Die Schildkröte und die beiden Enten

[183] Der Leichtsinn trat an eine Schildkröte heran:

Des Uferloches müd will sie die Welt besehen.

Man schaut sich gern ein neues Stückchen Erde an,

Wer hinkt, pflegt gern aus dem verhaßten Haus zu gehen,

Sie, teilt zwei Enten mit, was sie ersann.

Die stimmen bei und bieten sich ihr als Gespann

Für eine Luftfahrt an bis nach Amerika.

Sie sagten: »Vieles siehst du da,

Gar manche Republik und manches Königreich,

Völker und Sitten andrer Art als hier am Teich.

Da lernt man! Auch Ulysses hat es so gemacht.«

Ulysses – welch verwegener Vergleich!

Wer hätte hier an den gedacht! –

Bald war man einig, wie die Fahrt zu machen sei.

Im Vorbereiten waren sie nicht faul:

Die Enten brachten einen Stock herbei,

Den schoben sie der Schildkröt quer durchs Maul.

»Jetzt gilt es,« sagten sie, »recht fest zu fassen,

Und hüte dich, ihn loszulassen!«

Das Vogelpaar ergriff den Stock an beiden Enden

Und flog mit seiner Bürde auf.

Da gab es überall ein Augenwenden,

Verwundert sah man in die Luft hinauf.

»Kommt,« rief man, »kommt und seht! Die Königin

Der Schildkröten zieht durch die Wolken hin.«

»Ja, in der Tat: die Königin,«

Erklang's von droben; »keiner soll zu spotten wagen!«

Sie hätte besser dran getan,

Kein Wort darob zu sagen[184]

Und schweigend fortzuziehn auf ihrer hohen Bahn.

Daß sprechend sie das Maul geöffnet, muß sie büßen:

Sie sank vom Stecken, der ihr Stütze bot,

Und lag zerschellt den Schauenden zu Füßen.

Schwatzhaftigkeit war schuld an ihrem Tod.


Neugier, Dummheit, Albernheit,

Prahlsucht und Geschwätzigkeit

Sind einander eng verwandt,

Sind fünf Finger einer Hand.

Quelle:
Lafontaine, Jean de: Fabeln. Berlin 1923, S. 183-185.
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