Der Seifensieder und der reiche Mann

[142] Ein Seifensieder sang vom Morgen bis zum Abend.

Es war entzückend, ihn zu sehn,

Und ihn zu hören, war noch mehr erlabend.

Er sang so laut wie zehn

Und war zufriedner als die sieben Weisen.

Sein Nachbar doch war nicht so froh.

Der saß im Golde zwar bis über beide Ohren,

Doch glücklich war er keineswegs zu preisen,

Weil ihn der Schlaf und auch der Frohsinn floh.

Kaum war bei Tagesgraun ein wenig Schlaf gekommen,

Begann der Seifensieder zu rumoren

Und seine Lieder in die Welt zu schmettern.

Der Reiche fing natürlich an zu wettern.

Als er sich ausgetobt, denkt er beklommen:

Weshalb kann man den Schlaf nicht käuflich haben,

Wie man sich doch auch andre Gottesgaben,

Zum Beispiel Speisen und Getränke, kaufen kann?

Dann läßt er sich den Sänger kommen:

»Gregor, was nehmt Ihr wohl im Jahre ein?«

»Im Jahre?« fragt der Mann

Und schaut so recht treuherzig drein;

»Wie fängt man solche Rechnung an?

Ich zähle nicht, wieviel ein Jahr mir bringt –

Ich bin zufrieden, wenn's gelingt,

Daß man sich glücklich durch des Jahres Mühen singt.«

»Nun gut, mein Freund, so sag,

Wieviel verdienst du denn am Tag?«

»Bald mehr, bald weniger; das Unglück ist allein:

Es geht so mancher Feiertag mit drein,

Sonst wäre mein Verdienst nicht klein.[143]

Ein jeder Heilige will seine Feierzeit,

Mit immer neuen würzt der Pfarrer seine Predigt.«

Der Geldmann lacht der Offenherzigkeit

Und sagt: »Vielleicht, daß dies hier dich entschädigt!

Nimm diese hundert Taler, halte sie in Hut,

Sie helfen dir aus Geldverlegenheit.«

Der Seifensieder nimmt das teure Gut –

Ihm ist, als habe er das ganze Geld bekommen,

Das in den letzten hundert Jahren

Den Weg durch diese Welt genommen.

Froh kehrt er heim, verbirgt den Schatz.

Doch ach, wo waren

Die Lieder und der Frohsinn hin?

Jetzt war für sie in seinem Haus kein Platz,

Doch Angst und Sorge waren drin.

Der Schlaf verließ sein Haus,

Verdacht und Argwohn nisteten sich ein,

Er mußte immer auf der Lauer sein,

Und rührte sich nur eine Maus,

So schien's ein Dieb; und endlich lief der Arme hin

Zu ihm, den nie mehr störten seine Lieder:

»O gebt mir meinen Sang und frohen Sinn

Und nehmt die hundert Taler wieder.«

Quelle:
Lafontaine, Jean de: Fabeln. Berlin 1923, S. 142-144.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Fabeln
Sämtliche Fabeln
Sämtliche Fabeln
Sämtliche Fabeln, Sonderausgabe
Sämtliche Fabeln.
Hundert Fabeln