Der Reiher

[130] Einst schritt, ich weiß nicht, wo es war,

Ein Reiher her mit langem Schnabel, langem Hals.

Die Luft war hell, der Himmel klar,

Die Welle ebenfalls.

Gevatter Karpfen neckte mit Gevatter Hecht,

Sie tummelten sich nah am Rand des Ufers hin;

Ein Stoß vom Reiher nur, so hatte er Gewinn –

Doch war es ihm zurzeit nicht recht,

Da seine Vesperstund noch nicht geschlagen.

Er hielt auf Ordnung, darum schien's ihm besser,

Zu warten, bis noch leerer ihm der Magen.

Der Hunger kam. Da trat er ans Gewässer

Und sah die Schleie jetzt empor vom Grunde ziehn:

Ein Mahl, das ihm nicht eben sehr lukullisch schien.

Er hatte Besseres erwartet, denn er hatte

So heikelen Geschmack wie des Horatius Ratte.

»Ich – Schleie?« sagte er; »nein, euch verachte ich.

Welch ein gemeiner Fraß! Wofür denn hält man mich?«

Die Schleie fort – Gründlinge kommen.

»Ein Reiher, der mit Gründlingen fürlieb genommen –

Ein Unding wär's! Für solche Kleinigkeiten sperr

Ich nicht den Schnabel auf. Bewahre mich der Herr!«

Er hat ihn aufgesperrt für weniger als dies!

Es kam so weit, daß sich kein Fisch mehr sehen ließ.

Der Hunger wuchs. Er war zuletzt zufrieden,

Daß ihm ein kleines Schneckchen ward beschieden.


Wer zu viel haben möcht,

Der wird riskieren,

Das, was ihm minder recht,

Auch zu verlieren.[131]

Schwimmt euch kein Taler her,

Greift nach dem Dreier,

Denkt an die gute Lehr

Von unserm Reiher.

Quelle:
Lafontaine, Jean de: Fabeln. Berlin 1923, S. 130-132.
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