst die beste Kreatur,

Versäumte einmal dies;

Weiß nicht, warum er's unterließ.

Er trabte in gemessnem Schritt

Gedankenlos durchs Feld,

An seiner Seite lief der Bauer mit,

Dem sich sein treuer Hofhund zugesellt.

Der Mann legt unter Bäumen sich zum Schlaf,

Der Esel macht sich drauf ans Grasen

Und freut sich, daß er's günstig traf:

Rings grünt ein schmackhaft frischer Rasen.

Zwar fehlt die Distel, doch er fügt sich drein.

Für heute nicht zu anspruchsvoll zu sein,

Obschon ein Mahl, das keine Distel würzt,

Dem Tafelnden die reinste Freude kürzt.

Nun, Langohr weiß es zu ertragen

Und sich für diesmal zu bescheiden.

Der arme Hund sah zu mit leerem Magen

Und sprach: »Ach Freund, wie muß ich Hunger leiden!

Wenn du dich bücken möchtest, könnte ich mein Essen

Aus deinem Korbe mir von deinem Rücken nehmen.«

Doch Langohr hatte keine Lust, beim Fressen

Zu diesem Freundschaftsdienst sich zu bequemen.

Er blieb den Bitten stumm und kalt,

Und schließlich sprach er mit Bedacht:

»Freund, warte, bis der Herr erwacht,

Der gibt dir dann, was dir gehört.«[153]

Kaum ist's gesagt, stürzt aus dem Wald

Ein Wolf, den auch der Hunger plagt.

»Zu Hilfe!« ruft der Esel ganz verstört.

Der Hund bleibt regungslos und sagt:

»Freund, warte, bis der Herr erwacht

Und sich zu deinem Schützer macht.

Flieh nur einstweilen, bis er kommt!

Das ist mein Rat, der dir am besten frommt.

Und holt der Wolf dich etwa ein,

So schlage unbedenklich drein,

Es ist nicht lange her, daß man dich neu beschlagen.«

Er brauchte weiter nichts zu sagen,

Schon nahm der Wolf den Esel fest beim Kragen.


Ich meine, daß es stets das beste sei,

Der eine steht dem andern treulich bei.

Quelle:
Lafontaine, Jean de: Fabeln. Berlin 1923, S. 152-154.
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