Die Hornissen und die Bienen

[25] In seinem Werk stellt sich der Künstler dar.


Hornissen stritten einst mit einer Bienenschar

Um ein paar herrenlose Honigwaben.

Ein jeder meinte Recht zu haben,

Die Waben in Besitz zu nehmen.

So muß man endlich sich bequemen,

Als Schiedsrichter die Wespe zu befragen.

Ein Richterspruch indes war schwer:

Die Zeugen konnten nur das eine sagen,

Daß längliche beflügelte Insekten

Einst eifrig schaffend in den Waben steckten;

Gewiß, sie glichen wohl den Bienen sehr,

Doch ach, die vorgenannten Zeichen

Sind bei Hornissen fast die gleichen.

Die Wespe nun, um in die Sache Licht zu tragen,

Beschloß, ein Volk Ameisen zu befragen;

Umsonst: der Fall war nicht zu schlichten.

Da rief ein Bienchen in besorgtem Ton:

»Sechs Monde hängt die Sache schon,

Doch ist kein Fortschritt zu berichten.

Der Honig wird uns noch verderben,

Ein schneller Spruch tut not, sonst frißt

Den süßen Stoff der Bär mit seinen Erben;

Drum laßt das unnütz viele Fragen,

Das Wortewägen und das Hin und Her,

Da ein viel beßres Mittel ist,

Den Streitfall endlich auszutragen:

Laßt uns und auch den Gegner Waben bauen!

Gewiß ist die Entscheidung dann nicht schwer,

Denn wessen Zellen jenen ähnlich schauen,[26]

Die hier in Frage stehn, der ist im Recht.«

Da wehrten die Hornissen sich nicht schlecht,

Und ihre Weigrung zeigte klar,

Welche Partei im Unrecht war.

Der Honig wurde unverweilt

Den klugen Bienen zugeteilt.


Wollt Gott, ein jeder Streitfall würde so geschlichtet,

Daß nicht ein Paragraph, nein, klare Einsicht richtet!

Ja, folgten wir hierin den Orientalen,

So brauchten wir nur halb so viel zu zahlen.

So aber ist's der Richter, der gewinnt,

Für den die schönen fetten Austern sind,

Und für den Kläger bleiben nur die Schalen.

Quelle:
Lafontaine, Jean de: Fabeln. Berlin 1923, S. 25-27.
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