Der Esel und seine Herren

[113] Des Gärtners Esel klagte bei dem Schicksal sehr,

Weil man vor Sonnenaufgang ihn schon weckt.

»Was noch des Hahnes Morgenruf bezweckt?«

So sprach er. »Ich bin früher auf als er.

Wozu? Um Kraut zu Markt zu tragen!

Ist's nötig, darum mich aus meinem Schlaf zu jagen?«

Das Schicksal hört voll Mitgefühl des Esels Klagen

Und gibt ihn, daß er Ruhe fände,

Vom Gärtner fort in Gerbers Hände.

Die schweren Häute, ihr Gestank – wie unerhört! –

Die haben bald das unzufriedne Vieh empört.

»O wär ich wieder,« sprach's, »bei meinem ersten Herrn!

Auch hab ich, sah er's nicht, manch Köpfchen Kohl erwischt –

Hier gibt es nebenbei nicht einen Zwetschenkern.

Fast nichts als Hiebe werden mir hier aufgetischt.«

Er wünscht Veränderung. So kam der graue Renner

Schließlich herunter bis zu einem Kohlenbrenner.

Er klagte wieder. »Wie, noch immer?«

Sprach zornig das Geschick. »Der Esel quält mich schlimmer,

Als hundert Könige es machen.

Glaubt er, er sei der einzige bloß,

Der nicht zufrieden ist mit seinem Los?

Hab ich nichts anderes im Kopf als seine Sachen?«


Das Schicksal hatte recht.

So machen's aber alle Leute.

Stets scheint uns unsre Lage schlecht,

Am schlechtsten immer die von heute.[114]

Wir sollten den geplagten Himmel mehr verschonen

Mit unsern Petitionen.

Ob Jupiter auch jedem seinen Wunsch erfüllt,

Er wird nur immer lauter angebrüllt.

Quelle:
Lafontaine, Jean de: Fabeln. Berlin 1923, S. 113-115.
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