Die Wölfe und die Schafe

[60] Nachdem die Wölfe tausend Jahr in Krieg gelegen

Mit Schaf und Hirt, hat Frieden man geschlossen.

Für beide Teile war's ein wahrer Segen,

Den sie fortan in stillem Glück genossen;

Denn wenn die Wölfe sich vordem auch von verirrten

Wolltieren oft ernährten, machten doch die Hirten

Aus frischem Wolfspelz oft sich ein Gewand,

Kein unbedrohter Schritt war möglich rings im Land,

Aus steter Todesfurcht bestand

Der einen wie der andern Leben.

Der Friedenspakt schrieb vor, man solle Geiseln geben:

Die Wölfe ihre Brut, die Schafe ihre Hunde.

Das gab Gewähr, so glaubte man, dem Friedensbunde.

Geregelt ward der Austausch gleich von Kommissaren.

Die Wölflein aber sind allmählich groß geworden

Und, ganz nach Wolfsnatur, lüstern auf blutiges Morden,

Und als die Schäfer einmal fern der Herde waren,

Benutzten sie die Zeit, die Hälfte aller Schafe

Zu würgen und hinwegzuschleppen in den Wald.

Sie hatten ihren hinterlistigen Plan

Den alten Wölfen heimlich kundgetan,

Und diese mordeten die ahnungslos im Schlafe

Ruhenden Hunde alsobald,

Und das Gemetzel ging so schnell vonstatten,

Daß sie nicht Zeit zu Wehr und Hilferufen hatten.


Hieraus ergibt sich nun der Schluß,

Daß man die Bösen fortgesetzt bekriegen muß.

Der Friede ist an sich ein segensreicher Hort,

Doch schafft er Schlimmeres als nur Verdruß,

Wenn man nicht trauen kann auf Gegners Wort.

Quelle:
Lafontaine, Jean de: Fabeln. Berlin 1923, S. 60-61.
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