Geschichte des Fräuleins von Sternheim

Erster Teil

[13] Sie sollen mir nicht danken, meine Freundin, daß ich so viel für Sie abschreibe. Sie wissen, daß ich das Glück hatte, mit der vortrefflichen Dame erzogen zu werden, aus deren Lebensbeschreibung ich Ihnen Auszüge und Abschriften von den Briefen mitteile, welche Mylord Seymour von seinen englischen Freunden und meiner Emilia sammelte. Glauben Sie, es ist ein Vergnügen für mein Herz, wenn ich mich mit etwas beschäftigen kann, wodurch das geheiligte Andenken der Tugend und Güte einer Person, welche unserm Geschlechte und der Menschheit Ehre gemacht, in mir erneuert wird.

Der Vater meiner geliebten Lady Sidney war der Oberste von Sternheim, einziger Sohn eines Professors in W., von welchem er die sorgfältigste Erziehung genoß. Edelmut, Größe des Geistes, Güte des Herzens, waren die Grundzüge seines Charakters. Auf der Universität L. verband ihn die Freundschaft mit dem jüngern Baron von P. so sehr, daß er nicht nur alle Reisen mit ihm machte, sondern auch aus Liebe zu ihm mit in Kriegsdienste trat. Durch seinen Umgang und durch sein Beispiel wurde der vorher unbändige Geist des Barons so biegsam und wohldenkend, daß die ganze Familie dem jungen Mann dankte, der ihren geliebten Sohn auf die Wege des Guten gebracht hatte. Ein Zufall trennte sie. Der Baron mußte nach dem Tode seines ältern Bruders die Kriegsdienste verlassen und sich zu Übernehmung der Güter und Verwaltung derselben geschickt machen. Sternheim, der von Offizieren und Gemeinen auf das vollkommenste geehrt und geliebt wurde, blieb im Dienste und erhielt darin von dem Fürsten die Stelle eines Obersten und den Adelstand. »Ihr Verdienst, nicht das Glück[13] hat Sie erhoben«, sagte der General, als er ihm im Namen des Fürsten in Gegenwart vieler Personen das Obersten-Patent und den Adelsbrief überreichte; und nach dem allgemeinen Zeugnisse waren alle Feldzüge Gelegenheiten, wo er Großmut, Menschenliebe und Tapferkeit in vollem Maß ausübte.

Bei Herstellung des Friedens war sein erster Wunsch, seinen Freund zu sehen, mit welchem er immer Briefe gewechselt hatte. Sein Herz kannte keine andere Verbindung. Schon lange hatte er seinen Vater verloren; und da dieser selbst ein Fremdling in W. gewesen war, so blieben seinem Sohne keine nahe Verwandte von ihm übrig. Der Oberste von Sternheim ging also nach P., um daselbst das ruhige Vergnügen der Freundschaft zu genießen. Der Baron P., sein Freund, war mit einer liebenswürdigen Dame vermählt und lebte mit seiner Mutter und zwoen Schwestern auf den schönen Gütern, die ihm sein Vater zurückgelassen, sehr glücklich. Die Familie von P., als eine der angesehensten in der Gegend, wurde von dem zahlreichen benachbarten Adel öfters besucht. Der Baron P. gab wechselsweise Gesellschaft und kleine Feste; die einsamen Tage wurden mit Lesung guter Bücher, mit Bemühungen für die gute Verwaltung der Herrschaft und mit edler anständiger Führung des Hauses zugebracht.

Zuweilen wurden auch kleine Konzerte gehalten, weil das jüngere Fräulein das Klavier, die ältere aber die Laute spielte und schön sang, wobei sie von ihrem Bruder mit etlichen von seinen Leuten akkompagniert wurde. Der Gemütszustand des ältern Fräuleins störte dieses ruhige Glück. Sie war das einzige Kind, welches der Baron P. mit seiner ersten Gemahlin, einer Lady Watson, die er auf einer Gesandtschaft in England geheuratet, erzeugt hatte. Dieses Fräulein schien zu aller sanften Liebenswürdigkeit einer Engländerin auch den melancholischen Charakter, der diese Nation bezeichnet, von ihrer Mutter geerbt zu haben. Ein stiller Gram war auf ihrem Gesichte verbreitet. Sie liebte die Einsamkeit, verwendete sie aber allein auf fleißiges Lesen der besten Bücher, ohne gleichwohl die Gelegenheiten zu versäumen, wo sie, ohne fremde Gesellschaft, mit den Personen ihrer Familie allein sein konnte.

Der Baron, ihr Bruder, der sie zärtlich liebte, machte sich[14] Kummer für ihre Gesundheit, er gab sich alle Mühe, sie zu zerstreuen und die Ursache ihrer rührenden Traurigkeit zu erfahren.

Etlichemal bat er sie, ihr Herz einem treuen zärtlichen Bruder zu entdecken. Sie sah ihn bedenklich an, dankte ihm für seine Sorge und bat ihn mit tränenden Augen, ihr ihr Geheimnis zu lassen und sie zu lieben. Dieses machte ihn unruhig. Er besorgte, irgendein begangener Fehler möchte die Grundlage dieser Betrübnis sein, beobachtete sie in allem auf das genaueste, konnte aber keine Spur entdecken, die ihn zu der geringsten Bestärkung einer solchen Besorgnis hätte leiten können.

Immer war sie unter seinen oder ihrer Mutter Augen, redete mit niemand im Hause und vermied alle Arten von Umgang. Einige Zeit überwand sie sich und blieb in Gesellschaft; und eine ruhige Munterkeit machte Hoffnung, daß der melancholische Anfall vorüber wäre.

Zu diesem Vergnügen der Familie kam die unvermutete Ankunft des Obersten von Sternheim, von welchem diese ganze Familie so viel reden gehört und in seinen Briefen die Vortrefflichkeit seines Geistes und Herzens bewundert hatte. Er überraschte sie abends in ihrem Garten; die Entzückung des Barons, und die neugierige Aufmerksamkeit der übrigen, ist nicht zu beschreiben. Es währte auch nicht lange, so flößte sein edles liebreiches Betragen dem ganzen Hause eine gleiche Freude ein.

Der Oberste wurde als ein besonderer Freund des Hauses bei allen Bekannten vom Adel aufgeführt und kam in alle ihre Gesellschaften.

In dem Hause des Barons machte er die Erzählung seines Lebens, worin er ohne Weitläuftigkeit das Merkwürdige und Nützliche, was er gesehen, mit vieler Anmut und mit dem männlichen Tone, der den weisen Mann und den Menschenfreund bezeichnet, vortrug. Ihm wurde hingegen das Gemälde vom Landleben gemacht, wobei bald der Baron von den Vorteilen, welche die Gegenwart des Herrn den Untertanen verschafft, bald die alte Dame von demjenigen Teil der ländlichen Wirtschaft, der die Familienmutter angeht, bald die beiden Fräulein von den angenehmen Ergötzlichkeiten sprachen, die[15] das Landleben in jeder Jahrszeit anbietet. Auf diese Abschilderung folgte diese Frage:

»Mein Freund, wollten Sie nicht die übrigen Tage Ihres Lebens auf dem Lande zubringen?«

»Ja, lieber Baron! aber es müßte auf meinen eignen Gütern und in der Nachbarschaft der Ihrigen sein.«

»Das kann leicht geschehen, denn es ist eine kleine Meile von hier ein artiges Gut zu kaufen; ich habe die Erlaubnis hinzugehen, wenn ich will; wir wollen es morgen besehen.«

Den Tag darauf ritten die beiden Herren dahin, in Begleitung des Pfarrers von P., eines sehr würdigen Mannes, von welchem die Damen die Beschreibung des rührenden Auftritts erhielten, der zwischen den beiden Freunden vorgefallen war.

Der Baron hatte dem Obersten das ganze Gut gewiesen und führte ihn auch in das Haus, welches gleich an dem Garten und sehr artig gelegen war. Hier nahmen sie das Frühstück ein.

Der Oberste bezeugte seine Zufriedenheit über alles, was er gesehen, und fragte den Baron: ob es war sei, daß man dieses Gut kaufen könne?

»Ja, mein Freund; gefällt es Ihnen?«

»Vollkommen; es würde mich von nichts entfernen, was ich liebe.«

»O wie glücklich bin ich, teurer Freund«, sagte der Baron, da er ihn umarmte; »ich habe das Gut schon vor drei Jahren gekauft, um es Ihnen anzubieten; ich habe das Haus ausgebessert und oft in diesem Kabinette für Ihre Erhaltung gebetet. Nun werde ich den Führer meiner Jugend zum Zeugen meines Lebens haben.«

Der Oberste wurde außerordentlich gerührt; er konnte seinen Dank und seine Freude über das edle Herz seines Freundes nicht genug ausdrücken; er versicherte ihn, daß er sein Leben in diesem Hause zubringen würde; aber zugleich verlangte er zu wissen, was das Gut gekostet habe. Der Baron mußte es sagen und es auch durch die Kaufbriefe beweisen. Der Ertrag belief sich höher, als es nach dem Ankaufsschilling sein sollte. Der Baron versicherte aber, daß er nichts als seine eigne Auslage annehmen würde.

»Mein Freund (sagte er) ich habe nichts getan, als seit drei[16] Jahren alle Einkünfte des Guts auf die Verbesserung und Verschönerung desselben verwendet. Das Vergnügen des Gedanken: du arbeitest für die Ruhetage des Besten der Menschen; hier wirst du ihn sehen und in seiner Gesellschaft die glücklichen Zeiten deiner Jugend erneuern; sein Rat, sein Beispiel, wird zu der Zufriedenheit deiner Seele und dem Besten deiner Angehörigen beitragen. – Diese Gedanken haben mich belohnt.«

Wie sie nach Hause kamen, stellte der Baron den Obersten als einen neuen Nachbar seiner Frau Mutter und seinen Schwestern vor. Alle wurden sehr froh über die Versicherung, seinen angenehmen Umgang auf immer zu genießen.

Er bezog sein Haus sogleich, als er Besitz von der kleinen Herrschaft genommen hatte, die nur aus zweien Dörfern bestund. Er gab auch ein Festin für die kleine Nachbarschaft, fing gleich darauf an zu bauen, setzte noch zween schöne Flügel an beide Seiten des Hauses, pflanzte Alleen und einen artigen Lustwald, alles in englischem Geschmack. Er betrieb diesen Bau mit dem größten Eifer. Gleichwohl hatte er von Zeit zu Zeit eine düstre Miene, die der Baron wahrnahm, ohne anfangs davon etwas merken zu lassen, bis er in dem folgenden Herbst einer Gemütsveränderung des Obersten überzeugt zu sein glaubte, bei welcher er nicht länger ruhig sein konnte. Sternheim kam nicht mehr so oft, redete weniger und ging bald wieder weg. Seine Leute bedauerten die ungewöhnliche Melancholie, die ihren Herrn befallen hatte.

Der Baron wurde um so viel mehr bekümmert, als sein Herz von der zurückgefallnen Traurigkeit seiner ältern Schwester beklemmt war. Er ging zum Obersten, fand ihn allein und nachdenkend, umarmte ihn mit zärtlicher Wehmut und rief aus; – »O mein Freund! wie nichtig sind auch die edelsten, die lautersten Freuden unsers Herzens! – Lange fehlte mir nichts als Ihre Gegenwart; nun seh' ich Sie; itzt habe ich Sie in meinen Armen und sehe Sie traurig! Ihr Herz, Ihr Vertrauen ist nicht mehr für mich; haben Sie vielleicht der Freundschaft zu viel nachgegeben, indem Sie hier einen Wohnsitz nehmen? – Liebster bester Freund! quälen Sie sich nicht; Ihr Vergnügen ist mir teurer als mein eignes, ich nehme das Gut wieder an; es[17] wird mir wert sein, weil es mir Ihr schätzbares Andenken und Ihr Bild an allen Orten erneuern wird.«

Hier hielt er inne; Tränen füllten sein Auge, welches auf dem Gesicht seines Freundes geheftet war. – Er sah die größte Bewegung der Seele in dernselben ausgedrückt.

Der Oberste stund auf und umfaßte den Baron. »Edler P., glauben Sie ja nicht, daß meine Freundschaft, mein Vertrauen gegen Sie vermindert sei; noch weniger denken Sie, daß mich die Entschließung gereue, meine Tage in Ihrer Nachbarschaft hinzubringen. – O Ihre Nachbarschaft ist mir lieber, als Sie sich vorstellen können! – Ich habe eine Leidenschaft zu bekämpfen, die mein Herz zum erstenmal angefallen hat. Ich hoffte, vernünftig und edelmütig zu sein; aber ich bin es noch nicht in aller der Stärke, welche der Zustand meiner Seele erfordert. Doch ist es nicht möglich, daß ich mit Ihnen davon spreche; mein Herz und die Einsamkeit sind die einzigen Vertrauten, die ich haben kann.«

Der Baron drückte ihn an seine Brust; »ich weiß«, sagte er, »daß Sie in allem wahrhaft sind, ich zweifle also nicht an den Versicherungen Ihrer alten Freundschaft. Aber warum kommen Sie so selten zu mir? Warum eilen Sie so kalt wieder aus meinem Hause?«

»Kalt, mein Freund! Kalt eile ich aus Ihrem Hause? O P., wenn Sie das brennende Verlangen kennten, das mich zu Ihnen führt; das mich Stunden lang an meinem Fenster hält, wo ich das geliebte Haus sehe, in welchem alle mein Wünschen, all mein Vergnügen wohnt; ach P.! –«

Der Baron P. wurde unruhig, weil ihm auf einige Augenblicke der Gedanke kann, sein Freund möchte vielleicht seine Gemahlin lieben und meide deswegen sein Haus, weil er sich zu bestreiten suche. Er beschloß, achtsam und zurückhaltend zu sein. Der Oberste hatte still gesessen, und der Baron war auch aus seiner Fassung. Endlich fing der letztere an: »Mein Freund, Ihr Geheimnis ist mir heilig; ich will es nicht aus Ihrer Brust erpressen. Aber Sie haben mir Ursache gegeben zu denken, daß ein Teil dieses Geheimnisses mein Haus angehe: Darf ich nicht nach diesem Teile fragen?«

»Nein! Nein, fragen Sie nichts, und überlassen Sie mich mir[18] selbst.« – Der Baron schwieg, und reiste traurig und tiefsinnig fort.

Den andern Tag kam der Oberste, bat den Baron um Vergebung, daß er ihn gestern so trocken heimreisen lassen, und sagte, daß es ihn den ganzen Abend gequält hätte. »Lieber Baron«, setzte er hinzu, »Ehre und Edelmut binden meine Zunge! Zweifeln Sie nicht an meinem Herzen, und lieben Sie mich!«

Er blieb den ganzen Tag in P., – Fräulein Sophie und Fräulein Charlotte wurden von ihrem Bruder gebeten, alles zu Ermunterung seines Freundes beizutragen. Der Oberste hielt sich aber meistens um die alte Dame und die Gemahlin des Barons auf. Abends spielte Fräulein Charlotte die Laute, der Baron und zween Bediente akkompagnierten sie, und Fräulein Sophie wurde so inständig gebeten zu singen, daß sie endlich nachgab.

Der Oberste stellte sich in ein Fenster, wo er bei halb zugezogenem Vorhang das kleine Familien-Konzert anhörte und so eingenommen wurde, nicht wahrzunehmen, daß die Gemahlin seines Freundes nahe genug bei ihm stund, um ihn sagen zu hören: »O Sophie, warum bist du die Schwester meines Freundes? Warum bestreiten die Vorzüge deiner Geburt die edle, die zärtliche Neigung meines Herzens! –«

Die Dame wurde bestürzt; und um die Verwirrung zu vermeiden, in die er geraten sein würde, wenn er hätte denken können, sie habe ihn gehört, entfernte sie sich; froh, ihrem Gemahl die Sorge benehmen zu können, die ihn wegen der Schwermut des Obersten plagte. – Sobald alles schlafen gegangen war, redete sie mit ihm von dieser Entdeckung. Der Baron verstund nun, was ihm der Oberste sagen wollte, da er sich wegen des vermeinten Kaltsinns verteidigte, dessen er beschuldigt wurde. »Wäre Ihnen der Oberste als Schwager ebenso lieb, wie er es Ihnen als mein Freund ist?« – fragte er seine Gemahlin.

»Gewiß, mein Liebster! Sollte denn das Verdienst des rechtschaffnen Mannes nicht so viel Wert haben, als die Vorzüge des Namens und der Geburt!«

»Werte edle Hälfte meines Lebens«, rief der Baron, »so helfen Sie mir die Vorurteile bei meiner Mama und bei Sophien überwinden!« –

»Ich fürchte die Vorurteile nicht so sehr als eine vorgefaßte[19] Neigung, die unsre liebe Sophie in ihrem Herzen nährt. Ich kenne den Gegenstand nicht, aber sie liebt, und liebt schon lange. Kleine Aufsätze von Betrachtungen, von Klagen gegen das Schicksal, gegen Trennung, – die ich in ihrem Schreibetische gefunden habe, überzeugten mich davon. Ich habe sie beobachtet, aber weiter nichts entdecken können.« »Ich will mit ihr reden«, sagte der Baron, »und sehen, ob ihr Herz nicht durch irgendeine Lücke auszuspähen ist.«

Den Morgen darauf ging der Baron zu Fräulein Sophie, und nach vielen freundlichen Fragen um ihre Gesundheit nahm er ihre Hände in die seinigen. »Liebe teure Sophie«, sprach er, »du gibst mir Versicherung deines Wohlseins; aber warum bleibt dir die leidende Miene? warum der Ton des Schmerzens; warum der Hang zur Einsamkeit! warum entfliehen diesem edeln gütigen Herzen so viele Seufzer? – O wenn du wüßtest; wie sehr du mich diese lange Zeit deiner Melancholie durch bekümmert hast; du würdest mir dein Herz nicht verschlossen haben!«

Hier wurde ihre Zärtlichkeit überwältigt. – Sie zog ihre Hände nicht weg, sie drückte ihres Bruders seine an ihre Brust, und ihr Kopf sank auf seine Schulter. »Bruder, du brichst mein Herz! ich kann den Gedanken nicht ertragen, dir Kummer gemacht zu haben! Ich liebe dich wie mein Leben; ich bin glücklich, ertrage mich, und rede mir niemals vom Heiraten.«

»Warum das, mein Kind? Du würdest einen rechtschaffenen Mann so glücklich machen!«

»Ja, ein rechtschaffener Mann würde auch mich glücklich machen; aber ich kenne –« Tränen hinderten sie, mehr zu sagen. –

»O Sophie – hemme die aufrichtige Bewegung deiner Seele nicht; schütte ihre Empfindungen in den treuen Busen deines Bruders aus – Kind! ich glaube, es gibt einen Mann, den du liebst, mit dem dein Herz ein Bündnis hat.« –

»Nein, Bruder! mein Herz hat kein Bündnis –«

»Ist dieses wahr, meine Sophie?«

»Ja, mein Bruder, ja – –«

Hier schloß sie der Baron in seine Arme. – »Ach, wenn du die entschloßne, die wohltätige Seele deiner Mutter hättest!« –[20]

Sie erstaunte. »Warum, mein Bruder? was willst du damit? bin ich übeltätig gewesen?«

»Niemals, meine Liebe, niemals – aber du könntest es werden, wenn Vorurteile mehr als Tugend und Vernunft bei dir gälten.«

»Bruder, du verwirrest mich! in was für einem Falle sollte ich der Tugend und Vernunft entsagen?«

»Du mußt es nicht so nehmen! Der Fall, den ich denke, ist nicht wider Tugend und Vernunft; und doch könnten beide ihre Ansprüche bei dir verlieren?« –

»Bruder, rede deutlich; ich bin entschlossen nach meinen geheimsten Empfindungen zu antworten.« –

»Sophie, die Versicherung, daß dein Herz ohne Bündnis sei, erlaubt mir, dich zu fragen: was du tun würdest, wenn ein Mann, voll Weisheit und Tugend dich liebte, um deine Hand bäte, aber nicht von altem Adel wäre?« –

Sie geriet bei diesem letzten Wort in Schrecken, sie zitterte und wußte sich nicht zu fassen. Der Baron wollte ihr Herz nicht lange quälen, sondern fuhr fort: »Wenn dieser Mann der Freund wäre, dem dein Bruder die Güte und Glückseligkeit seines Herzens zu danken hätte –, Sophie; was würdest du tun?«

Sie redete nicht, sondern ward nachdenkend und wechselsweise rot und blaß.

»Ich beunruhige dich, meine Schwester; der Oberste liebt dich. Diese Leidenschaft macht seine Schwermut; denn er zweifelt, ob er werde angenommen werden. Ich bekenne dir freimütig, daß ich wünschte, alle seine mir erwiesne Wohltaten durch dich zu vergelten. Aber wenn dein Herz darwider ist, so vergiß alles, was ich dir sagte.«

Das Fräulein bemühete sich einen Mut zu fassen; schwieg aber eine gute Weile; endlich fragte sie den Baron: »Bruder, ist es gewiß, daß der Oberste mich liebt?« – Der Baron erklärte ihr hierauf alles, was er durch seine Unterredungen mit dem Obersten, und endlich durch die Wünsche, welche seine Gemahlin gehört hatte, von seiner Liebe wußte.

»Mein Bruder«, sprach Sophie, »ich bin freimütig, und du verdienst alle mein Vertrauen so sehr, daß ich nicht lange warten[21] werde, dir zu sagen, daß der Oberste der einzige Mann auf Erden ist, dessen Gemahlin ich zu werden wünsche.«

»Der Unterschied der Geburt ist dir also nicht anstößig?«

»Gar nicht; sein edles Herz, seine Wissenschaft, und seine Freundschaft für dich, ersetzen bei mir den Mangel der Ahnen.«

»Edelmütiges Mädchen! du machst mich glücklich durch deine Entschließung, liebste Sophie! – Aber warum batest du mich, dir nichts vom Heiraten zu sagen?«

»Weil ich fürchtete, du redetest von einem andern«, sagte sie mit leisem Ton, indem ihr glühendes Gesicht auf der Schulter ihres Bruders lag –

Er umarmte sie, küßte ihre Hand; »diese Hand«, sagte er, »wird ein Segen für meinen Freund sein! von mir wird er sie erhalten! Aber, mein Kind, die Mama und Charlotte werden dich bestreiten; wirst du standhaft bleiben?«

»Bruder, du sollst sehen, daß ich ein engländisches Herz habe. – Aber da ich alle deine Fragen beantwortete, so muß ich auch eine machen: Was dachtest du von meiner Traurigkeit, weil du mich so oft fragtest?« –

»Ich dachte, eine heimliche Liebe, und ich fürchtete mich vor dem Gegenstand, weil du so verborgen warest.«

»Mein Bruder glaubte also nicht, daß die Briefe seines Freundes, die er uns vorlas, und alles übrige, was er von dem teuren Mann erzählte, einen Eindruck auf mein Herz machen könnte?«

»Liebe Sophie, es war also das Verdienst meines Freundes, was dich so beunruhigte? – Glücklicher Mann, den ein edles Mädchen wegen seiner Tugend liebt! – Gott segne meine Schwester für ihre Aufrichtigkeit! nun kann ich das Herz meines Freundes von seinem nagenden Kummer heilen.«

»Tu alles, mein Bruder, was ihn befriedigen kann; nur schone meiner dabei! du weißt, daß ein Mädchen nicht ungebeten lieben darf.«

»Sei ruhig, mein Kind; deine Ehre ist die meinige.«

Hier verließ er sie, ging zu seiner Gemahlin und teilte ihr das Vergnügen dieser Entdeckung mit. So dann eilte er zum Obersten, welchen er traurig und ernsthaft fand. – Mancherlei Unterredungen, die er anfing, wurden kurz beantwortet. Eine tödliche Unruhe war in allen seinen Gebärden. – »Habe ich Sie[22] gestört, Herr Oberster?« sagte der Baron mit der Stimme der zärtlichsten Freundschaft eines jungen Mannes gegen seinen Führer, indem er den Obersten zugleich bei der Hand faßte.

»Ja, lieber Baron, Sie haben mich in der Entschließung gestört, auf einige Zeit wegzureisen.«

»Wegzureisen? und – allein? –«

»Lieber P., ich bin in einer Gemütsverfassung, die meinen Umgang unangenehm macht; ich will sehen, was die Zerstreuung tun kann.«

»Mein bester Freund! darf ich nicht mehr in Ihr Herz sehen? kann ich nichts zu Ihrer Ruhe beitragen?«

»Sie haben genug für mich getan! Sie sind die Freude meines Lebens. – Was mir itzt mangelt, muß die Klugheit und die Zeit bessern.«

»Sternheim, Sie sagten letzt von einer zu bekämpfenden Leidenschaft. – Ich kenne Sie; Ihr Herz kann keine unanständige, keine böse Leidenschaft nähren; es muß Liebe sein, was die Qual Ihrer Tage macht!«

»Niemals, P., niemals sollen Sie wissen, was meinen itzigen Kummer verursacht.«

»Rechtschaffner Freund, ich will Sie nicht länger täuschen; ich kenne den Gegenstand Ihrer Liebe; Ihre Zärtlichkeit hat einen Zeugen gefunden; ich bin glücklich: Sie lieben meine Sophie!« – Der Baron hielt den Obersten, der ganz außer sich war, umarmt; er wollte sich loswinden; es war ihm bange.

»P., was sagen Sie? was wollen Sie von mir wissen?«

»Ich will wissen; ob die Hand meiner Schwester ein gewünschtes Glück für Sie wäre?«

»Unmöglich, denn es wäre für Sie alle ein Unglück.«

»Ich habe also Ihr Geständnis; aber wo soll das Unglück sein?«

»Ja, Sie haben mein Geständnis; Ihre Fräulein Schwester ist das erste Frauenzimmer, welches die beste Neigung meiner Seele hat; aber ich will sie überwinden; man soll Ihnen nicht vorwerfen, daß Sie Ihrer Freundschaft die schuldige Achtung für Ihre Voreltern aufgeopfert haben. Fräulein Sophie soll durch mich keinen Anspruch an Glück und Vorzug verlieren.[23]

Schwören Sie mir, kein Wort mit ihr davon zu reden; oder Sie sehen mich heute zum letztenmal!«

»Sie denken edel, mein Freund; aber Sie sollen nicht ungerecht werden. Ihre Abreise würde nicht allein mich, sondern Sophien und meine Gemahlin betrüben. Sie sollen mein Bruder sein!« –

»P., Sie martern mich mit diesem Zuspruch mehr, als mich die Unmöglichkeit marterte, die meinen Wünschen entgegen ist.«

»Freund! Sie haben die freiwillige, die zärtliche Zusage meiner Schwester – Sie haben die Wünsche meiner Gemahlin und die meinige. Wir haben alles bedacht, was Sie bedenken können – soll ich Sie bitten, der Gemahl von Sophien von P. zu werden?« –

»O Gott! wie hart beurteilen Sie mein Herz! Sie glauben also, daß es eigensinniger Stolz sei, der mich unschlüssig macht?«

»Ich antworte nichts, umarmen Sie mich und nennen Sie mich Ihren Bruder! morgen sollen Sie es sein! Sophie ist die Ihrige. Sehen Sie sie nicht als das Fräulein von P., sondern als ein liebenswürdiges und tugendhaftes Frauenzimmer an, dessen Besitz alle Ihre künftigen Tage beglücken wird; und nehmen Sie diesen Segen von der Hand Ihres neuen Freundes mit Vergnügen an!«

»Sophie mein? mit einer freiwilligen Zärtlichkeit mein? Es ist genug; Sie geben alles; ich kann nichts tun, als auf alles freiwillig entsagen!«

»Entsagen? – nach der Versicherung, daß Sie geliebt sind? O meine Schwester, wie übel bin ich mit deinem vortrefflichen Herzen umgegangen!« –

»P., was sagen Sie! und wie können Sie mein Herz durch einen solchen Vorwurf zerreißen? Wenn Sie edelmütig sind: soll ich es nicht auch sein? soll ich die Augen über die Mienen des benachbarten Adels zuschließen?«

»Sie sollen es, wenn die Frage von Ihrer Freude und Ihrem Glück ist.«

»Was wollen Sie dann, daß ich tun soll?«

»Daß Sie mich mit dem Auftrage zurückreisen lassen, mit[24] meiner Mutter von meinem Wunsche zu sprechen, und daß Sie zu uns kommen wollen, wenn ich Ihnen ein Billett schicke.«

Der Oberste konnte nicht mehr reden; er umarmte den Baron. Dieser ging zurück, gerade zu seiner Frau Mutter, bei welcher die beiden Fräulein und seine Gemahlin waren. Er führte die ältere Fräulein in ihr Zimmer, weil er ihr den Bericht von seinem Besuch allein machen wollte, und bat sie, ihn eine Zeitlang bei der Frau Mutter und Charlotten zu lassen. Hier tat er einen förmlichen Antrag für seinen Freund. Die alte Dame wurde betroffen; er sah es, und sagte: »Teure Frau Mutter! alle Ihre Bedenklichkeiten sind gegründet. Der Adel soll durch adelige Verbindungen fortgeführt werden. Aber die Tugenden des Sternheim sind die Grundlagen aller großen Familien gewesen. Man hatte nicht unrecht zu denken, daß große Eigenschaften der Seele bei Töchtern und Söhnen erblich sein könnten, und daß also jeder Vater für einen Sohn eine edle Tochter suchen sollte. Auch wollt' ich, der Einführung der Heiraten außer Stand nicht gerne das Wort reden. Aber hier ist ein besonderer Fall; ein Fall, der sehr selten erscheinen wird: Sternheims Verdienste, mit dem Charakter eines wirklichen Obersten, der schon als adelig anzusehen ist, rechtfertigen die Hoffnung, die ich ihm gemacht habe.«

»In Wahrheit, mein Sohn, ich habe Bedenklichkeiten. Aber der Mann hat meine ganze Hochachtung erworben. Ich würde ihn gern glücklich sehen.«

»Meine Gemahlin: Was sagen Sie?«

»Daß bei einem Mann, wie dieser ist, eine gerechte Ausnahme zu machen sei. Ich werde ihn gerne Bruder nennen.«

»Ich nicht«, sagte Fräulein Charlotte. –

»Warum, meine Liebe?«

»Weil diese schöne Verbindung auf Unkosten meines Glücks gemacht wird.«

»Wie das, Charlotte?«

»Wer wird denn unser Haus zu einer Vermählung suchen, wenn die ältere Tochter so verschleudert ist?«

»Verschleudert? bei einem Mann von Tugend und Ehre, bei dem Freunde deines Bruders?«

»Vielleicht hast du noch einen Universitätsfreund von dieser[25] Tugend, der sich um mich melden wird, um seiner aufkeimenden Ehre eine Stütze zu geben, und da wirst du auch Ursachen zu deiner Einwilligung bereit haben?«

»Charlotte, meine Tochter: was für eine Sprache?«

»Ich muß sie führen, weil in der ganzen Familie niemand auf mich und seine Voreltern denkt.«

»So, Charlotte; und wenn man an die Voreltern denkt; muß man den Bruder und einen edelmütigen Mann beleidigen?« – sagte die junge Frau von P.

»Ich habe Ihre Ausnahme schon gehört, die Sie für den edelmütigen Mann machen. Andre Familien werden auch Ausnahmen haben, wenn ihr Sohn Charlotten zur Gemahlin haben wollte.«

»Charlotte, wer dich um Sternheims willen verläßt, ist deiner Hand und einer Verbindung mit mir nicht wert. Du siehst, daß ich auf die böse jüngere Schwester noch stolz bin, wenn ich schon die gute ältere an einen Universitätsfreund verschleudere.«

»Freilich muß die jüngere Schwester böse sein, wenn sie sich nicht zum Schuldenabtrag will gebrauchen lassen!«

»Wie unvernünftig boshaft meine Schwester sein kann! Du hast nichts von meinen Anträgen zu besorgen. Ich werde für niemand als einen Sternheim reden, und für diesen ist ein Gemütscharakter, wie der deinige, nicht edel genug, wenn du auch eine Fürstin wärest.«

»Gnädige Mama; Sie hören zu, wie ich wegen des elenden Kerls gemißhandelt werde?«

»Du hast die Geduld deines Bruders gemißbraucht. Kannst du deine Einwendungen nicht ruhiger vorbringen?«

Sie wollte eben reden; aber der Bruder fiel ihr ins Wort; »Charlotte, rede nicht mehr; der Ausdruck elender Kerl hat dir deinen Bruder genommen! Die Sachen meines Hauses gehen dich nichts mehr an. Dein Herz entehrt die Ahnen, auf deren Namen du stolz bist! O wie klein würde die Anzahl des Adels werden, wenn sich nur die dazu rechnen dürften, die ihre Ansprüche durch die Tugenden der edlen Seele des Stifters ihres Hauses beweisen könnten!«

»Lieber Sohn, werde nicht zu eifrig, es wäre wirklich nicht[26] gut, wenn unsre Töchter so leichte geneigt wären, außer Stand zu heiraten.«

»Das ist nicht zu befürchten. Es gibt selten eine Sophie, die einen Mann nur wegen seiner Klugheit und Großmut liebt.«

Fräulein Charlotte entfernte sich.

»Hast du aber nicht selbst einmal deine dir so lieben Engländer angeführt, welche die Heirat außer Stand den Töchtern viel weniger vergeben als den Söhnen, weil die Tochter ihren Namen aufgeben und den von ihrem Manne tragen muß, folglich sich erniedriget?«

»Dies bleibt alles wahr, aber in England würde mein Freund tausendmal von diesem Grundsatz ausgenommen werden, und das Mädchen, das ihn liebte, würde den Ruhm eines edeldenkenden Frauenzimmers erhalten.«

»Ich sehe wohl, mein Sohn, daß diese Verbindung eine schon beschlossene Sache ist. Aber hast du auch überlegt, daß man sagen wird, du opferst deine Schwester einer übertriebenen Freundschaft auf, und ich handle als Stiefmutter, da ich meine Einwilligung gebe?«

»Liebe Mama! lassen Sie es immer geschehen, unser Beweggrund wird uns beruhigen, und das Glück meiner Schwester wird, neben den Verdiensten meines Freundes, allein so deutlich in die Augen glänzen, daß man aufhören wird, übel zu denken.«

Hierauf wurde Fräulein Sophie von ihrem Bruder geholt. Sie warf sich ihrer Frau Mutter zu Füßen; die gute Dame umarmte sie: »Liebe Fräulein Tochter«, sprach sie, »Ihr Bruder hat mich versichert, daß dieses Band nach Ihren Wünschen wäre, sonst hätte ich nicht eingewilliget. Es ist wahr, es fehlt dem Manne nichts als eine edle Geburt. Aber, Gott segne Sie beide!«

Indessen war der Baron fort, er holte den Obersten, welcher halb außer sich in das Zimmer trat, aber gleich zu der alten Dame ging, ihr mit gebognem Knie die Hände küßte und mit männlichem Anstand sagte:

»Gnädige Frau! glauben Sie immer, daß ich Ihre Einwilligung als eine herablassende Güte ansehe; bleiben Sie aber auch versichert, daß ich dieser Güte niemals unwürdig sein werde.«

Sie war so liebreich zu sagen: »Es erfreuet mich, Herr Oberster,[27] daß Ihre Verdienste in meinem Hause eine Belohnung gefunden haben.« Er küßte hierauf die Hände der Gemahlin seines Freundes; »wieviel Dank und Verehrung«, rief er aus, »bin ich der großmütigen Vorsprecherin der Angelegenheiten meines Herzens schuldig?«

»Nichts, Herr Oberster! ich bin stolz, zu dem Glück Ihres Herzens etwas beizutragen; Ihre brüderliche Freundschaft soll meine Belohnung sein.«

Er wollte mit seinem Freunde reden; aber dieser wies ihn an Fräulein Sophie. Bei dieser kniete er stillschweigend, und endlich sprach der edle Mann: »Gnädiges Fräulein! mein Herz ist in Verehrung der Tugend geboren; wie war es möglich, eine vortreffliche Seele wie die Ihrige mit allen äußerlichen Annehmlichkeiten begleitet zu sehen, ohne daß meine Empfindungen lebhaft genug wurden, Wünsche zu machen? Ich hätte diese Wünsche erstickt; aber die treue Freundschaft Ihres Bruders hat mir Mut gegeben, um Ihre Zuneigung zu bitten. Sie haben mich nicht verworfen. Gott belohne Ihr liebreiches Herz und lasse mich die Tugend niemals verlieren, die mir Ihre Achtung erworben hat!« –

Fräulein Sophie antwortete nur mit einer Verbeugung und reichte ihm die Hand mit dem Zeichen aufzustehen; darauf näherte sich der Baron und führte beide an seinen Händen zu seiner Frau Mutter.

»Gnädige Mama«, sagte er, »die Natur hat Ihnen an mir einen Sohn gegeben, von welchem Sie auf das vollkommenste geehrt' und geliebt werden; das Schicksal gibt Ihnen an meinem Freunde einen zweiten Sohn, der aller Ihrer Achtung und Güte würdig ist. – Sie haben oft gewünscht, daß unsre Sophie glücklich sein möge. Ihre Verbindung mit dem geistvollen rechtschaffenen Mann wird diesen mütterlichen Wunsch erfüllen. Legen Sie Ihre Hand auf die Hände Ihrer Kinder; ich weiß, daß der mütterliche Segen ihren Herzen heilig und schätzbar ist.«

Die Dame legte ihre Hand auf und sagte: »Meine Kinder! wenn euch Gott so viel Gutes und Vergnügen schenkt, als ich von ihm für euch erbitten werde, so wird euch nichts mangeln.« Und nun umarmte der Baron den Obersten als seinen Bruder und auch die glückliche Braut, welcher er für die Gesinnungen,[28] die sie gegen seinen Freund bezeugt hatte, zärtlich dankte. Der Oberste speiste mit ihnen. Fräulein Charlotte kam nicht zur Tafel. Die Trauung geschah ohne vieles Gepränge. Etliche Tage nach der Hochzeit schrieb


Frau von Sternheim an ihre Frau Mutter

Da mich das schlimme Wetter und eine kleine Unpäßlichkeit abhalten, meiner gnädigen Mama selbst aufzuwarten, so will ich doch meinem Herzen das edle Vergnügen nicht versagen, mich schriftlich mit Ihnen zu unterhalten.

Die Gesellschaft meines teuren Gemahls und die Überdenkung der Pflichten, welche mir in dem neuen Kreise meines Lebens angewiesen sind, halten mich in Wahrheit für alle andre Zeitvertreibe und Vergnügungen schadlos; aber sie erneuern auch mit Lebhaftigkeit alle übrigen edlen Empfindungen, die mein Herz jemals genährt hat. Unter diese gehört auch die dankvolle Liebe, welche Ihre Güte seit so vielen Jahren von mir verdient hat, da ich in Ihrer vortrefflichen Seele alle treue und zärtliche Sorgfalt gefunden habe, die ich nur immer von meiner wahren Mutter hätte genießen können. Und doch muß ich bekennen, daß Ihre gnädige Einwilligung in mein Bündnis mit Sternheim die größte Wohltat ist, die Sie mir erzeigt haben. Dadurch ist das ganze Glück meines Lebens befestiget worden; welches ich in nichts anderm suche noch erkenne, als in Umständen zu sein, worin man nach seinem eignen Charakter und nach seinen Neigungen leben kann. Dieses war mein Wunsch, und diesen hab' ich von der Vorsehung erhalten. – Einen nach seinem Geist und Herzen aller meiner Verehrung würdigen Mann; und mittelmäßiges, aber unabhängiges Vermögen, dessen Größe und Ertrag hinreichend ist, unser Haus in einer edlen Genügsamkeit und standesgemäß zu erhalten, dabei aber auch unsern Herzen die Freude gibt, viele Familien des arbeitsamen Landmanns durch Hülfe zu erquicken, oder durch kleine Gaben aufzumuntern.

Erlauben Sie, daß ich eine Unterredung wiederhole, welche der teure Mann mit mir gehalten, dessen Namen ich trage.[29]

Nachdem meine gnädige Mama, mein Bruder, meine Schwester und meine Schwägerin abgereiset waren, empfand ich sozusagen das erstemal die ganze Wichtigkeit meiner Verbindung.

Die Veränderung meines Namens zeigte mir zugleich die Veränderung meiner Pflichten, die ich alle in einer Reihe vor mir sah. Diese Betrachtungen, welche meine ganze Seele beschäftigten, wurden, denke ich, durch die äußerlichen Gegenstände lebhafter. Ein anderer Wohnplatz; alle, mit denen ich von Jugend auf gelebt, von mir entfernt; die erste Bewegung über ihre Abreise usw.

Alles dieses gab mir, ich weiß nicht welch ein ernsthaftes Ansehen, das dem Auge meines Gemahls merklich wurde.

Er kam mit dem Ausdruck einer sanften Freudigkeit in seinem Gesichte zu mir in mein Kabinett, wo ich gedankenvoll saß; blieb in der Mitte des Zimmers stehen, betrachtete mich mit zärtlicher Unruhe und sagte:

»Sie sind nachdenklich, liebste Gemahlin! darf ich Sie stören?«

Ich konnte nicht antworten, reichte ihm aber meine Hand. Er küßte sie, und nachdem er sich einen Stuhl zu mir gerückt hatte, fing er an:

»Ich verehre Ihre ganze Familie; doch muß ich sagen, daß mir der Tag lieb ist, wo alle Gesinnungen meines Herzens allein meiner Gemahlin gewidmet sein können. Gönnen Sie mir Ihr Vertrauen, so wie Sie mir Ihre Hochachtung geschenkt haben; und glauben Sie, daß Sie mit dem Mann, den Sie andern so edelmütig vorgezogen haben, nicht unglücklich sein werden. Ihr väterlich Haus ist nicht weit von uns entfernt, und in diesem hier wird Ihr wohlgesinntes Herz sein Vergnügen finden, mich, meine und Ihre Bediente, meine und Ihre Untertanen glücklich zu machen. Ich weiß, daß Sie seit vielen Jahren bei Ihrer Frau Mutter die Stelle einer Hauswirtin versehen haben. Ich werde Sie bitten, dieses Amt, mit allem, was dazu gehört, auch in diesem Hause zu führen. Sie werden mich dadurch sehr verbinden; indem ich gesinnet bin, alle meine Muße für das Beste unsrer kleinen Herrschaft zu verwenden. Ich setze dieses nicht allein darin, Güte und Gerechtigkeit auszuüben, sondern auch in der Untersuchung, ob nicht die Umstände meiner Untertanen[30] in andrer Austeilung der Güter, in Besorgung der Schulen, des Feldbaues und der Viehzucht zu verbessern seien? Ich habe mir von allen diesen Teilen einige Kenntnis erworben; denn in dem glücklichen Mittelstande der menschlichen Gesellschaft, worin ich geboren wurde, sieht man die Anbauung des Geistes und die Ausübung der meisten Tugenden nicht nur als Pflichten, sondern auch als den Grund unsers Wohlergehens an; und ich werde mich dieser Vorteile allezeit dankbarlich erinnern, weil ich Ihnen das unschätzbare Glück Ihrer Liebe schuldig bin. Wäre ich mit dem Rang und Vermögen geboren worden, die ich itzt besitze, so wäre vielleicht mein Eifer, mir einen Namen zu machen, nicht so groß gewesen. Was ich aber in dem Schicksal meiner verfloßnen Jahre am meisten liebe, ist der Vater, den es mir gab; weil ich gewiß in andern Umständen keinen so treuen und weisen Führer meiner Jugend gehabt hätte, als er für mich war. Er verbarg mir aus weiser Überlegung und Kenntnis meines Gemüts (vielleicht des ganzen menschlichen Herzens überhaupt) den größten Teil seines Reichtums; einmal um der Nachlässigkeit vorzubeugen, mit welcher einzige und reiche Söhne den Wissenschaften obliegen; und dann die Verführung zu vermeiden, denen diese Art junger Leute ausgesetzt ist; und weil er dachte, wann ich einmal die Kräfte meiner Seele, für mich und andere, wohl zu gebrauchen gelernt hätte, so würde ich einst auch von den Glücksgütern einen klugen und edeln Gebrauch zu machen wissen. Daher suchte mich mein Vater zuerst, durch Tugend und Kenntnisse, moralisch gut und glücklich zu machen, ehe er mir die Mittel in die Hände gab, durch welche man alle Gattungen von sinnlichem Wohlstand und Vergnügen für sich und andre erlangen und austeilen kann. Die Liebe und Übung der Tugend und der Wissenschaften, sagte er, geben ihrem Besitzer eine von Schicksal und Menschen unabhängige Glückseligkeit und machen ihn zugleich durch das Beispiel, das seine edle und gute Handlungen geben, durch den Nutzen und das Vergnügen, das sein Rat und Umgang schaffen, zu einem moralischen Wohltäter an seinen Nebenmenschen. Durch solche Grundsätze und eine darauf gegründete Erziehung machte er mich zu einem würdigen Freund Ihres Bruders; und, wie ich mir schmeichle,[31] zu dem nicht unwürdigen Besitzer Ihres Herzens. Die Hälfte meines Lebens ist vorbei. Gott sei Dank, daß sie weder mit sonderbaren Unglücksfällen noch Vergehungen wider meine Pflichten bezeichnet ist! – Der gesegnete Augenblick, wo das edle gütige Herz der Sophie P. zu meinem Besten gerührt war, ist der Zeitpunkt, in welchem der Plan für das wahre Glück meiner übrigen Tage vollführt wurde. Zärtliche Dankbarkeit und Verehrung wird die stete Gesinnung meiner Seele für Sie sein.«

Hier hielt er inne, küßte meine beiden Hände und bat mich um Vergebung, daß er so viel geredet hätte.

Ich konnte nichts anders als ihn versichern, daß ich mit Vergnügen zugehört und ihn bäte, fortzufahren, weil ich glaubte, er hätte mir noch mehr zu sagen.

»Ich möchte Sie nicht gerne ermüden, liebste Gemahlin; aber ich wünsche, daß Sie mein ganzes Herz sehen könnten. – Ich will also, weil Sie es zu wünschen scheinen, nur noch einige Punkte berühren.

Ich habe mir angewöhnt, in allen Stücken, die ich in Erlernung der Wissenschaften oder in meinen Militär-Diensten zu ersteigen hatte, mich sorgfältig nach allen Pflichten umzusehen, die ich darin in Absicht auf mich selbst, meine Obern und die übrigen zu erfüllen verbunden war. Nach dieser Kenntnis teilte ich meine Aufmerksamkeit und meine Zeit ab. Mein Ehrgeiz trieb mich, alles, was ich zu tun schuldig war, ohne Aufschub und auf das Vollkommenste zu verrichten. War es geschehen, so dachte ich auch an die Vergnügungen, die meiner Gemütsart die gemäßesten waren. Gleiche Überlegungen habe ich über meine itzigen Umstände gemacht; und da finde ich mich mit vierfachen Pflichten beladen. Die erste gegen meine liebenswürdige Gemahlin, welche mir leicht ist, weil immer mein ganzes Herz zu ihrer Ausübung bereit sein wird. – Die zwote gegen Ihre Familie und den übrigen Adel, denen ich, ohne jemals schmeichlerisch und unterwürfig zu sein, durch alle meine Handlungen den Beweis zu geben suchen werde, daß ich der Hand von Sophien P. und der Aufnahme in die freiherrliche Klasse nicht unwürdig war. Die dritte Pflicht geht die Personen von demjenigen Stande an, aus welchem ich herausgezogen bin. Diese will ich niemals zu denken veranlassen, daß ich meinen[32] Ursprung vergessen habe. Sie sollen weder Stolz noch niederträchtige Demut bei mir sehen. Viertens treten die Pflichten gegen meine Untergebene ein, für deren Bestes ich auf alle Weise sorgen werde, um ihrem Herzen die Unterwürfigkeit, in welche sie das Schicksal gesetzt hat, nicht nur erträglich, sondern angenehm zu machen, und mich so zu bezeugen, daß sie mir den Unterschied, welchen zeitliches Glück zwischen mir und ihnen gemacht hat, gerne gönnen sollen.

Der rechtschaffene Pfarrer in P. will mir einen wackern jungen Mann zum Seelsorger in meinem Kirchspiele schaffen, mit welchem ich gar gerne einen schon lang gemachten Wunsch für einige Abänderungen in der gewöhnlichen Art, das Volk zu unterrichten, veranstalten möchte. Ich habe mich gründlich von der Güte und dem Nutzen der großen Wahrheiten unsrer Religion überzeugt; aber die wenige Wirkung, die ihr Vortrag auf die Herzen der größten Anzahl der Zuhörer macht, gab mir eher einen Zweifel in die Lehrart als den Gedanken ein, daß das menschliche Herz durchaus so sehr zum Bösen geneigt sei, als manche glauben. Wie oft kam ich von Anhörung der Kanzelrede eines berühmten Mannes zurück, und wenn ich dem moralischen Nutzen nachdachte, den ich daraus gezogen, und dem, welchen der gemeine Mann darin gefunden haben könnte, so fand ich in Wahrheit viel Leeres für den letztern dabei; und derjenige Teil, welchen der Prediger dem Ruhme der Gelehrsamkeit oder dem ausführlichen, aber nicht allzuverständlichen Vortrag mancher spekulativer Sätze gewidmet hatte, war für die Besserung der meisten verloren, und das gewiß nicht aus bösem Willen der letztern.

Denn wenn ich, der von Jugend auf meine Verstandskräfte geübt hatte und mit abstrakten Ideen bekannt war, Mühe hatte, nützliche Anwendungen davon zu machen; wie sollte der Handwerksmann und seine Kinder damit zurechte kommen? Da ich nun weit von dem unfreundlichen Stolz entfernt bin, der unter Personen von Glück und Rang den Satz erdacht hat, man müsse dem gemeinen Mann weder aufgeklärte Religionsbegriffe geben noch seinen Verstand erweitern, so wünsche ich, daß mein Pfarrer, aus wahrer Güte gegen seinen Nächsten, und aus Empfindung des ganzen Umfangs seiner Obliegenheiten,[33] zuerst bedacht wäre, seiner anvertrauten Gemeinde das Maß von Erkenntnis beizubringen, welches ihnen zu freudiger und eifriger Erfüllung ihrer Pflichten gegen Gott, ihre Obrigkeit, ihren Nächsten und sich selbst nötig ist. Der geringe Mann ist mit der nämlichen Begierde zu Glück und Vergnügen geboren wie der größere und wird, wie dieser, von den Begierden oft auf Abwege geführt. Daher möchte ich ihnen auch richtige Begriffe von Glück und Vergnügen geben lassen. Den Weg zu ihren Herzen, glaube ich, könne man am ehesten durch Betrachtungen über die physikalische Welt finden, von der sie am ersten gerührt werden, weil jeder Blick ihrer Augen, jeder Schritt ihrer Füße sie dahin leitet. – Wären erst ihre Herzen durch Erkenntnis der wohltätigen Hand ihres Schöpfers geöffnet, und durch historische Vergleichungen von ihrem Wohnplatz und ihren Umständen mit dem Aufenthalt und den Umständen andrer Menschen, die ebenso, wie sie, Geschöpfe Gottes sind, zufriedengestellt, so zeigte man ihnen auch die moralische Seite der Welt und die Verbindlichkeiten, welche sie darin zu einem ruhigen Leben für sich selbst, zum Besten der Ihrigen und zur Versicherung eines ewigen Wohlstands zu erfüllen haben. Wenn mein Pfarrer nur mit dem guten Bezeugen der letzten Lebenstage seiner Pfarrkinder zufrieden ist, so werde ich sehr unzufrieden mit ihm sein. Und wenn er die Besserung der Gemüter nur durch sogenannte Gesetz- und Strafpredigten erhalten will, ohne den Verstand zu öffnen und zu überzeugen, so wird er auch nicht mein Pfarrer sein. – Wenn er aufmerksamer auf den Fleiß im Kirchengehen ist als auf die Handlungen des täglichen Lebens, so werde ich ihn für keinen wahren Menschenfreund und für keinen guten Seelsorger wahren Menschenfreund und für keinen guten Seelsorger halten.

Auf die Schule der guten Einrichtung derselben und die angemessene Belohnung des Schulmeisters werde ich alle Sorge tragen; mit der nötigen Nachsicht verbunden, welche die Schwachheit des kindlichen Alters erfordert. Es soll darin ein doppelter Katechismus gelehrt werden; nämlich von den Christenpflichten, wie er eingeführt ist, und bei jedem Hauptstück eine deutliche, einfache Anwendung dieser Grundsätze auf ihr tägliches Leben; und dann ein Katechismus von gründlicher[34] Kenntnis des Feld- und Gartenbaues, der Viehzucht, der Besorgung der Gehölze und Waldungen und dergleichen, als Pflichten des Berufs und der Wohltätigkeit gegen die Nachkommenschaft. Überhaupt wünsche ich, meine Untertanen erst gut gegen ihren Nächsten zu sehen, ehe sie einen Anspruch an das Lob der Frömmigkeit machen.

Dem Beamten, den ich hier angetroffen, werde ich seinen Gehalt und die Besorgung der Rechnung lassen; aber zur Justizverwaltung und Aufsicht auf die Befolgung der Gesetze und auf Polizei und Arbeitsamkeit werde ich den wackern jungen Mann gebrauchen, dessen Bekanntschaft ich in P. gemacht habe. Diesem, und mir selbst, will ich suchen, das Vertrauen meiner Untertanen zu erwerben, um alle ihre Umstände zu erfahren und als wahrer Vater und Vormünder ihre Angelegenheiten besorgen zu können. Guter Rat, freundliche Ermahnung, auf Besserung, nicht auf Unterdrückung abzielende Strafen sollen die Hilfsmittel dazu sein; und mein Herz müßte sich in seiner liebreichen Hoffnung sehr traurig betrogen finden; wenn die sorgfältige Ausübung der Pflichten des Herrn auf meiner, und eine gleiche Bemühung des Pfarrers und der Beamten auf ihrer Seite, nebst dem Beispiel der Güte und Wohltätigkeit, nicht einen heilsamen Einfluß auf die Gemüter meiner Untergebenen hätte.«

Hier hörte er auf und bat mich um Vergebung, so viel und so lange geredt zu haben.

»Sie müssen müde worden sein, teure Sophie«, sagte er, indem er einen seiner Arme um mich schlang.

Was blieb mir in der vollen Regung meines Herzens übrig zu tun, als ihn mit Freudentränen zu umarmen? –

»Müde, mein liebster Gemahl? Wie könnte ich müde werden über die glückliche Aussicht in meine künftigen Tage, die von Ihrer Tugend und Menschenliebe bezeichnet sein werden?« –

Geliebte Frau Mutter, wie gesegnet ist mein Los? Gott erhalte Sie noch lange, um ein Zeuge davon zu sein. –


Niemand war glücklicher als Sternheim und seine Gemahlin, deren Fußstapfen von ihren Untertanen verehrt wurden. Gerechtigkeit und Wohltätigkeit wurde in dem kleinen Umkreis[35] ihrer Herrschaft in gleichem Maße ausgeübt. Alle Proben von Landbau-Verbesserung wurden auf herrschaftlichen Gütern zuerst gemacht; alsdann den Untertanen gelehrt, und dem Armen, der sich am ersten willig zur Veränderung zeigte, der nötige Aufwand umsonst dazu gereicht; – weil Herr von Sternheim wohl einsah, daß der Landmann auch das Nützlichste, wenn es Geldauslagen und die Missung eines Stücks Erdreichs erforderte, ohne solche Aufmunterungen niemals eingehen werde. Aber was ich ihnen anfangs gebe, sagte er, trägt mir mit der Zeit der vermehrte Zehnte ein, und die guten Leute werden durch die Erfahrung am besten überzeugt, daß es wohl mit ihnen gemeint war.

Ich kann nicht umhin (ungeachtet es mich von dem Hauptgegenstand meiner Erzählung noch weiter entfernt), Ihnen zu einer Probe der gemeinnützlichen und wohltätigen Veranstaltungen, in deren Erfindung und Ausführung dieses vortreffliche Paar einen Teil seiner Glückseligkeit setzte, einige Nachricht von dem Armenhause zu S** zu geben, welches nach meinem Begriff ein Muster guter Einrichtung ist; und ich kann es nicht besser tun, als indem ich Ihnen einen Auszug eines Schreibens des Baron von P. an seine Frau Mutter über diesen Gegenstand mitteile.


Wie getreu erfüllt mein Freund das Versprechen, welches ich Ihnen für das Glück unsrer Sophie gemacht habe! – Wie angenehm ist der Eintritt in dieses Haus, worin die edelste Einfalt und ungezwungenste Ordnung der ganzen Einrichtung ein Ansehn der Größe geben! Die Bedienten mit freudiger Ehrerbietung und Emsigkeit auf Ausübung ihrer Pflichten bedacht! – Der Herr und die Frau mit dem Ausdruck der Glückseligkeit, die aus Güte und Klugheit entspringt; beide mich für meine entschlossene Verwendung für ihr Bündnis segnend! Und wie sehr unterscheiden sich die zwei kleinen Dörfer meines Bruders von allen größern und volkreichern, die ich bei meiner zurückreise von Hofe gesehen habe! Beide gleichen durch die muntere und emsige Arbeitsamkeit ihrer Einwohner zween wohlangelegten Bienenstöcken; und Sternheim ist reichlich für die Mühe belohnt, die er sich gegeben, eine schicklichere Einteilung der[36] Güter zu machen, durch welche jeder von den Untertanen just so viel bekommen hat, als er Kräfte und Vermögen haue anzubauen. Aber die Verwendung des neu erkauften Hofguts von dem Grafen A., welches gerade zwischen den zweien Dörfern liegt, dies wird ein segensvoller Gedanke in der Ausführung sein!

Es ist zu einem Armenhause für seine Untertanen zugerichtet worden. Auf einer Seite, unten, die Wohnung für einen wackern Schulmeister, der zu alt geworden, dem Unterricht der Kinder noch nützlich vorzustehen, und nun zum Oberaufseher über Ordnung und Arbeit bestellt wird; oben die Wohnung des Arztes, welcher für die Kranken des Armenhauses und der beiden Dörfer sorgen muß. Arbeiten sollen alle nach Kräften, zur Sommerszeit in einer nahe daran angelegten Sämerei und einem dazu gehörigen Gemüsgarten. Beider Ertrag ist für die Armen bestimmt. An Regen- und Wintertagen sollen die Weibsleute Flachs und die dazu taugliche Männer Wolle spinnen, welche auch für ihr und anderer Notleidenden Leinen und Kleidung verwandt wird. Sie bekommen gut gekochtes gesundes Essen. Der Hausmeister betet morgens und abends mit ihnen. Die Weibspersonen arbeiten in einer und die Mannspersonen in der andern Stube, welche beide durch einen Ofen erwärmt wer den. In der von den Weiblseuten ißt man; denn weil diese den Tisch decken und für die Näharbeit und die Wäsche sorgen müssen, so ist ihre Stube größer. Diejenige arme Witwe oder alte ledige Weibsperson, welche das beste Zeugnis von Fleiß und gutem Wandel in den Dörfern hatte, wird Oberaufseherin und Anordnerin, so wie es der arme Mann, der ein solches Zeugnis hat, unter den Männern ist. Zu ihrem Schlafplatz ist der obere Teil des Hauses in zween verschiedne Gänge durch eine volle Mauer geteilt, auf deren jedem fünf Zimmer sind, jedes mit zween Betten und allen Notdürftigkeiten für jedes insbesondere; auf einer Seite, gegen den Garten, die Männer; und auf der gegen das Dorf die Weiber; je zwei in einem Gemach, damit, wenn einem was zustößt, das andere Hilfe leisten oder suchen kann. Von der Mitte des Fensters an, geht eine hölzerne Schiedwand von der Decke bis auf den Boden, etliche Schuh lang über die Länge der Bettstellen,[37] so daß beide auf eine gewisse Art allein sein können, und auch, wenn eines krank wird, das andre seinen Teil gesunde Luft besser erhalten kann. Auf diese zween Gänge führen zwo verschiedne Stiegen, damit keine Unordnung entstehen möge.

Unter dem guten Hausmeister stehen auch die Knechte, die den Bau des Feldguts besorgen müssen; und da ihnen ein besserer Lohn als sonstwo bestimmt ist, so nimmt man auch die besten und des Feldbaues verständigsten Arbeiter, wobei zugleich auf solche, die einen guten Ruf haben, vorzüglich gesehen wird.

Fremden Armen soll ein mäßiges Almosen abgereicht und dabei Arbeit angeboten werden, wofür sie Taglohn bekommen und eine Stunde früher aufhören dürfen, um das nächste fremde Dorf, so fünfviertel Stunden davon liegt, noch bei Tag erreichen zu können. Sternheim hat auf seine Kosten einen schnurgeraden Weg mit Bäumen umpflanzt dahin machen lassen: so wie er auch von dem einen seiner Dörfer zum andern getan hat. Nachts müssen die bestellten Wächter der beiden Ortschaften wechselsweise bis ans Armenhaus gehen und die Stunden ausrufen. Meine Schwester will ein klein Findelhaus für arme Waisen dabei stiften, um Segen für das Kind zu sammeln, welches sie unter ihrem liebreichen wohltätigen Herzen trägt. Mein Gedanke, gnädige Mama, ist, in meiner größern und weitläuftigern Herrschaft auch eine solche Armenanstalt zu machen und womöglich mehrere Edelleute, ein gleiches zu tun, zu überreden.

Fremde und einheimische Bettler bekommen bei keinem Bauren nichts. Diese geben bloß nach Vermögen und freiem Willen nach jeder Ernte ein Almosen in das Haus, und so werden alle Armen menschlich und ohne Mißbrauch der Wohltäter versorgt. Auf Säufer, Spieler, Ruchlose und Müßiggänger ist eine Strafe teils an Fronarbeit, teils an Geld gelegt, welches zum Nutzen des Armenhauses bestimmt ist. – Künftigen Monat werden vier Manns- und fünf Weibspersonen das Haus beziehen, meine Schwester fährt alle Tage hin, um die völlige Einrichtung zu machen. In der Sonntagspredigt wird der Pfarrer über die Materie von wahrem Almosen und von würdigen Armen eine Rede halten und der ganzen Gemeinde die Stiftung[38] und die Pflichten derer, welche darin aufgenommen werden, vorlesen. Sodann ruft er die Angenommene mit ihrem Namen vor den Altar und redt ihnen insbesondere zu über die rechte Anwendung dieser Wohltat und ihr Verhalten in den letzten Tagen ihres Lebens gegen Gott und ihren Nächsten; dem Hausmeister, dem Arzt und der Hausmeisterin desgleichen über ihre obliegenden Pflichten. Zu diesem Vorgang werden wir alle von P. aus kommen, ich bin's gewiß.


Der benachbarte Adel ehrte und liebte den Obersten Sternheim so sehr, daß man ihn bat, auf einige Zeit junge Edelleute in sein Haus zu nehmen, welche von ihren Reisen zurückgekommen waren und nun vermählt werden sollten, um den Stamm fortzuführen. Da wollte man sie die wahre Landwirtschaft eines Edelmanns einsehen und lernen lassen. Unter diesen war der junge Graf Löbau, welcher in diesem Hause die Gelegenheit hatte, das endlich ruhig gewordene Fräulein Charlotte P. kennenzulernen und sich mit ihr zu verbinden.

Herr von Sternheim nahm die edle Beschäftigung, diesen jungen Herren richtige Begriffe von der Regierung der Untertanen zu geben, recht gerne auf sich. Seine Menschenliebe erleichterte ihm diese Mühe durch den Gedanken: vielleicht gebe ich ihnen den so nötigen Teil von Mitleiden gegen Geringe und Unglückliche, deren hartes und mühseliges Leben durch die Unbarmherzigkeit und den Stolz der Großen so oft erschwert und verbittert wird. Überzeugt, daß das Beispiel mehr würkt als weitläuftige Gespräche, nahm er seine junge Leute überall mit sich, und wie es der Anlaß erforderte, handelte er vor ihnen. Er machte ihnen die Ursachen begreiflich, warum er dieses verordnet, jenes verboten, oder diese oder jene andere Entscheidung gegeben; und je nach der Kenntnis, die er von den Gütern eines jeden hatte, fügte er kleine Anwendungen für sie selbst hinzu. Sie waren Zeugen von allen seinen Beschäftigungen und nahmen Anteil an seinen Ergötzlichkeiten; bei Gelegenheit der letztern bat er sie oft inständig, die ihrigen ja niemals auf Unkosten ihrer armen Untertanen zu suchen; wozu vornehmlich die Jagd einen großen Anlaß gebe. Er nannte sie ein anständiges Vergnügen, welches aber ein liebreicher,[39] menschlicher Herr allezeit mit dem Besten seiner Untertanen zu verbinden suche. Auch die Liebe zum Lesen war eine von den Neigungen, die er ihnen zu geben suchte, und besonders gab ihm die Geschichte Gelegenheit, von der moralischen Welt, ihren Übeln und Veränderungen zu reden, die Pflichten der Hof- und Kriegsdienste auszulegen und ihren Geist in der Überlegung und Beurteilung zu üben. Die Geschichte der moralischen Welt, sagte er, macht uns geschickt, mit den Menschen umzugehen, sie zu bessern, zu tragen und mit unserm Schicksal zufrieden zu sein; aber die Beobachtung der physikalischen Welt macht uns zu guten Geschöpfen, in Absicht auf unsern Urheber. Indem sie uns unsre Unmacht zeigt, hingegen seine Größe, Güte und Weisheit bewundern lehrt, lernen wir ihn auf eine edle Art lieben und verehren; außer dem, daß uns diese Betrachtungen sehr glücklich über mancherlei Kummer und Verdrüßlichkeiten trösten und zerstreuen, die in der moralischen Welt über dem Haupte des Großen und Reichen oft in größerer Menge gehäuft sind als in der Hütte des Bauren, den nicht viel mehr Sorgen als die für seine Nahrung drücken.

So wechselte er mit Unterredungen und Beispiel ab. In seinem Hause sahen sie, wie glücklich die Vereinigung eines rechtschaffenen Mannes mit einer tugendhaften Frau seie. Zärtliche, edle Achtung war in ihrem Bezeugen; und die Dienerschaft ehrfurchtsvoll und bereit, ihr Leben für die ebenso gnädige als ernstliche Herrschaft zu lassen.

Sternheim hatte auch die Freude, daß alle diese junge Herren erkenntliche und ergebene Freunde von ihm wurden, welche in ihrem Briefwechsel sich immer bei ihm Rats erholten. Der Umgang mit dem verehrungswürdigen Baron P., der ihnen öfters kleine Feste gab, hatte viel zu ihrer Vollkommenheit beigetragen.

Seine Gemahlin hatte ihm eine Tochter gegeben, welche sehr artig heranwuchs und von ihrem neunten Jahr an (da Sternheim das Unglück hatte, ihre Mutter in einem Wochenbette zugleich mit dem neugebornen Sohne zu verlieren) der Trost ihres Vaters und seine einzige Freude auf Erden war, nachdem auch der Baron P. durch einen Sturz vom Pferde in so schlechte Gesundheitsumstände geraten, daß er wenige Monate darauf[40] ohne Erben verstorben war. Dieser hatte in seinem Testamente nicht nur seine vortreffliche Frau wohl bedacht, sondern nach den Landsrechten die Gräfin von Löbau, seine jüngere Schwester, und die junge Sophie von Sternheim, als die Tochter der ältern Schwester, zu Haupterben eingesetzt; welches zwar dem Grafen und der Gräfin als unrecht vorkam, aber dennoch Bestand hatte.

Die alte Frau von P., von Kummer über den frühen Tod ihres Sohnes beinahe ganz niedergedrückt, nahm ihren Wohnplatz bei dem Herrn von Sternheim und diente dem jungen Fräulein zur Aufsicht. Der Oberste machte ihr durch seine ehrerbietige Liebe und sein Beispiel der geduldigsten Unterwerfung viele Erleichterung in ihrem Gemüte. Der edeldenkende Pfarrer und seine Töchter waren beinahe die einzige Gesellschaft, in welcher sie Vergnügen fanden. Gleichwohl genoß das Fräulein von Sternheim die vortrefflichste Erziehung für ihren Geist und für ihr Herz. Eine Tochter des Pfarrers, die mit ihr gleiches Alter hatte, wurde ihr zugegeben, teils einen Wetteifer im Lernen zu erregen, teils zu verhindern, daß die junge Dame nicht in ihrer ersten Jugend lauter düstre Eindrücke sammeln möchte; welches bei ihrer Großmutter und ihrem Vater leicht hätte geschehen können. Denn beide weinten oft über ihren Verlust, und dann führte Herr von Sternheim das zwölfjährige Fräulein bei der Hand zu dem Bildnis ihrer Mutter und sprach von ihrer Tugend und Güte des Herzens mit solcher Rührung, daß das junge Fräulein kniend bei ihm schluchzte und oft zu sterben wünschte, um bei ihrer Frau Mutter zu sein. Dieses machte den Obersten fürchten, daß ihre empfindungsvolle Seele einen zu starken Hang zu melancholischer Zärtlichkeit bekommen und durch eine allzusehr vermehrte Reizbarkeit der Nerven unfähig werden möchte, Schmerzen und Kummer zu ertragen. Daher suchte er sich selbst zu bemeistern und seiner Tochter zu zeigen, wie man das Unglück tragen müsse, welches die Besten am empfindlichsten rührt; und weil das Fräulein eine große Anlage von Verstand zeigte, beschäftigte er diesen mit der Philosophie nach allen ihren Teilen, mit der Geschichte und den Sprachen, von denen sie die englische zur Vollkommenheit lernte. In der Musik brachte sie es, auf der Laute und[41] im Singen, zur Vollkommenheit. Das Tanzen, soviel eine Dame davon wissen soll, war eine Kunst, welche eher von ihr eine Vollkommenheit erhielt, als daß sie dem Fräulein welche hätte geben sollen; denn nach dem Ausspruch aller Leute gab die unbeschreibliche Anmut, welche die junge Dame in allen ihren Bewegungen hatte, ihrem Tanzen einen Vorzug, den der höchste Grad der Kunst nicht erreichen konnte.

Neben diesen täglichen Übungen, erlernte sie mit ungemeiner Leichtigkeit alle Frauenzimmerarbeiten, und von ihrem sechszehnten Jahre an bekam sie auch die Führung des ganzen Hauses, wobei ihr die Tag- und Rechnungsbücher ihrer Frau Mutter zum Muster gegeben wurden. Angeborne Liebe zur Ordnung und zum tätigen Leben, erhöht durch eine enthusiastische Anhänglichkeit für das Andenken ihrer Mutter, deren Bild sie in sich erneuern wollte, brachten sie auch in diesem Stücke zu der äußersten Vollkommenheit. Wenn man ihr von ihrem Fleiß und von ihren Kenntnissen sprach, war ihre bescheidene Antwort: willige Fähigkeiten, gute Beispiele und liebreiche Anführungen haben mich so gut gemacht, als tausend andre auch sein könnten, wenn sich alle Umstände so zu ihrem Besten vereinigt hätten wie bei mir. –

Übrigens war zu allem, was Engländisch hieß, ein vorzüglicher Hang in ihrer Seele, und ihr einziger Wunsch war, daß ihr Herr Vater einmal eine Reise dahin machen und sie den Verwandten ihrer Großmutter zeigen möchte.

So blühte das Fräulein von Sternheim bis nach ihrem neunzehnten Jahre fort, da sie das Unglück hatte, ihren würdigen Vater an einer auszehrenden Krankheit zu verlieren, der mit kummervollem Herzen seine Tochter dem Grafen Löbau und dem vortrefflichen Pfarrer in S. als Vormündern empfahl. An den letztern hat er einige Wochen vor seinem Tode folgenden Brief geschrieben.


Herr von St. an den Pfarrer zu S**

Bald werde ich mit der besten Hälfte meines Lebens wieder vereinigt werden. Mein Haus und die Glücksumstände meiner[42] Sophie sind bestellt; dies war das Letzte und Geringste, was mir für sie zu tun übrig geblieben ist. Ihre gute und gesegnete Erziehung, als die erste und wichtigste Pflicht eines treuen Vaters, habe ich nach dem Zeugnis meines Herzens niemals verabsäumt. Ihre mit der Liebe zur Tugend geborne Seele läßt mich auch nicht befürchten, daß Sie, in meine Stelle eintretender väterlicher Freund, den Sorgen und Verdrüßlichkeiten ausgesetzt sein werden, welche gemeindenkende Mädchen in ihren Familien machen. Besonders wird die Liebe, bei aller der Zärtlichkeit, die sie von ihrer würdigen Mutter geerbt hat, wenig Gewalt über sie erhalten; es müßte denn sein, daß das Schicksal einen nach ihrer Phantasie tugendhaften Mann1 in die Gegend ihres Aufenthalts führte. Was ich Sie, mein teurer Freund, zu besorgen bitte, ist, daß das edeldenkende Herz des besten Mädchens durch keine Scheintugend hingerissen werde. Sie faßt das Gute an ihrem Nebenmenschen mit so vielem Eifer auf und schlüpft dann über die Mängel mit so vieler Nachsicht hinweg, daß ich nur darüber mit Schmerzen auf sie sehe. Unglücklich wird keine menschliche Seele durch sie gemacht werden; denn ich weiß, daß sie dem Wohl ihres Nächsten tausendmal das ihrige aufopfern würde, ehe sie nur ein minutenlanges Übel auf andre legte, wenn sie auch das Glück ihres ganzen eignen Lebens damit erkaufen könnte. Aber da sie lauter Empfindung ist, so haben viele, viele die elende Macht, sie zu kränken. Ich habe bis itzt meine Furcht vor dem Gemütscharakter der Gräfin Löbau geheimgehalten; aber der Gedanke, meine Sophie bei ihr zu wissen, macht mich schaudern; die äußerliche Sanftmut und Güte dieser Frau sind nicht in ihrem Herzen: der bezaubernd angenehme Witz, der feine gefällige Ton, den ihr der Hof gegeben, verbergen viele moralische Fehler. Ich wollte meiner Tochter niemals Mißtrauen in diese Dame beibringen, weil ich es für unedel und auch, solang ich meiner Gesundheit genoß, für unnötig hielt. Aber wenn meine teure Frau Schwiegermutter[43] auch unter der Last von Alter und Kummer erliegen sollte so nehmen Sie meine Sophie in Ihren Schutz! Gott wird Ihnen diese Sorge erleichtern helfen, indem ich hoffe, daß er das letzte Gebet eines Vaters erhören wird, der für sein Kind nicht Reichtum, nicht Größe, sondern Tugend und Weisheit erbittet. Vorsehen und verhindern kann ich nichts mehr. Also übergebe ich sie der göttlichen Güte und der treuen Hand eines versuchten Freundes. – Doch trenne ich mich leichter von der ganzen Erde als von dem Gedanken an meine Tochter. Ich erinnere mich hier an eine Unterredung zwischen uns, von der Stärke der Eindrücke, die wir in unsrer Jugend bekommen. Ich empfinde würklich ein Stück davon mit aller der Macht, die die Umstände dazu beitragen. Mein Vater hatte mir zwo Sachen sehr eingeprägt, nämlich die Gewißheit des Wiedervergeltungsrechts und den Lehrsatz der Wohltätigkeit unsers Beispiels. Die Gründe, welche er dazu anführte, waren so edel, sein Unterricht so liebreich, daß es notwendigerweise in meiner empfindlichen Seele haften mußte. Von dem ersten bin ich seit langer Zeit wieder eingenommen, weil er mir oft sagte, daß der Kummer oder das Vergnügen, die ich ihm geben würde, durch meine Kinder an mir würde gerächt oder belohnt werden; Gott sei Dank, daß ich durch meine Aufführung gegen meinen ehrwürdigen Vater den Segen verdient habe, ein gehorsames, tugendvolles Kind zu besitzen, welches mich an dem Ende meines Lebens das Glück der Erinnerung genießen läßt, daß ich die letzten Tage meines Vaters mit dem vollkommensten Vergnügen gekrönt habe, das ein treues väterliches Herz empfinden kann, nämlich zu sagen – »Du hast mich durch keine böse Neigung, durch keinen Ungehorsam jemals gekränkt, deine Liebe zur Tugend, dein Fleiß, deinen Verstand zu üben und nützlich zu machen, haben mein Herz, so oft ich dich ansah, mit Freude erfüllt. Gott segne dich dafür; und belohne dein Herz für die Erquickung, die dein Anblick deinem sterbenden Vater durch die Versicherung gibt, daß ich meinen Nebenmenschen an meinem Sohn einen rechtschaffnen Mitbürger zurücklasse.« Dieses Vergnügen, mein Freund, fühle ich itzt auch, indem ich meiner Tochter das nämliche Zeugnis geben kann, in der ich noch eine traurige Glückseligkeit mehr genossen habe. Ich sage, traurige[44] Glückseligkeit, weil sie als das wahre Bild meiner seligen Gemahlin das Andenken meiner höchstglücklichen Tage und den Schmerz ihres Verlusts bei jedem Anblick in mir erneuerte. Wie oft riß mich der Jammer von dem Tisch oder aus der Gesellschaft fort, wenn ich in den zwei letzten Jahren (da sie den ganzen Wuchs ihrer Mutter hatte und Kleider nach meinem Willen trug) den eignen Ton der Stimme, die Gebärden, die ganze Güte und liebenswürdige Fröhlichkeit ihrer Mutter an ihr sah !

Gott gebe, daß dieses Beispiel des Wiedervergeltungsrechts von meiner Tochter bis auf ihre späteste Enkel fortgepflanzt werde; denn ich habe ihr ebensoviel davon gesprochen, als mein Vater mir!


Mit lebhafter Wehmut erinnere ich mich der letzten Stunden dieses edeln Mannes und seiner Unterredungen während den Tagen seiner zunehmenden Krankheit. Das teure Fräulein konnte wenig weinen, sie lag auf ihren Knien neben dem Bette ihres Vaters; aber der Ausdruck des tiefsten Schmerzens war in ihrem Gesicht und in ihrer Stellung. Die Augen ihres Vaters auf sie geheftet – eine Hand in den ihrigen; ein Seufzer des Vaters – »Meine Sophie!« und dann die Arme des Fräuleins gegen den Himmel ausgebreitet, ohne einen Laut – aber eine trostlose bittende Seele in allen ihren Zügen! O dieser Anblick des feierlichen Schmerzens, der kindlichen Liebe, der Tugend, der Unterwerfung zerriß uns allen das Herz.

»Sophie, die Natur tut uns kein Unrecht, sechzig Jahre sind nicht zu früh. Der Tod ist kein Übel für mich; er vereinigt meinen Geist mit seinem liebreichen Schöpfer und mein Herz mit deiner würdigen Mutter ihrem! Gönne mir dieses Glück auf Unkosten des Vergnügens, das dir das längere Leben deines Vaters gegeben hatte.«

Sie überwand ihren Kummer; sie selbst war es, welche ihren Herrn Vater aufs sorgfältigste und ruhigste pflegte. Er sah diese Überwindung und bat sie, ihm in den letzten Tagen den Trost zu geben, die Frucht seiner Bemühungen für sie in der Fassung ihrer Seele zu zeigen. Sie tat alles. »Bester Vater! Sie haben mich leben gelernt, Sie lernen mich auch sterben; Gott mache[45] Sie zu meinem Schutzgeist, und zum Zeugen aller meiner Handlungen und Gedanken! Ich will Ihrer würdig sein!«

Wie er dahin war, und sein ganzes Haus voll weinender Untertanen, sein Sterbezimmer voll kniender schluchzender Hausbedienten waren, das Fräulein vor seinem Bette die kalten Hände küssend nichts sagen konnte, bald kniend, bald sich erhebend die Hände rang – O meine Freundin! wie leicht grub sich das Andenken dieses Tages in mein Herz! Wieviel Gutes kann eine empfindende Seele an dem Sterbebette des Gerechten sammeln! –

Mein Vater sah stillschweigend zu; er war selbst so stark gerührt, daß er nicht gleich reden konnte. Endlich nahm er das Fräulein bei der Hand: »Gott lasse Sie die Erbin der Tugend Ihres Herrn Vaters sein, zu deren Belohnung er nun gegangen ist! Erhalten Sie in diesen gerührten Herzen (wobei er auf uns wies) das gesegnete Andenken Ihrer verehrungswürdigen Eltern durch die Bemühung, in ihren Fußstapfen zu wandeln!«

Die alte Dame war auch da, und dieser bediente sich mein Vater zum Vorwand, das Fräulein aus dem Zimmer zu bringen, indem er sie bat, ihre Frau Großmutter zur Ruhe zu führen. Wie das Fräulein anfing zu gehen, machten wir alle Platz. Sie sah uns an, und Tränen rollten über ihre Backen; da drängten sich alle und küßten ihre Hände, ihre Kleider; und gewiß, es war nicht die Bewegung, sich der Erbin zu empfehlen, sondern eine Bezeugung der Ehrfurcht für den Überrest des besten Herrn, den wir in ihr sahen.

Mein Vater und der Beamte sorgten für die Beerdigung.

Niemals ist ein solches Leichenbegängnis gewesen. Es war vom Herrn von Sternheim befohlen, daß es nachts und ruhig sein sollte: weil er seine Sophie mit der Marter verschonen wollte, ihn beisetzen zu sehen. Aber die Kirche war Voller Leute; alle feierlich angezogen, der Chor beleuchtet, wie es die traurige Ursache erforderte; alle wollten ihren Herrn, ihren, Wohltäter noch sehen. Greise, Jünglinge weinten, segneten ihn und küßten seine Hände und Füße, das Leichentuch, den Deckel des Sarges, – und erbaten von Gott, er möchte an der Tochter alles das Gute, so ihnen der Vater bewiesen, belohnen!

Noch lange Zeit hernach war alles traurig zu S. und das[46] Fräulein so still, so ernsthaft, daß mein Vater ihrenthalben in Sorgen geriet; besonders da auch die alte Dame, welche gleich gesagt hatte, daß ihr dieser Fall das Herz gebrochen hätte, von Tag zu Tag schwächlicher wurde. Das Fräulein wartete sie mit einer Zärtlichkeit ab, welche die Dame sagen machte: »Sophie, die Sanftmut, die Güte deiner Mutter, ist ganz in deiner Seele! Du hast den Geist deines Vaters, du bist das glückseligste Geschöpf auf der Erde, weil die Vorsicht die Tugenden deiner Eltern in dir vereiniget hat! Du bist nun dir selbst überlassen und fängst den Gebrauch deiner Unabhängigkeit mit Ausübung der Wohltätigkeit an deiner Großmutter an. Denn es ist eine edlere Wohltat, das Alter zu beleben und liebreich zu besorgen, als den Armen Gold zu schenken.«

Sie empfahl sie auch dem Grafen und der Gräfin von Löbau auf das eifrigste, als sie von ihnen noch vor ihrem Ende einen Besuch erhielt. Diese beiden Personen waren dem Ansehen nach gegen das Fräulein sehr verbindlich und wollten sie sogleich mit sich nehmen; aber sie bat sich aus, ihr Trauerjahr in unserm Hause zu halten.

In dieser Zeit bildete sich die vertraute Freundschaft, welche sie in der Folge allezeit mit meiner Schwester Emilia unterhielt. Mit dieser ging sie oft in die Kirche zum Grabstein ihrer Eltern, kniete da, betete, redete von ihnen. – »Ich habe keine Verwandten mehr als diese Gebeine«, sagte sie. »Die Gräfin Löbau ist nicht meine Verwandtin; ihre Seele ist mir fremde, ganz fremde, ich liebe sie nur, weil sie die Schwester meines Oheims war.« Mein Vater suchte ihr diese Abneigung, als eine Ungerechtigkeit, zu benehmen und war überhaupt bemüht, alle Teile ihrer Erziehung mit ihr zu erneuern und besonders auch ihr Talent für die Musik zu unterhalten. Er sagte uns oft: Daß es gut und wahr wäre, daß die Tugenden alle an einer Kette gingen, und also die Bescheidenheit auch mit dabei sei. Und was würde auch aus der Fräulein von Sternheim geworden sein, wenn sie sich aller ihrer Vorzüge in der Vollkommenheit bewußt gewesen wäre, worin sie sie besaß?

Der Sternheimische Beamte, ein rechtschaffener Mann, heiratete um diese Zeit meine älteste Schwester; und sein Bruder, ein Pfarrer, der ihn besuchte, nahm meine Emilia mit sich; mit[47] dieser führte unser Fräulein einen Briefwechsel, welcher mir Gelegenheit geben wird, sie künftig öfter selbst reden zu lassen.


Aber vorher muß ich Ihnen noch das Bild meiner jungen Dame malen. Sie müssen aber keine vollkommene Schönheit erwarten. Sie war etwas über die mittlere Größe; vortrefflich gewachsen; ein länglich Gesicht voll Seele; schöne braune Augen, voll Geist und Güte, einen schönen Mund, schöne Zähne. Die Stirne hoch, und, um schön zu sein, etwas zu groß, und doch konnte man sie in ihrem Gesichte nicht anders wünschen. Es war soviel Anmut in allen ihren Zügen, soviel Edles in ihren Gebärden, daß sie, wo sie nur erschien, alle Blicke auf sich zog. Jede Kleidung ließ ihr schön, und ich hörte Mylord Seymour sagen, daß in jeder Falte eine eigne Grazie ihren Wohnplatz hätte. Die Schönheit ihrer lichtbraunen Haare, welche bis auf die Erde reichten, konnte nicht übertroffen werden. Ihre Stimme war einnehmend, ihre Ausdrücke fein, ohne gesucht zu scheinen. Kurz, ihr Geist und Charakter waren, was ihr ein unnachahmlich edles und sanftreizendes Wesen gab. Denn ob sie gleich bei ihrer Kleidung die Bescheidenheit in der Wahl der Stoffe auf das äußerste trieb, so wurde sie doch hervorgesucht, wenn die Menge von Damen noch so groß gewesen wäre.

So war sie, als sie von ihrer Tante an den Hof nach D. geführet wurde.

Unter den Zubereitungen zu dieser Reise, wozu sie mein Vater mit bereden half, muß ich nur eine anmerken. Sie hatte die Bildnisse ihres Herrn Vaters und ihrer Frau Mutter in Feuer gemalt und zu Armbändern gefaßt, welche sie niemals von den Händen ließ. Diese wollte sie umgefaßt haben, und es mußte ein Goldarbeiter kommen, mit welchem sie sich allein beredete.

Die Bildnisse kamen wieder mit Brillanten besetzt, und zween Tage vor der Abreise nahm sie meine Emilia und ging zum Grab ihrer Eltern, wo sie einen feierlichen Abschied von den geliebten Gebeinen nahm, Gelübde der Tugend erneuerte und endlich ihre Armbänder losmachte, an welchen sie die Bildnisse hatte hohl fassen lassen, so daß sie mitten ein verborgenes Schloß hatten. Dieses machte sie auf, und füllte den kleinen Raum mit Erde, die sie in der Gruft zusammenfaßte.[48]

Tränen rollten über ihre Wangen, indem sie es tat, und meine Emilia sagte: »Liebes Fräulein, was tun Sie? Warum diese Erde?« – »Meine Emilie«, antwortete sie, »ich tue nichts, als was bei dem weisesten und edelsten Volke für eine Tugend geachtet wurde; den Stand der Rechtschaffenen zu ehren; und ich glaube, es war ein empfindendes Herz, wie das meinige, welches in spätern Zeiten die Achtung der Reliquien anfing. Dieser Staub, meine Liebe, der die geheiligte Überbleibsel meiner Eltern bedeckte, ist mir schätzbarer als die ganze Welt und wird in meiner Entfernung von hier das Liebste sein, was ich besitzen kann.«

Meine Schwester kam in Sorgen darüber und sagte uns, es hätte sie eine Ahndung von Unglück befallen; sie fürchte, das Fräulein nicht mehr zu sehen. Mein Vater beruhigte uns, und dennoch wurde auch er bestürzt, da er erfuhr, das Fräulein sei in den Dörfern, die ihr gehörten, von Haus zu Haus gegangen, hätte allen Leuten liebreich zugesprochen, sie beschenkt, zu Fleiß und Rechtschaffenheit ermahnt, die Almosen für Witwen, Waisen, Alte und Kranke vermehrt, dem Schulmeister eifrig zugeredet, seine Besoldung verbessert und Preise für die Kinder ausgesetzt, meinen Schwager, den Amtmann, mit einer Tabatiere und meine Schwester mit einem Ring zum Andenken beschenkt und den ersten um wahre Güte und Gerechtigkeit für ihre Untertanen gebeten. Wir weinten alle über diese Beschreibung. Mein Vater sprach uns Mut ein, indem er sagte: Alle melancholischzärtliche Charakter hätten die Art, ihren Handlungen eine gewisse Feierlichkeit zu geben, es wäre ihm lieb, daß sie mit so starken Eindrücken des wahren Edeln und Guten in die große Welt träte, worin doch manche von diesen Empfindungen geschwächt werden dürften, also, daß durch eine unmerkliche Mischung von Leichtsinn und glänzender Munterkeit und die Vermehrung ihrer Kenntnis von menschlichen Herzen der Enthusiasmus ihrer Seele gemildert und in den gehörigen Schranken würde gehalten werden.

Meine Emilia bekam ihr Bildnis und ein artiges Kästgen worin Geld zu einer Haussteuer war. Ihren Bedienten ließ sie zurück, weil er verheiraet war und der Graf von Löbau geschrieben hatte, daß seine Leute zu ihren Diensten sein sollten.[49]

Etliche Tage hernach kam der Graf, ihr Oncle, sie abzuholen, und ich begleitete sie, wie sie sich ausgebeten hatte. Der Abschied von meinem Vater war rührend. Sie haben ihn gekannt, den ehrwürdigen Mann, Sie wissen, daß er alle Hochachtung, alle Liebe verdient. Wir reiseten erst auf das Löbauische Gut und von da mit der Gräfin nach D.; wo sich nun der fatale Zeitpunkt anfängt, worin Sie diese liebenswürdige junge Dame in Schwierigkeiten und Umstände verwickelt sehen werden, die den schönen Plan eines glücklichen Lebens, den sie sich gemacht hatte, auf einmal zerstörten, aber durch die Probe, auf welche sie ihren innerlichen Wert setzten, ihre Geschichte für die Besten unsers Geschlechts lehrreich machen. Ich glaube, daß ich am besten tun werde, wenn ich hier, anstatt die Erzählung fortzusetzen, Ihnen eine Reihe von Originalberichten oder Abschriften, welche in der Folge in die Hände meines geliebten Fräuleins gekommen sind, vorlege, aus denen Sie teils den Charakter ihres Geistes und Herzens, teils die Geschichte ihres Aufenthalts in D. weit besser als durch einen bloßen Auszug werden kennenlernen.


Fräulein von Sternheim an Emilien

Ich bin nun vier Tage hier, meine Freundin, und in Wahrheit nach allen meinen Empfindungen, in einer ganz neuen Welt. Das Geräusch von Wagen und Leuten habe ich erwartet; doch plagte es mein an die ländliche Ruhe gewöhntes Ohr die ersten Tage über gar sehr. Was mir noch beschwerlicher fiel, war, daß meine Tante den Hoffriseur rufen ließ, meinen Kopf nach der Mode zuzurichten. Sie hatte die Gütigkeit, selbst mit in mein Zimmer zu kommen, wo sie meine Haare losband und ihm sagte: »Monsieur le Beau, dieser Kopf kann Ihrer Kunst Ehre machen; wenden Sie alles an; aber haben Sie ja Sorge, daß diese schönen Haare durch kein heißes Eisen verletzt werden«.

Diese Schmeichelei meiner Tante nahm ich noch mit Vergnügen an; aber der Friseur ärgerte mich mit seinen Lobsprüchen. Es dünkte meinem Stolz, der Mensch hätte mich sorgfältig bedienen und stillschweigend bewundern sollen. Aber[50] der Schneider und die Putzmacherin waren noch unerträglicher. Fragen Sie meine Rosine über ihr albernes Geschwätz und über die etwas boshafte Anmerkung, die mir einfiel: Die Eitelkeit der Damen in D. müßte sehr heißhungrig sein, weil sie diese Leute gewöhnt hätte, ihr eine so grobe und mir sehr unschmackhafte Nahrung zu bringen. Das Lob des Schlössers, welches der schönen Montbason so viel besser gefiel als der Hofleute ihres, war von einer ganz andern Art, weil es das Gepräge einer wahren Empfindung hatte, die durch den Anblick dieser schönen Frau in ihm entstund, da er, ganz mit seiner Arbeit beschäftigt, ungefähr aufsah, als eben die Dame bei seiner Werkstatt vorbeifuhr. Aber was heißt der Beifall derer, welche ihren Nutzen von mir suchen? Und wie froh bin ich, mit keiner besondern Schönheit bezeichnet zu sein; weil ich diese Art von Ekel für allgemeinem Lob in mir fühle.

Diesen Nachmittag habe ich etliche Damen und Kavaliere gesehen, denen meine Tante ihre Ankunft hatte wissen lassen, indem sie die Unterlassung ihres eignen Besuchs mit dem Vorwand einer großen Müdigkeit von der Reise entschuldigte. Wiewohl die wahre Ursache nichts anders war, als daß die Hof und Stadtkleider noch nicht fertig sind, in welchen ich meine Erscheinung machen soll. Vielleicht stutzen Sie über das Wort Erscheinung, aber es wurde heute von einem witzigen Kopf in der Tat sehr richtig gebraucht, wiewohl er es nur auf mein Kleid und meine erste Reise in die Stadt anwandte. Sie wissen, Emilia, daß mein teurer Papa mich immer in den Kleidern meiner Mama sehen wollte, und daß ich sie auch am liebsten trug. Diese sind hier alle aus der Mode, und ich konnte nach dem Ausspruch meiner Tante (der ich dieses Stück von Herrschaft über meinen Geschmack gerne einräume) kein anderes als das von weißem Taft tragen, welches sie mir zu Ende der Trauer hatte machen lassen. Ende der Trauer, meine Emilia! O glauben Sie es nicht so wörtlich; die äußerlichen Kennzeichen davon habe ich abgelegt; aber sie hat ihren alten Sitz in dem Grunde meines Herzens behalten, und ich glaube, sie hat einen Bund mit der geheimen Beobachterin unsrer Handlungen (ich meine das Gewissen) gemacht: denn bei der Menge Stoffe und Putzsachen, die mir letzthin vorgelegt wurden, und wovon dieses[51] zur nächsten Gala, jenes auf den bevorstehenden Ball, ein anderes zur Assemblee bestimmt war, wendete sich, indem ich das eine und andere betrachtete, unter der Bewegung meiner Hände, das Bild meiner Mama an dem Armband, und indem ich, im Zurechtemachen, meine Augen darauf heftete und ihre feine Bildung mit dem simpelsten Aufsatz und Anzug gezieret sah, überfiel mich der Gedanke, wie unähnlich ich ihr in kurzer Zeit in diesem Stück sein werde! Gott verhüte, daß diese Unähnlichkeit ja niemals weiter als auf die Kleidung gehe! – die ich als ein Opfer ansehe, welches auch die Besten und Vernünftigsten der Gewohnheit, den Umständen und ihrer Verhältnis mit andern bald in diesem, bald in jenem Stücke bringen müssen. Dieser Gedanke dünkt mich ein gemeinschaftlicher Wink der Trauer und des Gewissens zu sein. Aber ich komme von meiner Erscheinung ab. Doch Sie, mein väterlicher Freund, haben verlangt, ich soll, wie es der Anlaß gebe, das, was mir begegnet und meine Gedanken dabei aufschreiben, und das will ich auch tun. Ich werde von andern wenig reden, wenn es sich nicht besonders auf mich bezieht. Alles, was ich an ihnen selbst sehe; befremdet mich nicht, weil ich die große Welt aus dem Gemälde kenne, welches mir mein Papa und meine Großmama davon gemacht haben.

Ich kam also in das Zimmer zu meiner Tante, da schon etliche Damen und Kavaliere da waren. Ich hatte mein weißes Kleid an, welches mit blauen italienischen Blumen garniert worden war; mein Kopf nach der Mode in D. gar schön geputzt. Meinen Anstand und meine Gesichtsfarbe weiß ich nicht; doch mag ich blaß ausgesehen haben; weil kurz nachdem mich die Gräfin als ihre geliebte Nichte vorgestellt hatte, ein von Natur artig gebildeter junger Mann mit einem verkehrt lebhaften Wesen sich näherte und, Brust und Achseln mit einer seltsamen Beugung gegen meine Tante, den Kopf aber seitwärts gegen mich mit einer Art Erschrockenheit gewendet, ausrief: »Meine gnädige Gräfin, ist es wirklich ihre Nièce?« – »Und warum wollen Sie meinem Zeugnis nicht glauben?« – »Der erste Anblick ihrer Gestalt, die Kleidung und der leichte Sylphidengang, haben mich auf den Gedanken gebracht, es wäre die Erscheinung eines liebenswürdigen Hausgespenstes.« –[52]

»Armer F**«, sagte eine Dame; »und Sie fürchten sich vielleicht vor Gespenstern?«

»Vor den häßlichen«, versetzte der witzige Herr, »habe ich natürlichen Abscheu, aber mit denen, welche dem Fräulein von Sternheim gleichen, getraue ich mir ganze Stunden allein hinzubringen.«

»So, und Sie brächten mit diesem schönen Einfall mein Haus in den Ruf, daß es darin spüke!«

»Das möchte ich wohl; um alle übrige Kavaliere abzuhalten, hieher zu kommen; aber dann würde ich auch den reizenden Geist zu beschwören suchen, daß er sich wegtragen ließe.« –

»Gut, Graf F**, gut, das ist artig gesagt!« wurde in dem Zimmer von allen wiederholt.

»Nun meine Nichte, würden Sie sich beschwören lassen?«

»Ich weiß sehr wenig von der Geisterwelt«, antwortete ich; »doch glaube ich, daß für jedes Gespenst eine eigne Art von Beschwörung gewählt werden müsse, und die Entsetzung, die ich dem Grafen bei meiner Erscheinung verursachte, läßt mich denken, daß ich unter dem Schutz eines mächtigern Geistes bin, als der ist, der ihn beschwören lernt.«

»Vortrefflich, vortrefflich, Graf F**. Wie weiter?« rief der Oberste von Sch***.

»Ich habe doch mehr erraten als Sie alle«, antwortete der Graf; »denn wenngleich das Fräulein kein Geist ist, so sehe ich doch, daß sie unendlich viel Geist haben müsse.«

»Das mögen Sie erraten haben, und das war vermutlich auch der Grund, warum Sie in dieses Schrecken gerieten«, sagte das Fräulein von C**, Hofdame bei der Prinzessin von W***, die bisher sehr stille gewesen war.

»Sie mißhandeln mich immer, meine ungnädige C**. Denn Sie wollen doch damit sagen, der kleine Geist hätte sich vor dem größeren zu fürchten angefangen.«

Ja, dachte ich, in diesem Scherz ist in Wahrheit viel Ernst Ich bin wirklich eine Gattung von Gespenstern, nicht nur in diesem Hause, sondern auch für die Stadt und den Hof. Jene kommen, wie ich, mit der Kenntnis der Menschen unter sie, und verwundern sich über nichts, was sie sehen und hören; machen aber, wie ich, Vergleichungen zwischen dieser Welt und der,[53] woher sie kommen, und jammern über die Sorglosigkeit, womit die Zukunft behandelt wird; die Menschen aber bemerken an ihnen, daß diese Geschöpfe, ob sie wohl ihre Form haben, dennoch ihrem innerlichen Wesen nach nicht unter sie gehören.

Das Fräulein Von C** ließ sich hierauf in eine Unterredung mit mir ein, an deren Ende sie mir viele Achtung bewies und den höflichen Wunsch äußerte, öfters in meiner Gesellschaft zu sein. Sie ist sehr liebenswürdig, etwas größer als ich, wohl gewachsen, ein großes Ansehen in ihrem Gang und der Bewegung ihres Kopfs; ein länglicht Gesicht, nach allen Teilen schön gebildet, blonde Haare und die vortrefflichste Gesichtsform; einnehmende Züge von Sanftmut: nur manchmal dünkte mich, wären ihre freimütige, ganz liebreiche Augen, zu lang und zu bedeutend auf die Augen der Mannsleute geheftet gewesen. Ihr Verstand ist liebenswürdig, und alle ihre Ausdrücke sind mit dem Merkmal des gutgesinnten Herzens bezeichnet. Sie war in der ganzen Gesellschaft die Person, die mir am besten gefiel, und ich werde mir das Anerbieten ihrer Freundschaft zunutze machen.

Endlich kam die Gräfin F***, für welche mir meine Tante viele Achtung zu haben empfohlen hatte, weil ihr Gemahl meinem Oncle in seinem Prozesse viele Dienste leisten könne. Ich tat alles, aber doch fühlte ich einen Unmut über die Vorstellung, daß die Gefälligkeit der Nichte gegen die Frau des Ministers die Gerechtsamen des Oheims sollte stützen helfen. An seinem Platze würde ich weder meine noch des Ministers Frau in diese Sache mengen, sondern eine männliche Sache mit Männern behandeln. Der Minister, den seine Frau führt, steht mir auch nicht an; doch ist alles dieses eine eingeführte Gewohnheitssache, worüber der eine nichts klagt und der andre nicht stutzig wird.

Das Fräulein C** und die Gräfin F*** blieben beim Abendessen. Die Unterredungen waren belebt, aber so verflochten, daß ich keinen Auszug machen kann. Die Frau von F*** schmeichelte mir bei allen Gelegenheiten, ich mochte reden oder vorlegen. Wenn sie im Sinn hat, sich dadurch bei mir beliebt zu machen, so verfehlt sie ihren Zweck. Denn diese Frau[54] werde ich nimmer lieben, wenn ich der Stimme meines Herzens folge; und dann glaube ich nicht, daß mich eine Pflicht verbinde, meine Abneigung gegen sie zu überwinden, wie ich bei meiner Tante getan habe; wiewohl auch diese manchmal aufwachte. Aber das Fräulein C** werde ich lieben. Sie war mit mir auf meinem Zimmer, wo wir so freundlich redeten, als kennten wir uns viele Jahre her. Sie sprach viel von ihrer Prinzessin, und wie diese mich lieben würde, indem ich ganz nach ihrem Geschmack wäre. Wie ich meine Laute und meine Stimme hören lassen mußte, gab sie mir noch mehr Versicherungen darüber, und ich erhielt überhaupt viele Lobsprüche. Der Ton und die Bezeugung der Hofleute sind in der Tat dadurch angenehm, weil die Eigenliebe eines jeden so wohl in acht genommen wird.

Meine Tante war mit mir zufrieden, wie sie sagte; denn sie hatte befürchtet, ich würde ein gar zu fremdes, gar zu ländliches Ansehen haben. Die Gräfin F*** hatte mich gelobt, aber etwas stolz und trocken gefunden. Ich war es auch. Ich kann die Versicherungen meiner Freundschaft und Hochachtung nicht entheiligen. Ich kann niemand betrügen und sie geben, wenn ich sie nicht fühle. Meine Emilia! mein Herz schlägt nicht für alle, ich werde in diesem Stocke vor der Welt immer ein Gespenst bleiben. Dies ist meine Empfindung. Kein fliegender unwilliger Gedanke. Ich war billig; ich legte keinem nichts zum Argen aus. Ich sagte zu mir: Eine Erziehung, welche falsche Ideen gibt, das Beispiel, so sie ernährt, die Verbundenheit wie andere zu leben, haben diese Personen von ihrem eignen Charakter und von der natürlichen sittlichen Bestimmung, wozu wir da sind, abgeführt: Ich betrachte sie als Leute, auf die eine Familienkränklichkeit fortgepflanzt ist; ich will liebreich mit ihnen umgehen, aber nicht vertraut, weil ich mich der Sorge, mit ihrer Seuche angesteckt zu werden, nicht enthalten kann.

So wünschen Sie mir dann eine dauerhafte Seelengesundheit, meine liebe Freundin, und lieben Sie mich. Unserm ehrwürdigen Papa alles Gute! wie wird er sich von seiner ihn so zärtlich besorgenden Emilie trennen können? Aber wie glücklich treten Sie den Kreis des ehlichen Lebens an, da Sie den treuen[55] Segen eines würdigen Vaters und alle Tugenden Ihres Geschlechts mit sich bringen! Grüßen Sie mir den auserwählten Mann, dessen Eigentum Sie mit allen diesen Schätzen werden.


Zweiter Brief

Es ist mir lieb, meine Emilia, daß Sie diesen Brief noch in dem väterlichen Hause erhalten, weil er Ihnen eine scheinbare Verwirrung meiner Ideen zeigen wird, wo unser Papa das beste Mittel, sie in Ordnung zu bringen, anzeigen kann. Ich bin bei der Prinzessin von W** und dem ganzen Adel zur Erscheinung gebracht worden und kenne nun den Hof und die große Welt durch mich selbst.

Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich beide aus der Abschilderung kenne, so mir davon gemacht worden. Lassen Sie mich dieses Gleichnis noch weiter brauchen; es war meinem Auge nichts fremde. Aber denken Sie sich eine Person voll Aufmerksamkeit und Empfindung, die schon lange mit einem großen Gemälde von reicher und weitläuftiger Komposition bekannt ist. Oft hat sie es betrachtet, und über den Plan, die Verhältnisse der Gegenstände und die Mischung der Farben nachgedacht, alles ist ihr bekannt; aber auf einmal kommt durch eine fremde Kraft das stillruhende Gemälde, mit allem, was es enthält, in Bewegung; natürlicherweise erstaunt diese Person, und ihre Empfindungen werden auf mancherlei Art gerührt. Diese erstaunte Person bin ich; die Gegenstände und Farben machen es nicht; die Bewegung, die fremde Bewegung ist's, die ich sonderbar finde.

Soll ich Ihnen sagen, wie ich hier und da aufgenommen wurde? Gut, allenthalben gut! denn für solche Begebenheiten hat der Hof eine allgemeine Sprache, die der Geistlose ebenso fertig zu reden weiß als der Allervernünftigste. Die Prinzessin, eine Dame von beinahe fünfzig Jahren, hat einen sehr feinen Geist; in ihrem Bezeugen und in ihren Ausdrücken herrscht ein Ton von Güte, dessen allgemeine Gefälligkeit mir die Überbleibsel von einer Zeit zu sein schienen, wo sie die Freundschaft aller Arten von Leuten für nötig halten mochte. Denn ich sehe schlechterdings diesen Beweggrund allein für fähig an, jene Wirkung[56] in einem edeln Herzen zu machen. Die niederträchtige Begierde, sich allen ohne Unterschied beliebt zu machen, kann ich ihr unmöglich zuschreiben. Sie unterredete sich lange mit mir und sagte viel Gutes von meinem geliebten Papa, den sie als Hauptmann und Obersten gekannt hatte. Sie nennete mich die würdige Tochter des rechtschaffenen Mannes und sagte, sie wolle mich öfters holen lassen. Sie glauben nun gewiß, meine Emilia, daß ich diese Fürstin um so mehr liebe, weil das Andenken meines Vaters von ihr geehrt wird.

Mehrere Charakter kann ich Ihnen nicht bezeichnen. Die meisten sehen einander ähnlich, insofern man sie in dem Vorzimmer der Fürstin oder bei gewöhnlichen Besuchen sieht.

Gestern wurde ich im Schreiben unterbrochen, weil Assemblee (wie sie es nennen) bei der Prinzessin angesagt wurde. Da mußte ich die Zeit, welche mein Herz der Freundschaft gewidmet hatte, vor dem Putztisch verschwenden.

Glauben Sie wohl, daß meine liebe Rosine ebenso ungeschickt ist, eine methodische Kammerjungfer zu sein, als ich es bin, meinen Damenstand durch die lange Verweilung am Putztisch und durch unschlüssige ekle Wahl meiner Kleidung und Schmucks zu beweisen? – Meine Tante sucht diesen Fehlern abzuhelfen, und ich muß alle Tage neben dem Friseur eine ihrer Jungfern um mich haben, welche beide durch ihr geziertes Wesen und die vielen Umstände, die sie machen, meine Geduld in einer mir sehr unangenehmen Übung erhalten. Doch diesmal war ich am Ende wohl zufrieden, weil ich wirklich artig gekleidet war.

Dies ist eine Freude, die Sie noch nicht an mir kannten; Sie sollen auch die Ursache dazu nicht lange suchen; ich will sie aufrichtig sagen, da sie mir bedeutend scheint. Ich war nur deswegen über meinen wohlgeratnen Putz froh, weil ich von zween Engländern gesehen wurde, deren Beifall ich mir in allem zu erlangen wünschte. Der eine war Mylord G., englischer Gesandter, und der andere Lord Seymour, sein Neffe, Gesandtschafts-Kavalier, der sich unter der Anführung seines Oheims zu dieser Art von Geschäften geschickt machen und die deutschen Höfe kennenlernen will.

Der Gesandte macht mit seiner Figur, einer edeln und geistvollen[57] Physionomie und einer gewissen Würde, die seine Höflichkeit begleitet, seinem Charakter Ehre. Ich hörte ihn auch allgemein loben.

Den jungen Lord Seymour sah ich eine halbe Stunde in Gesellschaft des Fräuleins C**, mit der ich in Unterredung war, und mit welcher er als ein zärtlicher und hochachtungsvoller Freund umgeht. Sie stellte mich ihm als ihre neue, aber liebste Freundin dar, von der sie unzertrennlich sein würde, wenn sie über ihr eigenes und mein Schicksal zu gebieten hätte. Mylord machte nichts als eine Verbeugung; aber seine Seele redete so deutlich in allen seinen Mienen, daß man zugleich seine Achtung für alles, was das Fräulein C** sagte, und auch den Beifall lesen konnte, den er ihrer Freundin gab.

Wenn ich den Auftrag bekäme, den Edelmut und die Menschenliebe, mit einem aufgeklärten Geist vereinigt, in einem Bilde vorzustellen, so nähme ich ganz allein die Person und Züge des Mylord Seymour; und alle, welche nur jemals eine Idee von diesen drei Eigenschaften hätten, würden jede ganz deutlich in seiner Bildung und in seinen Augen gezeichnet sehen. Ich übergehe den sanften männlichen Ton seiner Stimme, die gänzlich für den Ausdruck der Empfindungen seiner edeln Seele gemacht zu sein scheint; das durch etwas Melancholisches gedämpfte Feuer seiner schönen Augen, den unnachahmlich angenehmen und mit Größe vermengten Anstand aller seiner Bewegungen, und was ihn von allen Männern, deren ich, in den wenigen Wochen, die ich hier bin, eine Menge gesehen habe, unterscheidet, ist (wenn ich mich schicklich ausdrücken kann) der tugendliche Blick seiner Augen, welche die einzigen sind, die mich nicht beleidigten, und keine widrige antipathetische Bewegung in meiner Seele verursachten.

Der Wunsch des Fräuleins C*, mich immer um sich zu sehen, verursachte bei ihm die Frage: Ob ich denn nicht in D. bleiben würde? Meine Antwort war, ich glaubte nicht, weil ich nur auf die Zurückkunft meiner Tante, der Gräfin R. wartete, die mit ihrem Gemahl eine Reise nach Italien gemacht, und mit welcher ich alsdann auf ihre Güter ginge.

»Es scheint mir unmöglich«, sagte er, »daß ein lebhafter[58] Geist, wie der Ihrige, bei den immer gleichen Szenen des Landlebens sollte vergnügt sein können.«

»Und mich dünkt unglaublich, daß Mylord Seymour im Ernste denken sollte, daß ein lebhafter und sich also gern beschäftigender Geist auf dem Lande einem Mangel von Unterhaltung ausgesetzt sei.«

»Ich denke keinen gänzlichen Mangel, gnädiges Fräulein, aber den Ekel und die Ermüdung, welche notwendigerweise erfolgen müssen, wenn wir unsere Betrachtungen beständig auf einerlei Vorwurf eingeschränkt sehen.«

»Ich bekenne, Mylord, daß ich seit meinem Aufenthalt in der Stadt, bei den Vergleichungen beider Lebensarten, gefunden habe, daß man auf dem Lande die nämliche Sorge trägt, seine Beschäftigungen und Ergötzlichkeiten abzuändern, wie ich hier sehe; nur mit dem Unterschied, daß bei den Arbeiten und Belustigungen der Landleute eine Ruhe in dem Grunde der Seele bleibt, die ich hier nicht bemerkt habe; und diese Ruhe dünkt mich etwas sehr Vorzügliches zu sein.«

»Ich halte es auch dafür, und ich glaube dabei (sagte er gegen dem Fräulein von C*), nach dem entschloßnen Ton Ihrer verehrungswürdigen Freundin, daß sie diese Ruhe behalten wird, wenn auch hier Tausende durch sie in Unruh gesetzt würden.«

Da er mich nicht ansah, als er dies sagte, und das Fräulein nur lächelte, so blieb ich auch stille; denn einmal fühlte ich bei dieser Höflichkeit eine Verwirrung, die ich ungern möchte gezeigt haben; und dann wollte ich ihn nicht länger mit mir in ein Gespräche halten, sondern seiner ältern Freundin den billigen Vorzug lassen; zumal, da er sich ganz beflissen gegen sie gewendet hatte.

Sie sagen, ich höre es: warum ältere Freundin, Waren Sie denn auch schon seine Freundin, Sie, die ihn erst eine halbe Stunde gesehen hatten?

Ja, meine liebe Emilia, ich war seine Freundin, eh ich ihn sah; das Fräulein C* hatte mit mir von seinem vortrefflichen Charakter gesprochen, ehe er von einer kleinen Reise, die er mit seinem Oncle während der Abwesenheit des Fürsten machte, zurückkam, und was ich Ihnen von ihm geschrieben, war nichts anders, als daß ich alles Edle, alles Gute, so mir das[59] Fräulein von ihm erzählt, in seiner Physionomie ausgedrückt sah.

Noch mehr, Emilia, rührte mich die tiefsinnige Traurigkeit, mit welcher er sich an den Pfeiler des Fensters setzte, wo wir beide auf der kleinen Bank waren, und unsre Unterredung fortführten. Ich deutete dem Fräulein C* auf ihren Freund und sagte leise: »Geschieht dies oft?«

»Ja, dies ist Spleen.«

Sie machte mir hierauf allerlei Fragen über die Art von Zeitvertreiben, welche ich mir, im Ernst, auf dem Lande machen könnte. Ich erzählte ihr kurz, aber mit vollem Herzen, von den seligen Tagen meiner Erziehung und von denen, welche ich in dem geliebten Hause meines Pflegvaters zugebracht, und versicherte sie: daß ihre Person und Freundschaft das einzige Vergnügen sei, welches ich in D. genossen hätte. Sie drückte mir zärtlich die Hand und bezeugte mir ihre Zufriedenheit. Ich fuhr fort und sagte, ich könnte das Wort Zeitvertreib nicht leiden; einmal, weil mir in meinem Leben die Zeit nicht einen Augenblick zu lang worden wäre (auf dem Lande, raunte ich ihr ins Ohr), und dann, weil es mir ein Zeichen einer unwürdigen Bewegung der Seele zu sein scheine. Unser Leben ist so kurz, wir haben so viel zu betrachten, wenn wir unsre Wohnung, die Erde, kennen, und so viel zu lernen, wenn wir alle Kräfte unsers Geistes (die uns nicht umsonst gegeben sind) gebrauchen wollen; wir können so viel Gutes tun – daß es mir einen Abscheu gibt, wenn ich von einer Sache reden höre, um welche man sich selbst zu betrügen sucht.

»Meine Liebe, Ihre Ernsthaftigkeit setzt mich in Erstaunen, und dennoch höre ich Sie mit Vergnügen. Sie sind in Wahrheit, wie die Prinzessin sagte, eine außerordentliche Person.«

Ich weiß nicht, Emilia, wie mir war. – Ich merkte wohl, daß dieser Ton meiner Gedanken gar nicht der wäre, der sich in diese Gesellschaft schickte; aber ich konnte mir nicht helfen. Es hatte mich eine Bangigkeit befallen, eine Begierde, weit weg zu sein, eine innerliche Unruh; ich hätte sogar weinen mögen, ohne eine bestimmte Ursache angeben zu können.

Mylord G. näherte sich schleichend seinem Neffen, faßte ihn beim Arm und sagte: »Seymour, Sie sind wie das Kind, das am[60] Rande des Brunnens sicher schläft. Sehen Sie um sich. (Indem er auf uns beide wies.) Bin ich nicht das Glück, das Sie erweckt?«

»Sie haben recht, mein Oncle; eine entzückende Harmonie, die ich hörte, nahm mich ein, und ich dachte an keine Gefahr dabei.« Während er dies sagte, waren seine Augen mit dem lebhaftesten Ausdruck von Zärtlichkeit auf mich gewendet, so daß ich die meine niederschlug und den Kopf wegkehrte. Darauf sagte Mylord auf englisch: »Seymour, nimm dich in acht, diese Netze sind nicht vergeblich so schön und so ausgebreitet.« Ich sah seine Hand, die auf meinen Kopf und meine Locken wies; da wurde ich über und über rot. Die Koketterie, die er mir zuschrieb, ärgerte mich, und ich empfand auch den Unmut, den er haben mußte, wenn er hörte, daß ich Englisch verstünde. Ich war verlegen; doch um ihm und mir mehrere Verwirrung zu ersparen, sagte ich ganz kurz: »Mylord, ich verstehe die englische Sprache.« Er stutzte ein wenig, lobte meine Freimütigkeit, und Seymour entfärbte sich; doch lächelte er dabei und wandte sich gleich zum Fräulein C*. – »Wollen Sie nicht auch Englisch lernen?«

»Von wem?«

»Von mir, gnädiges Fräulein, und von dem Fräulein von Sternheim; mein Oncle hälfe auch Lektionen geben, und Sie sollten bald reden können.«

»Niemals so gut als meine Freundin, der es angeboren ist, denn sie ist eine halbe Engländerin.« –

»Wie das?« sagte Mylord G., indem er sich zu mir wandte.

»Meine Großmutter war eine Watson und Gemahlin des Baron P., welcher mit der Gesandtschaft in England war.«

Das Fräulein C* bat, er möchte Englisch mit mir reden. Er tat es, und ich antwortete so, daß er meine Aussprache lobte und dem Fräulein C* sagte, sie sollte von mir lernen, ich spräche sehr gut. Wie er sich entfernte, so lag Mylord Seymour dem Fräulein an, sie möchte sich doch die Mühe nehmen, nur lesen zu lernen; sie versprach's und sagte dabei, alle Tage, wo sie den Hofdienst nicht ganz hatte, wollte sie zu mir kommen.

»Dann habe aber ich kein Verdienst dabei«, sagte er traurig.[61]

»Sie sollen alle Wochen einmal zuhören, wieviel ich gelernt habe.«

Er antwortete mit einer bloßen Verbeugung.

Die Fürstin ließ mich rufen. Ich mußte ihr in ihr Kabinett folgen. »Da haben Sie meine Laute, liebe Sternheim,« sagte sie, »alles spielt; lassen Sie mich allein Ihre Stimme und Geschicklichkeit hören.« Was konnte ich tun? Ich spielte und sang das erste Stück, das mir in die Finger kam. Sie umarmte mich; »liebenswürdiges Mädchen«, sagte sie, »wie beschämen Sie alle bei Hof erzogene Damen durch die vielen Talente, die Sie auf dem Lande gesammelt haben!« – Sie führte mich an der Hand zurück in den Saal; ich mußte bis zu Ende der Assemblee bei ihr bleiben, und sie sprach von hundert Sachen mit mir. Mylord Seymour sah mich oft an, und, meine Emilia (lesen Sie dies meinem lieben Pflegevater vor!), seine Achtsamkeit freute mich. Manche Augen gafften nach mir, aber sie waren mir zur Last, weil mich immer dünkte, es wäre ein Ausdruck darin, welcher meine Grundsätze beleidigte.

Heute machten wir einen Besuch bei der Gräfin F., gegen die ich mich bemühte gefällig zu sein. Man sieht wohl, daß ihr Gemahl ein Liebling des Fürsten ist; denn sie sprach beinahe von nichts als von Gnadenbezeugungen, welche sie genössen, machte auch viel Aufhebens von der Ergebenheit ihres Gemahls gegen einen Herrn, der alles würdig wäre. Diesem folgten große Lobeserhebungen des Prinzen; sie rühmte die Schönheit seiner Person, allerhand Geschicklichkeiten, seinen guten Geschmack in allem, besonders in Festins, seine prächtige Freigebigkeit, worin er eine fürstliche Seele zeigte. (Ich dachte, die Dame möge freilich Ursache haben, diese letzte Eigenschaft so sehr anzupreisen.) Von seiner Neigung gegen das schöne Geschlecht sagte sie: »Wir sind Menschen; es sind freilich darin Ausschweifungen geschehen; aber das Unglück war nur, daß der Herr noch keinen Gegenstand gefunden hat, der seinen Geist ebensosehr als seine Augen gefesselt hätte; denn gewiß, eine solche Person würde Wunder für das Land und für den Ruhm des Herrn gewürkt haben.«

Meine Tante stimmte mit ein. Ich saß stille und fand in diesem Bilde eines Landesherrn keinen einzigen Zug von demjenigen,[62] welches die Anmerkungen meines Vaters über den wahren Fürsten, bei Durchlesung der Historie, in meinem Gedächtnis gelassen hatten. Zumal, wenn ich es noch dabei nach den Grundzügen des deutschen National-Charakters beurteilte. – Ich war froh, daß man meine Gedanken nicht zu wissen verlangte; denn da mich die Gräfin in ihr Zimmer führte, um mir sein Bildnis in Lebensgröße zu weisen, konnte ich wohl sagen, daß die Figur schön sei, wie sie es denn wirklich ist. Ich soll auch gemalt werden, will meine Tante. Ich kann es leiden; und schicke dann meiner Emilia eine Kopie; ich weiß, daß sie mir dafür dankt. Ich bitte mir die Gedanken meines Pflegvaters über diesen Brief aus.


Dritter Brief

Alles, was Sie in meinem letztern Briefe gesehen haben, ist, daß Mylord Seymour seine beste Freundin in mir gefunden hat; und mein lieber Pflegvater betet für mich, weil es für menschliche Kräfte das einzige ist, das man nun für mich tun kann.

Emilia, Sie lieben mich; Sie kennen mich, und Sie dachten nicht an den Kummer, den mir dieser so viel bedeutende Gedanke Ihres Vaters geben konnte?

Ich erkenne alles; die lebhafte Hochachtung, welche ich für die Verdienste, für die Vorzüge des Charakters vom Mylord Seymour gezeigt habe, machen Sie besorgt für mich. Sein Sie ruhig, werte Freunde! Aller Anteil, den ich je an Mylord Seymour nehmen kann, ist der, den mir meine Liebe für das Fräulein C* gibt; denn diese ist's, die er liebt; diese ist's, die er glücklich machen wird. Der Teil, den ich davon genieße, ist allein die Freude, die ein edles Herz in der Zufriedenheit seiner Freunde und in der Betrachtung der guten Eigenschaften seiner Nebenmenschen findet.

Noch eins, meine Emilia, ist für mich dabei: Weil ich von der Wirklichkeit eines vollkommenen edlen, gütigen und weisen liebenswürdigen Mannes überzeugt bin, so wird der Niederträchtige oder der bloße Witzling und der nur allein artige Mann niemals, niemals keine Gewalt über mein Herz erhalten;[63] und dies ist viel Vorteil, den ich von der Bekanntschaft des Mylords habe.

Ich bedaure, daß die Krankheit des rechten Arms Ihres Papa ihm nicht zuläßt, selbst an mich zu schreiben; nicht weil ich mit Ihren Briefen unzufrieden bin, sondern weil er mir mehr von seinen eignen Gedanken über mich sagen würde als Sie. Ich hoffe, der Zufall verliert sich, und dann bitte ich ihn, es zu tun.

Gestern waren wir bei einer großen Mittagstafel bei Mylord G. Der Graf F. kam nachmittags dazu, und noch abends spät reiseten alle zum Fürsten. Der Graf ist ein angenehmer Mann von vielem Verstand. Seine Gemahlin führte ihn zu mir; »da reden Sie selbst mit meinem Liebling«, sprach sie, »und sagen: ob ich unrecht habe, mir eine solche Tochter zu wünschen?« Er sagte mir sehr viel Höfliches; beobachtete mich aber dabei mit einer Aufmerksamkeit, die mich sonderbar dünkte und mich beinahe aus aller Fassung brachte.

Mylord Seymour hatte an der Tafel seinen Platz zwischen dem Fräulein C* und mir bekommen, sich meistens nur mit uns unterhalten, auch beim Kaffee uns beide mit der liebenswürdigsten Galanterie bedient, englische Verse auf Karten geschrieben und mich gebeten, sie dem Fräulein zu übersetzen. Wie die Gräfin F. ihren Gemahl zu ihr führte, entfernten sich beide in etwas und redeten lang an einem andern Fenster. Der Graf begab sich von mir zu Mylord G. und nahm im Weggehen Mylord Seymour am Arm mit sich zu dem ersten hin. Das Fräulein C* und ich gingen, die mit Gemälden und Kupferstichen ausgezierten Zimmer zu besehen, bis man uns zum Spielen holte. In der Zwischenzeit redeten Graf F. und Mylord G. mit mir von meinem Vater, welchen F. sehr wohl gekannt hatte, und von meiner Großmutter Watson, die er gleich bei ihrer Ankunft gesehen hatte und von welcher er behauptete, daß ich viele Ähnlichkeiten mit ihr hätte. Mylord S. war neben dem Fräulein C*, sah ernsthaft und nachdenklich aus, und es schien mir, als ob seine Augen einigemal mit einer Art von Schmerzen auf mich und die beiden Herren geheftet wären. Das Getrippel vieler Leute, das man auf einmal in der Straße hörete, machte alles an die Fenster laufen. Ich ging an das, wo[64] Mylord Seymour und das Fräulein C* stunden. Es waren Leute, die von einer kleinen, aber sehr artig angestellten Spazierfahrt des Fürsten auf dem Wasser zurücke kamen, welche zu sehen sie haufenweise gegangen waren. Da ich sehr viele in armseliger Gestalt und Kleidung und uns hingegen in möglichster Pracht und die Menge Goldes auf den Spieltischen zerstreut sah, das Fräulein C* aber von einem dergleichen Festin erzählte, dessen Aufwand berechnete und auch die unzählige Menge Volks anführte, die von allen Orten herzugelaufen, es zu sehen, kam ich in Bewegung und sagte: »O wie wenig bin ich für diese Ergötzlichkeiten geschaffen!«

»Warum das? wenn Sie es einmal sehen, werden Sie ganz anders denken.« (Mylord Seymour war die ganze Zeit still und kalt.) »Nein, meine liebe C*, ich werde nicht anders denken, sobald ich die Pracht des Festins, des Hofes, das auf den Spieltischen verschleuderte Gold neben einer Menge Elender, welche Hunger und Bedürfnis im abgezehrten Gesichte und in den zerrißnen Kleidern zeigen, sehen werde! Dieser Kontrast wird meine Seele mit Jammer erfüllen; ich werde mein eignes glückliches Aussehen und das von andern hassen; der Fürst und sein Hof werden mir eine Gesellschaft unmenschlicher Personen scheinen, die ein Vergnügen in dem unermeßlichen Unterschied finden, der zwischen ihnen und denenjenigen ist, die ihrem Übermut zusehen.«

»Liebes, liebes Kind; was für eine eifrige Strafpredigt halten Sie da!« sagte das Fräulein; »reden Sie nicht so stark!«

»Liebe C*, mein Herz ist aufgewallt. Die Gräfin F. machte gestern so viel Rühmens von der großen Freigebigkeit des Fürsten; und heute sehe ich so viele Unglückliche!«

Das Fräulein hielt meine Hände; »st, st.« – Mylord Seymour hatte mich mit ernstem, unverwandtem Blick betrachtet und erhob seine Hand gegen mich: »Edles, rechtschaffenes Herz!« sagte er. »Fräulein C*, lieben Sie Ihre Freundin, Sie verdient's! Aber«, setzte er hinzu, »Sie müssen den Fürsten nicht verurteilen; man unterrichtet die großen Herren sehr selten von dem wahren Zustande ihrer Untertanen.«

»Ich will es glauben«, versetzte ich; »aber Mylord, stand nicht das Volk am Ufer, wo die Schiffahrt war? Hat der Fürst[65] nicht Augen, die ihm ohne fremden Unterricht tausend Gegenstände seines Mitleidens zeigen konnten? Warum fühlte er nichts dabei?«

»Teures Fräulein; wie schön ist Ihr Eifer! Zeigen Sie ihn aber nur bei dem Fräulein C*.«

Hier rief Mylord G. seinen Neffen ab, und kurz darauf gingen wir nach Hause.

Heute spielte meine Tante eine seltsame Szene mit mir. Sie kam, sobald ich angezogen war, in mein Zimmer, wo ich schon bei meinen Büchern saß. »Ich bin eifersüchtig auf deine Bücher«, sagte sie, »du stehst früh auf und bist gleich angezogen; da könntest du zu mir kommen; du weißt, wie gern ich mich mit dir unterrede. Dein Oncle ist immer mit seinen düstern Prozeßsachen geplagt; ich arme Frau muß schon wieder an ein Wochenbette denken, und du unfreundliches Mädchen bringst den ganzen Morgen mit deinen trocknen Moralisten hin. Schenke mir die Stunde, und gib mir deine ernsthaften Herren zum Unterpfand.«

»Meine Tante, ich will gerne zu Ihnen kommen; aber meine besten Freunde kann ich nicht von mir entfernt wissen.«

»Komme immer mit, wir wollen in meinem Zimmer zanken.«

Sie setzte sich an ihren Putztisch; da hatte ich auf eine Viertelstunde Unterhalt mit ihren beiden artigen Knaben, die um diese Tagszeit die Erlaubnis haben, ihre Mama zu sehen. Aber sobald sie fort waren, so blieb ich recht einfältig da sitzen, sah der außerordentlichen Mühe zu, die sie sich um ihren Putz gab, und hörte Hoferzählungen an, die mir mißfielen; Ehrgeiz, und Liebes-Intrigen, Tadel, Satyren, aufgetürmte Ideen zu dem Glücksbau meines Oncles. »Sei doch recht gefällig gegen die Gräfin F.«, setzte sie hinzu; »du kannst deinem Oncle große Dienste tun und selbst ein ahnsehnliches Glück machen.«

»Dies sehe und wünsche ich nicht, meine Tante; aber was ich für Sie tun kann, soll geschehen.«

»Liebste Sophie, du bist eines der reizendsten Mädchen; aber der alte Pfarrer hat dir eine Menge pedantische Ideen gegeben, die mich plagen. Laß dich ein wenig davon zurückbringen.«[66]

»Ich bin überzeugt, meine Frau Tante, daß das Hofleben für meinen Charakter nicht taugt; mein Geschmack, meine Neigungen gehen in allem davon ab; und ich bekenne Ihnen, gnädige Tante, daß ich froher abreisen werde, als ich hergekommen bin.«

»Du kennest ja den Hof noch nicht; wenn der Fürst kömmt, dann lebt alles auf. Dann will ich dein Urteil hören! und mache dich nur gefaßt; du kömmst vor künftigem Frühjahr nicht aufs Land.«

»O ja, meine gnädige Tante, auf den Herbst gehe ich zur Gräfin R., sobald sie zurückgekommen sein wird.«

»Und mein Wochenbette soll ich allein ohne dich halten müssen?«

Sie sah mich zärtlich an, indem sie dies sagte, und reichte mir die Hand. Ich küßte ihre Hand, versicherte sie, bei ihr zu bleiben, wenn diese Zeit käme.

Vor der Tafel ging ich in mein Zimmer. Da fand ich mein Büchergestelle leer: »Was ist dies, Rosine?« Der Graf, sagte sie, wäre gekommen, und hätte alles wegnehmen lassen. Es wäre ein Spaß von der Gräfin, hätte er gesagt.

Ein unartiger Spaß, der sie nichts nützen wird! denn ich will desto mehr schreiben; neue Bücher will ich nicht kaufen, um sie nicht über meinen Eigensinn böse zu machen. O wenn nur meine Tante R. bald käme! Zu dieser, Emilia, zu dieser geh ich mit Vergnügen. Sie ist zärtlich, ruhig, sucht und findet in den Schönheiten der Natur, in den Wissenschaften und in guten Handlungen das Maß von Zufriedenheit, das man hier sucht, wo man es nicht Endet, und darüber das Leben vertändelt.

Mein Fräulein C* hat Lektion im Englischen angenommen; ich denke, sie wird es bald lernen. Sie weiß schon viele, lauter zärtliche Redensarten, an denen ich den Lehrmeister erkenne. Sie hat mit uns gespeist. Ich klagte meine Tante, über ihren Bücherraub, im Scherz an. Das Fräulein stund ihr bei: »Das ist gut ausgedacht«, sagte sie, »wir wollen sehen, was der Geist unsrer Sternheim macht, wenn sie ohne Führer, ohne Ausleger, mit uns lebt.« Ich lachte mit und sagte: »Ich verlasse mich auf den rechtschaffenen Gelehrten, der einmal sagte: Die Empfindungen[67] der Frauenzimmer wären oft richtiger, als die Gedanken der Männer.«2 – Darauf erhielt ich die Erlaubnis zu arbeiten. Ich sagte, es wäre mir unmöglich, am Putztisch immer zuzusehen, nachmittags allezeit zu spielen oder müßig zu sein; und es wurde eine schöne Tapetenarbeit angefangen, woran ich sehr fleißig zu sein gedenke.

Morgen kommt der Fürst und der ganze Hof mit ihm; diesen Abend sind die fremden Ministers angekommen. Mylord G. besuchte uns noch spät und brachte Mylord Seymour nebst einem andern Engländer, Lord Derby genannt, mit, den er als einen Vetter vorstellte, der durch ihn und Lord Seymour ein großes Verlangen bekommen, mich zu sehen, besonders weil ich eine halbe Landsmännin von ihm wäre. Lord Derby redete mich sogleich auf englisch an. Er ist ein feiner Mann von ungemein vielem Geist und angenehmen Wesen. Man bat diese Herren zum Abendessen; es wurde freudig angenommen, und meine Tante schlug vor, im Garten zu speisen, weil Mondschein sein würde und der Abend schön sei.

Gleich war der kleine Saal erleuchtet, und meine Tante fing bei der Türe, da sie mit Mylord G. hinausging, ganz zärtlich an: »Sophie, meine Liebe, deine Laute bei Mondschein wäre recht vielen Dank wert.«

Ich befahl, sie zu holen! Lord Derby gab mir die Hand, Seymour war schon mit dem Fräulein C* voraus. Der kleine Saal war am Ende des Gartens, unmittelbar am Flusse, so daß man lange zu gehen hatte. Lord Derby unterhielt mich mit einem ehrerbietigen Ton von lauter schmeichelhaften Sachen, die er von mir gehört hätte. Mein Oncle kam zu uns, und wie wir kaum etliche Schritte über den halben Weg waren, stieß er mich mit dem Arme und sagte: »Seht, seht, wie der trockne Seymour bei Mondschein so zärtlich die Hände küssen kann!« Ich sah auf; und, liebe Emilia, es dünkte mich, ich fühlte einen Schauer. Es mag von der kühlen Abendluft gekommen sein; weil wir dem Wasser ganz nahe waren. Aber da mich ein Zweifel darüber ankam, als ob dieser Schauer zweideutig wäre,[68] weil ich ihn nur in diesem Augenblick empfand, so mußten Sie es wissen.

Der junge Graf F., Neveu des Ministers, kam auch noch, und da er den Bedienten, der die Laute trug, angetroffen und gefragt hatte, für wen? nahm er sie und klimperte vor dem Saal, bis mein Oncle hinaussah und ihn einführte. Ich mußte gleich noch vor dem Essen spielen und singen. Ich war nicht munter und sang mehr aus Instinkt als Wahl ein Lied, in welchem Sehnsucht nach ländlicher Freiheit und Ruhe ausgedrückt war. Ich empfand selbst, daß mein Ton zu gerührt war; meine Tante rief auch: »Kind, du machst uns alle traurig; warum willst du uns zeigen, daß du uns so gerne verlassen möchtest? Singe was anders.« Ich gehorchte still und nahm eine Gärtnerarie aus einer Opera, welche mit vielem Beifall aufgenommen wurde Mylord G. fragte: ob ich nicht englisch singen könnte? ich sagte, nein; aber wenn ich was hörte, so fiele mir's nicht schwer. Derby sang gleich, seine Stimme ist schön, aber zu rasch. Ich akkompagnierte ihm, sang auch mit. Daraus machte man viel Lobens von meinem musikalischen Ohr.

Die Gräfin F. sagte mir Zärtlichkeiten; Lord Seymour nichts; er ging oft in den Garten allein und kam mit Zügen einer gewaltsamen Bewegung in der Seele zurück, redete aber nur mit Fräulein C*, die auch gedankenvoll aussah. G. sah mich bedeutend an, doch war Vergnügen in seinem Gesichte; Lord Derby hatte ein feuriges Falkenauge, in welchem Unruhe war, auf mich gerichtet. Mein Oncle und meine Tante liebkosten mir. Um eilf Uhr gingen wir schlafen, und ich schrieb noch diesen Brief. Gute Nacht, teure Emilia! Bitten Sie unsern ehrwürdigen Vater, daß er für mich bete! Ich finde Trost und Freude in diesem Gedanken.


*


Ich wünsche, daß meine Tante immer kleine Reisen machte, ich würde sie mit viel mehr Vergnügen begleiten, als ich es unter dem immerwährenden Kreislauf unserer Hof- und Stadtvisiten tun kann. Mein Oncle hat eine Halbschwester in dem Damenstift zu G., die er wegen einem reichen Erbe, so ihr zugefallen ist, zum Besten seiner Kinder zu gewinnen sucht.[69]

Und aus dieser Ursache mußte meine Tante mit ihren beiden Söhnen die Reise zu ihr machen. Sie nahm mich mit und verschaffte mir dadurch einen Teil des Vergnügens, für welches ich am empfindlichsten bin, abwechselnde Szenen der Natur und Kunst in ihren mannigfaltigen Abänderungen zu betrachten. Wäre es auch nichts als der Anblick der auf- und niedergehenden Sonne gewesen, so würde ich diese Ausflucht von D. geliebt haben; aber ich sah mehr. Der Weg, den wir zurückzulegen hatten, zeigte mir ein großes Stück unsers deutschen Bodens und darin manchmal ein rauhes stiefmütterliches Land; welches von seinen leidenden geduldigen Einwohnern mit abgezehrten Händen angebaut wurde.

Zärtliches Mitleiden, Wünsche und Segen erfüllten mein Herz, als ich ihren sauren Fleiß und die traurigen, doch gelaßnen Blicke sah, mit welchen sie den Zug unsrer zwoen Chaisen betrachteten. Die Ehrerbietung, mit der sie uns als Günstlinge der Vorsicht grüßten, hatte etwas sehr Rührendes vor mich; und ich suchte durch Gegenzeichen meiner menschlichen Verbrüderung mit ihnen, und auch durch einige Stücke Gelds, die ich den Nächsten an unserm Wege ungebeten zuwarf, ihnen einen guten Augenblick zu schaffen. Besonders gab ich armen Weibern, die bei ihrer Arbeit hie und da ein Kind auf dem Felde sitzen hatten. Ich dachte, meine Tante macht eine Reise zum verhofften Vorteil ihrer Söhne, und diese Frau verrichtet zum Besten der ihrigen eine kümmerliche Arbeit; ich will diese Mutter auch eine unerwartete Güte genießen lassen.

Der reitende Bediente erzählte uns dann die Freude der armen Leute und den Dank, den sie uns nachriefen.

Reiche Felder, fette Triften und große Scheuren der Bauren in andern Gegenden bewiesen mir das Glück ihrer günstigen Lage, und ich wünsche ihnen einen guten Gebrauch ihres Segens. Meine Empfindungen waren angenehm, wie sie es allezeit beim ersten Anblick der Kennzeichen des Glücks zu sein pflegen; bis nach und nach aus ihrer Betrachtung der Gedanke der Vergleichung unserer minder guten Umstände entspringt und der bittern Unzufriedenheit einen Zugang in die Seele gibt. Wir kehrten unterwegs auf dem Schlosse des Grafen von W. ein, dessen Beschreibung ich unmöglich vorbeigehen kann. Es[70] ist an der Spitze eines Berges erbaut und hat auf vierzehen Stunden weit die schönste Gegend eines mit Feldern, Wiesen und zerstreuten Bauerhöfen gezierten Tales vor sich liegen welches ein fischreicher Bach durchfließt und waldichte Anhöhen umfassen. Auf dem Berge sind weitläuftige Gärten und Spaziergänge, nach dem edlen Geschmack des vorigen Besitzers angelegt, in welchem ich seinen Lieblingsgrundsatz, »das Angenehme immer mit dem Nützlichen zu verbinden«, sehr schön ausgeführt sah.

Dieses und die vollkommene Edelmanns-Landwirtschaft die auserlesene Bibliothek, die Sammlung physikalischer Instrumenten, die edle, von Üppigkeit und Kargheit gleich weit entfernte Einrichtung des Hauses, die Stiftung eines Arztes für die ganze Herrschaft, der lebenslängliche Unterhalt, dessen sich alle Hausbedienten zu erfreuen haben, die Wahl geschickter und rechtschaffener Männer auf den Beamtungen und eine Menge kluger Verordnungen zum Besten der Untertanen etc., alles sind lebende Denkmale des Geschmacks, der Einsichten und der edlen Denkungsart des vormaligen Besitzers, der, nachdem er mit größtem Ruhm viele Jahre die erste Stelle an einem großen Hofe bekleidet hatte, seine letzten Tage auf diesem angenehmen Landsitz verlebte. Seine Güte und Leutseligkeit scheint seinen Erben mit den Gütern eigen geworden zu sein, daher sich immer die beste Gesellschaft der umliegenden Einwohner bei ihnen versammelt. Die sechs Tage über, welche wir da zubrachten, kam ich durch das Spielen auf eine Idee, die ich gern von Herrn Br. untersucht haben möchte. Es waren viele Fremde gekommen, zu deren Unterhaltung man notwendigerweise Spieltische machen mußte. Denn unter zwanzig Personen waren gewiß die meisten von sehr verschiedenem Geist und Sinnesart, welches sich bei der Mittagstafel und dem Spaziergang am stärksten äußerte, wo jeder nach seinen herrschenden Begriffen und Neigungen von allen vorkommenden Gegenständen redete, und wo öfters teils die feinern Empfindungen der Tugend, teils die Pflichten der Menschenfreundlichkeit beleidigt worden waren. Bei dem Spielen aber hatten alle nur einen Geist, indem sie sich denen dabei eingeführten Gesetzen ohne den geringsten Widerspruch unterwarfen; keines[71] wurde unmutig, wenn man ihm sagte, daß hier und da wider die Regeln gefehlt worden sei; man gestund es, und besserte sich sogleich nach dem Rat eines Kunsterfahrnen.

Ich bewunderte und liebte die Erfindung des Spielens, da ich sie als ein Zauberband ansah, durch welches in einer Zeit von wenigen Minuten Leute von allerlei Nationen, ohne daß sie sich sprechen können, und von Personen von ganz entgegengesetzten Charaktern viele Stunden lang sehr gesellig verknüpft werden; da es ohne dieses Hülfsmittel beinahe unmöglich wäre, eine allgemeine gefällige Unterhaltung vorzuschlagen. Aber ich konnte mich nicht enthalten, der Betrachtung nachzuhängen: Woher es komme, daß eine Person vielerlei Gattungen von Spielen lernt und sehr sorgfältig allen Fehlern wider die Gesetze davon auszuweichen sucht, so daß alles, was in dem Zimmer vorgeht, diese Person zu keiner Vergessenheit oder Übertretung der Spielgesetze bringen kann; und eine Viertelstunde vorher war nichts vermögend, sie bei verschiednen Anlässen von Scherzen und Reden abzuhalten, die alle Vorschriften der Tugend und des Wohlstandes beleidigten. Ein andrer, der als ein edler Spieler gerühmt wurde und in der Tat ohne Gewinnsucht mit einer gleich gelaßnen und freundlichen Miene spielte, hatte einige Zeit vorher, bei der Frage von Herrschaft und Untertan, von den letztern als Hunden gesprochen und einem jungen, die Regierung seiner Güter antretenden Kavalier die heftigste und liebloseste Maßregeln angeraten, um die Bauren in Furcht und Unterwürfigkeit zu erhalten und die Abgaben alle Jahre richtig einzutreiben, damit man in seinem standesgemäßen Aufwand nicht gestöret würde. –

Warum? sagte mein Herz, warum kostet es die Leute weniger, sich den oft bloß willkürlichen Gesetzen eines Menschen zu unterwerfen, als den einfachen, wohltätigen Vorschriften, die der ewige Gesetzgeber zum Besten unsrer Nebenmenschen angeordnet hat? Warum darf man niemand erinnern, daß er wider diese Gesetze fehle? Meiner Tante hätte ich diesen zufälligen Gedanken nicht sagen wollen; denn sie macht mir ohnehin immer Vorwürfe über meine strenge und zu scharf gespannte moralische Ideen, die mich, wie sie sagt, alle Freuden des Lebens mißtönend finden ließen. Ich weiß nicht, warum[72] man mich immer hierüber anklagt. Ich kann munter sein; ich liebe Gesellschaft, Musik, Tanz und Scherz. Aber die Menschenliebe und den Wohlstand kann ich nicht beleidigen sehen, ohne mein Mißvergnügen darüber zu zeigen; und dann ist es mir auch unmöglich, an geist- und empfindungslosen Gesprächen einen angenehmen Unterhalt zu finden oder von nichtswürdigen Kleinigkeiten Tage lang reden zu hören.

O fände ich nur in jeder großen Gesellschaft oder unter den Freunden unsers Hauses in D. eine Person wie die Stiftsdame zu**, man würde den Ton meines Kopfs und Herzens nicht mehr mürrisch gestimmt finden! Diese edelmütige Dame lernte mich zu G. kennen, ihre erste Bewegung für mich war Achtung, mich als eine Fremde etwas mehr als gezwungene Höflichkeit genießen zu lassen. Ich hatte das Glück, ihr zu gefallen, und erhielt dadurch den Vorteil, den liebenswürdigen Charakter ihres Geistes und Herzens ganz kennenzulernen. Niemals habe ich die Fähigkeiten des einen und die Empfindungen des an dem in einem so gleichen Maß fein, edel und stark gefunden als in dieser Dame. Ihr Geist und die angenehme Laune, die ihren Witz charakterisiert, machen sie zu der angenehmsten Gesellschafterin, die ich jemals gesehen habe; [und beinahe möchte ich glauben, daß einer unsrer Dichter an sie gedacht habe, da er von einer liebenswürdigen Griechin sagte:


–Es hätt' ihr Witz auch Wangen ohne Rosen

Beliebt gemacht, ein Witz, dem 's nie an Reiz gebrach,

Zu stechen oder liebzukosen

Gleich aufgelegt, doch lächelnd, wenn er stach,

Und ohne Gift – –3


Sie besitzt die seltene Gabe, für alles, was sie sagt und schreibt, Ausdrücke zu finden, ohne daß sie das geringste Gesuchte an sich haben; alle ihre Gedanken sind wie ein schönes Bild, welches die Grazien in ein leichtes natürlich fließendes Gewand eingehüllt haben. Ernsthaft, munter oder freundschaftlich,[73] in jedem Licht nimmt die Richtigkeit ihrer Denkungsart und die natürliche ungeschmückte Schönheit ihrer Seele ein; und ein Herz voll Gefühl und Empfindung für alles, was gut und schön ist, ein Herz, das gemacht ist, durch die Freundschaft glücklich zu sein und glücklich zu machen, vollendet die Liebenswürdigkeit ihres Charakters.

Nur um dieser Dame willen habe ich mir zum ersten Male alte Ahnen gewünscht, damit ich Ansprüche auf einen Platz in ihrem Stifte machen und alle Tage meines Lebens mit ihr hinbringen könnte. Die Beschwerlichkeiten der Präbende würden mir an ihrer Seite sehr leichte werden.

Urteilen Sie selbst, ob es mir empfindlich war, diese liebenswürdige Gräfin wieder verlassen zu müssen; wiewohl sie die Gütigkeit hat, mich durch ihren Briefwechsel für den Verlust ihres reizenden Umgangs zu entschädigen. Sie sollen Briefe von ihr sehen und dann sagen, ob ich zu viel von den Reizungen ihres Geistes gesagt habe.

Die Bescheidenheit, welche einen besondern Zug des Charakters ihrer Freundin, der Gräfin von G., aus macht, soll mich, da sie diesen Brief nicht zu sehen bekommen kann, nicht verhindern, Ihnen zu sagen, daß diese vortreffliche Dame nächst jener den meisten Anteil an dem Wunsch hatte, mein Leben, wenn es möglich gewesen wäre, in dieser glücklichen Entfernung von der Welt hinzubringen. Stilles Verdienst, das nur desto mehr einnimmt: weil es nicht glänzen will, ein feiner, durch Belesenheit und Kenntnisse ausgeschmückter Geist, verbunden mit ungefärbter Aufrichtigkeit und Güte des Herzens, macht dieser Dame der Hochachtung und der Freundschaft jeder edlen Seele wert. Selbst der dichte Schleier, den ihre beinahe allzugroße, wiewohl unaffektierte Bescheidenheit über ihre Vorzüge wirft, erhöht in meinen Augen den Wert derselben. Selten legt sie diesen anderswo als in dem Zimmer der Gräfin G. von sich, deren Beifall ihr eine Art von Gleichgültigkeit gegen alles andere Lob zu geben scheint; so wie sie auch der seltenen Geschicklichkeit, womit sie das Klavier spielt, und welche genug wäre, hundert andere stolz zu machen, nur darum, weil sie ihrer Freundin dadurch Vergnügen machen kann, einigen Wert beizulegen scheint. Ich kann nicht vergessen,[74] unter den übrigen würdigen Damen dieses Stifts, der Grafen T. W., welche alle ihre Tage mit übenden Tugenden bezeichnet und einen Teil ihrer besondern Geschicklichkeit zum Unterricht armer Mädchen in allerlei künstlichen Arbeiten verwendet – und besonders der Fürstin, welche die Vorsteherin des Stifts ist, mit der zärtlichen Ehrerbietung zu erwähnen, welche sie durch die vollkommenste Leutseligkeit, eine sich selbst immer gleiche Heiterkeit der Seele und die Würde voll Anmut, womit sich diese Eigenschaften in ihrer ganzen Person ausdrücken, allen, die sich ihr nähern, einflößt. Wenn ich etwas beneiden könnte, so würde es das Glück sein, unter der Leitung der erfahrnen Tugend und Klugheit einer so würdigen mütterlichen Vorsteherin meine Tage hinzubringen.

Ich begnüge mich, Ihnen, was den Hauptpunkt meiner Tante bei dieser Reise betrifft, zu melden, daß er vollkommen erreichet wurde; wir sind nun wieder in D., und der Menge von Besuchen, welche wir zu geben und anzunehmen hatten, messen Sie die Schuld bei, daß Sie so lange ohne Nachricht von mir geblieben sind.


Mylord Seymour an den Doktor T**

Lieber Freund, ich hörte Sie oft sagen, die Beobachtungen, die Sie auf Ihren Reisen durch Deutschland über den Grundcharakter dieser Nation gemacht, hätten in Ihnen den Wunsch hervorgebracht, auf einer Seite den Tiefsinn unsrer Philosophen mit dem methodischen Vortrag der Deutschen, und auf der andern das kalte und langsam gehende Blut ihrer übrigen Köpfe mit der feurigen Einbildungskraft der unsern vereinigt zu sehen. Sie suchten auch lang eine Mischung in mir hervorzubringen, wodurch meine heftigen Empfindungen möchten gemildert werden, indem Sie sagten, daß dieses die einzige Hindernis sei, warum ich in den Wissenschaften, die ich doch liebte, niemals zu einer gewissen Vollkommenheit gelangen würde. Sie gingen sanft und gütig mit mir um, weil Sie durch die Zärtlichkeit meines Herzens den Weg zu der Biegsamkeit meines Kopfs finden wollten; ich weiß nicht, mein teurer[75] Freund, wie weit Sie damit gekommen sind; Sie haben mich das wahre Gute und Schöne erkennen und lieben gelehrt, ich wollte auch immer lieber sterben, als etwas Unedles oder Bösartiges tun, und doch zweifle ich, ob Sie mit der Ungeduld zufrieden sein würden, mit welcher ich das Ansehen meines Oheims über mich ertrage. Es deucht mir eine dreifache Last zu sein, die meine Seele in allen ihren Handlungen hindert; Mylord G. als Oheim, als reicher Mann, den ich erben soll, und als Minister, dem mich meine Stelle als Gesandtschaftsrat unterwirft. Fürchten Sie dennoch nicht, daß ich mich vergesse oder Mylorden beleidige; nein, soviel Gewalt habe ich über meine Bewegungen; sie werden durch nichts anders sichtbar als eine tötende Melancholie, die ich vergebens zu unterdrücken suche; aber warum mache ich so viele Umschweife, um Ihnen am Ende meines Briefs etwas zu sagen, das ich gleich anfangs sagen wollte, daß ich in einer jungen Dame die schöne und glückliche Mischung der beiden Nationalcharaktere gesehen habe. Ihre Großmutter mütterlicher Seite war eine Tochter des alten Sir Watson und ihr Vater der verdienstvolle Mann, dessen Andenken in dem edelsten Ruhme blühte. Diese junge Dame ist eine Freundin des Fräulein C*, von welchem ich Ihnen schon geschrieben habe, das Fräulein Sternheim ist aber erst seit einigen Wochen hier, und zwar zum erstenmal; vorher war sie immer auf dem Lande gewesen. Erwarten Sie keine Ausrufungen über ihre Schönheit; aber glauben Sie mir, wenn ich sage, daß alle mögliche Grazien, deren die Bildung und Bewegung eines Frauenzimmers fähig ist, in ihr vereinigt sind; eine holde Ernsthaftigkeit in ihrem Gesicht, eine edle anständige Höflichkeit in ihrem Bezeugen, die äußerste Zärtlichkeit gegen ihre Freundin, eine anbetungswürdige Güte und die feinste Empfindsamkeit der Seele; ist dies nicht die Stärke des englischen Erbes von ihrer Großmutter?4 Einen mit Wissenschaft und richtigen Begriffen gezierten Geist, ohne das geringste[76] Vorurteil, männlichen Mut, Grundsätze zu zeigen und zu behaupten, viele Talente mit der liebenswürdigsten Sittsamkeit verbunden; dieses gab ihr der rechtschaffene Mann, der das Glück hatte, ihr Vater zu sein. Nach dieser Beschreibung, mein Freund, können Sie den Eindruck beurteilen, welchen sie auf mich machte. Niemals, niemals ist mein Herz so eingenommen, so zufrieden mit der Liebe gewesen! Aber was werden Sie dazu sagen, daß man dieses edle, reizende Mädchen zu einer Mätresse des Fürsten bestimmt? daß mir Mylord verboten, ihr meine Zärtlichkeit zu zeigen, weil der Graf F. ohnehin befürchtet, man werde Mühe mit ihr haben? Doch behauptet er, daß sie deswegen an den Hof geführt worden sei. Ich zeigte meinem Oncle alle Verachtung, die ich wegen dieser Idee auf den Grafen Löbau, ihren Oncle geworfen; ich wollte das Fräulein von dem abscheulichen Vorhaben benachrichtigen und bat Mylorden fußfällig, mir zu erlauben, durch meine Vermählung mit ihr, ihre Tugend, ihre Ehre und ihre Annehmlichkeiten zu retten. Er bat mich, ihn ruhig anzuhören, und sagte mir; er selbst verehre das Fräulein und sei überzeugt, daß sie das ganze schändliche Vorhaben zernichten werde; und er gab mir die Versicherung, daß, wenn sie ihrem würdigen Charakter gemäß handle, er sich ein Vergnügen davon machen wolle, ihre Tugend zu krönen. »Aber solange der ganze Hof sie als bestimmte Mätresse ansieht, werde ich nichts tun. Sie sollen keine Frau von zweideutigem Ruhme nehmen; halten Sie sich an das Fräulein C*, durch diese können Sie alles von den Gesinnungen der Sternheim erfahren: ich will Ihnen von den Unterhandlungen Nachricht geben, die der Graf F. auf sich genommen hat. Alle Züge des Charakters der Fräulein geben mir Hoffnung zu einem Triumphe der Tugend. Aber er muß vor den Augen der Welt erlangt werden.«

– Mein Oheim erregte in mir die Begierde, den Fürsten gedemütigt zu sehen, und ich stellte mir den Widerstand der Tugend[77] als ein entzückendes Schauspiel vor. Diese Gedanken brachten mich dahin, meine ganze Aufführung nach der Vorschrift meines Oheims einzurichten. Mylord Derby hat mir einen neuen Bewegungsgrund dazu gegeben. Er sah sie und faßte gleich eine Begierde nach den seltnen Reizungen, die sie hat; denn Liebe kann man seine Neigung nicht nennen. Er ist mir mit seiner Erklärung schon zuvorgekommen; wenn er sie rührt, so ist mein Glück hin; ebenso hin, als wenn sie der Fürst erhielte; dann wenn sie einen Ruchlosen lieben kann, so hätte sie mich niemals geliebt. Aber ich bin elend, höchst elend durch die zärtlichste Liebe für einen würdigen Gegenstand, den ich unglücklicherweise mit den Fallstricken des Lasters umgeben sehe. Die Hoffnung in ihre Grundsätze und die Furcht der menschlichen Schwachheit martern mich wechselsweise. Heute, mein Freund, heute wird sie in der Hofkomödie dem Blick des Fürsten zum erstenmal ausgesetzt; ich bin nicht wohl; aber ich muß hingehen, wenn es mir das Leben kosten sollte.

Ich lebe auf, mein Freund, der Graf von F. zweifelt, daß man etwas über den Geist des Fräuleins gewinnen werde.

Mylord befahl mir, mich in der Komödie nahe an ihn zu halten. Das Fräulein kam mit ihrer unwürdigen Tante in die Loge der Gräfin F.; sie sah so liebenswürdig aus, daß es mich schmerzte. Eine Verbeugung, die ich zugleich mit Mylord an die drei Damen machte, war der einzige Augenblick, wo ich mir getrauete, sie anzusehen. Bald darauf war der ganze Adel und der Fürst selbst da, dessen lüsternes Auge sogleich auf die Loge der Gräfin F. gewendet war; das Fräulein verbeugte sich mit so vieler Anmut, daß ihn auch dieses hätte aufmerksam machen müssen, wenn es ihre übrige Reize nicht getan hätten. Er redete sogleich mit dem Grafen F. und sah wieder auf das Fräulein, die er jetzt besonders grüßte. Alle Augen waren auf sie geheftet, aber eine kleine Weile darauf verbarg sich das Fräulein halb hinter der Gräfin F. Die Opera ging an; der Fürst redete viel mit F., der endlich in die Loge seiner Gemahlin ging, um Mylorden und den Gräfinnen zu verweisen, daß sie dem Fräulein den Platz wegnähmen, da sie beide das Spiel schon oft, das Fräulein aber es noch niemals gesehen hätte.

Die Damen sein nicht Ursache, Herr Graf, sagte das Fräulein,[78] etwas ernsthaft; »ich habe diesen Platz gewählt, ich sehe genug und gewinne dabei das Vergnügen, weniger gesehen zu werden.«

»Aber Sie berauben so viele des Vergnügens, Sie zu sehen.« Darüber hätte sie nur eine Verbeugung gemacht, die an sich nichts als Geringschätzigkeit seines Kompliments angezeigt habe. Er hätte ihre Meinung von der Komödie begehrt; darauf hätte sie wieder mit einem ganz eignen Ton gesagt: Sie wundere sich nicht, daß diese Ergötzlichkeit von so vielen Personen geliebt würde.

»Ich wünsche aber zu wissen, wie es Ihnen gefällt, was Sie davon denken? Sie sehen so ernsthaft.«

»Ich bewundere die vereinigte Mühe so vieler Arten von Talente.«

»Ist das alles, was Sie dabei tun, empfinden Sie nichts für die Heldin oder den Helden?«

»Nein, Herr Graf, nicht das geringste«, hätte Sie mit Lächeln geantwortet.

Man speiste bei der Fürstin von W*; der Fürst, die Gesandtschaften und übrigen Fremde, worunter der Graf Löbau, Oncle des Fräulein Sternheims, auch gerechnet wurde. Die Gräfin F* stellte das Fräulein mit vielem Gepränge dem Fürsten vor. Dieser affektierte, viel von ihrem Vater zu sprechen. Das Fräulein soll kurz und in einem gerührten Tone geantwortet haben. Die Tafel war vermengt, immer ein Kavalier bei einer Dame. Graf F., ein Neffe des Ministers, war an der Seite des Fräuleins, welche gerade so gesetzt wurde, daß sie der Fürst im Gesicht hatte; er sah sie unaufhörlich an. Ich nahm mich in acht, nicht oft nach dem Fräulein zu sehen; doch bemerkte ich Unzufriedenheit an ihr. Man hob die Tafel bald auf, um zu spielen; die Prinzessin nahm das Fräulein zu sich, ging bei den Spieltischen mit ihr herum, setzte sich auf den Sofa und redete sehr freundlich mit ihr. Der Fürst kam, nachdem er eine Tour mit Mylorden gespielt hatte, auch dazu.

Den zweeten Tag sagte Graf F. zu Mylord; er wünschte dem Löbau alles Böse auf den Hals, das Fräulein hieher gebracht zu haben. Sie ist ganz dazu gemacht, um eine heftige Leidenschaft zu erwecken; aber ein Mädchen, das keine Eitelkeit auf[79] ihre Reize hat, bei einem Schauspiel nichts als die vereinigte Mühe von vielerlei Talenten betrachtet, an einer ausgesuchten Tafel nichts als eine Äpfel-Kompotte ißt, Wasser dazu trinkt, an einem Hofe nach dem Hause eines Landpfarrers seufzet und bei allem dem voll Geist und voll Empfindung ist – ein solches Mädchen ist schwer zu gewinnen!

Gott wolle es, dacht' ich; lange kann ich den gewaltsamen Stand, in dem ich bin, nicht aushalten!

Schreiben Sie mir bald; sagen Sie mir, was Sie von mir denken, und was ich hätte tun sollen.


Das Fräulein von Sternheim an Emilia

O meine Emilia! wie nötig ist mir eine erquickende Unterhaltung mit einer zärtlichen und tugendhaften Freundin!

Wissen Sie, daß ich den Tag, an dem ich mich zu der Reise nach D. bereden ließ, für einen unglücklichen Tag ansehe. Ich bin ganz aus dem Kreise gezogen worden, den ich mit einer so seligen Ruhe und Zufriedenheit durchging. Ich bin hier niemanden, am wenigsten mir selbst, nütze; das Beste, was ich denke und empfinde, darf ich nicht sagen, weil man mich lächerlich-ernsthaft findet; und so viel Mühe ich mir gebe, aus Gefälligkeit gegen die Personen, bei denen ich bin, ihre Sprache zu reden, so ist doch meine Tante selten mit mir zufrieden, und ich, Emilia, noch seltner mit ihr. Ich bin nicht eigensinnig, mein Kind, in Wahrheit, ich bin es nicht; ich fodere nicht, daß jemand hier denken solle wie ich; ich sehe zu sehr ein, daß es eine moralische Unmöglichkeit ist. Ich nehme keinem übel, daß der Morgen am Putztische, der Nachmittag in Besuchen, der Abend und die Nacht mit Spielen hingebracht wird. Es ist hier die große Welt, und diese hat die Einrichtung ihres Lebens mit dieser Haupteinteilung angefangen. Ich bin auch sehr von der Verwunderung zurückgekommen, in die ich sonst geriet, wenn ich an Personen, die meine selige Großmama besuchten, einen so großen Mangel an guten Kenntnissen sah, da sie doch von Natur mit vielen Fähigkeiten begabt waren. Es ist nicht möglich, meine Liebe, daß eine junge Person in diesem betäubenden[80] Geräusche von lärmenden Zeitvertreiben einen Augenblick finde, sich zu sammeln. Kurz, alle hier sind an diese Lebensart und an die herrschenden Begriffe von Glück und Vergnügen gewöhnt und lieben sie ebenso, wie ich die Grundsätze und Begriffe liebe, welche Unterricht und Beispiel in meine Seele gelegt haben. Aber man ist mit meiner Nachsicht, mit meiner Billigkeit nicht zufrieden; ich soll denken und empfinden wie sie, ich soll freudig über meinen wohlgeratnen Putz, glücklich durch den Beifall der andern und entzückt über den Entwurf eines Soupers, eines Balls werden. Die Opera, weil es die erste war, die ich sah, hätte mich außer mir selbst setzen sollen, und der Himmel weiß, was für elendes Vergnügen ich in dem Lob des Fürsten habe Enden sollen. Alle Augenblicke wurde ich in der Komödie gefragt: »Nun wie gefällt's Ihnen, Fräulein?«

»Gut«, sagte ich ganz gelassen; »es ist vollkommen nach der Idee, die ich mir von diesen Schauspielen machte.« Da war man mißvergnügt und sah mich als eine Person an, die nicht wisse, was sie rede. Es mag sein, Emilia, daß es ein Fehler meiner Empfindungen ist, daß ich die Schauspiele nicht liebe, und ich halte es für eine Wirkung des Eindrucks, den die Beschreibung des Lächerlichen und Unnatürlichen eines auf dem Schlachtfeld singenden Generals und einer sterbenden Liebhaberin, die ihr Leben mit einem Triller schließt, so ich im Englischen gelesen habe, auf mich machte. Ich kann auch niemand tadeln, der diese Ergötzlichkeiten liebt. Wenn man die Verbindung so vieler Künste ansieht, die für unser Aug und Ohr dabei arbeiten, so ist schon dieses angenehm zu betrachten; und ich finde nichts natürlicher als die Leidenschaften, die eine Aktrice oder Tänzerin einflößt. Die Intelligenz (lassen Sie mir dieses Wort), mit welcher die erste ihre Rolle spielt, da sie ganz in dem Charakter, den sie vorstellt, eintritt, von edlen zärtlichen Gesinnungen mit voller Seele redt, selbst schön dabei ist und die ausgesuchte Kleidung, die affektvolleste Musik mit allen Verzierungen des Theaters dabei zu Gehülfen hat – wo will sich der junge Mann retten, der mit einem empfindlichen Herzen in den Saal tritt und da von Natur und Kunst zugleich bestürmt wird?[81]

Die Tänzerin, von muntern Grazien umgeben, jede Bewegung voll Reiz, in Wahrheit, Emilia, man soll sich nicht wundern, nicht zanken, wenn sie geliebt wird! Doch dünkt mich der Liebhaber der Aktrice edler als der von der Tänzerin. Ich habe irgendwo gelesen, daß die Linie der Schönheit für den Maler und Bildhauer sehr fein gezogen sei; geht er darüber, so ist sie verloren; bleibt er unter ihr, so fehlt seinem Werk die Vollkommenheit.

Die Linie der sittlichen Reize der Tänzerin dünkt mich ebenso fein gezogen; dann sie schien mir sehr oft übertreten zu werden.

Überhaupt bin ich es sehr zufrieden, ein Schauspiel gesehen zu haben, weil die Vorstellung, die ich davon hatte, dadurch ganz bestimmt worden ist; aber ich bin es auch zufrieden, wenn ich keines mehr sehe.

Nach der Komödie speiste ich mit der Prinzessin von W*, da wurde ich dem Fürsten vorgestellt. Was soll ich Ihnen davon sagen? Daß er ein schöner Mann und sehr höflich ist, daß er meinen werten Papa sehr gelobt hat und daß ich mißvergnügt damit war. Ja, meine Emilia, ich kann nicht mehr so froh über die Lobsprüche sein, die man ihm gibt; der Ton, worin es geschieht, klingt mir gerade, als wenn man sagte: Ich weiß, daß Sie von Ihrem Vater sehr eingenommen sind, ich sage Ihnen also Gutes von ihm. Und dann, mein Kind, muß ich Ihnen sagen, daß die Blicke, die der Fürst auf mich warf, auch das Beste verdorben hätten, das er hätte sagen können.

Was für Blicke, meine Liebe! Gott bewahre mich, sie wieder zu sehen! Wie haßte ich die spanische Kleidung, die mir nichts als eine Palatine erlaubte. Wäre ich jemals auf meine Leibesgestalt stolz gewesen, so hätte ich gestern dafür gebüßt. Der bitterste Schmerz durchdrang mich bei dem Gedanken, der Gegenstand so häßlicher Blicke zu sein. Meine Emilia, ich mag nicht mehr hier sein; ich will zu Ihnen, zu den Gebeinen meiner Eltern. Die Gräfin R. bleibt zu lange weg.

Heute erzählte mir die Gräfin F. mit vielem Wortgepränge das Lob des Fürsten über meine Person und meinen Geist.

Morgen gibt der Graf ein großes Mittagessen, und ich soll dabei sein. Niemals, seitdem ich hier bin, hatte ich die Empfindungen[82] eines Vergnügens nach meinem Geschmack. Die Freundschaft des Fräulein C* war das einzige, was mich erfreute; aber auch diese ist nicht mehr, was sie war. Sie spricht so kalt; sie besucht mich nicht mehr; wir kommen beim Spiel nicht mehr zusammen; und wenn ich mich ihr oder dem Mylord Seymour nähere, welche immer zusammen reden, so schweigen sie, und Mylord entfernt sich traurig, bewegt; und das Fräulein sieht ihm nach und ist zerstreut. Was soll ich denken? Will das Fräulein nicht, daß ich Mylorden spreche? Geht er weg, um ihr seine vollkommene Ergebenheit zu zeigen? Denn er redt mit keiner andern Seele als mit ihr. O mein Kind, wie fremd ist mein Herz in diesem Lande! Ich, die mein Glück für anderer ihres hingäbe, ich muß die Sorge sehen, daß ich es zu stören denke. Liebes Fräulein C*, ich will Ihnen diese Unruhe nehmen; denn ich werde meinen Augen das Vergnügen versagen, Mylord Seymour anzuschauen. Meine Blicke waren ohnehin flüchtig genug. Ich will Sie selbst nicht mehr aufsuchen, wenn Sie in einem glücklichen Gespräche mit dem liebenswerten Manne begriffen sind. – Sie sollen sehen, daß Sophie Sternheim das Glück ihres Herzens durch keinen Raub zu erhalten sucht! – Emilia, eine Träne füllte mein Auge bei diesem Gedanken. Aber der Verlust einer geliebten Freundin, der einzigen, die ich hier hatte, der Verlust des Umgangs eines würdigen Mannes, den ich hochschätze, dieser Verlust verdient eine Träne. D. wird mich keine andre kosten; morgen, mein Kind, morgen wünsche ich abzureisen.

Warum sagt mir Ihr Brief nichts von meinem Pflegvater; warum nichts von Ihrer Reise und Ihrem Gesellschafter?

Emilia, Ihre Briefe, Ihre Liebe und Vertrauen sind alles Gute, so ich noch erwarte.

D. hat nichts – nichts für mich.


Mylord Derby an seinen Freund in Paris

Bald werde ich deinen albernen Erzählungen ein Ende machen, die ich bisher nur deswegen geduldet, weil ich sehen wollte, wie weit du deine Prahlerei in dem Angesichte deines[83] Meisters treiben würdest. Auch solltest du heute die Geißel meiner Satyre fühlen, wenn ich nicht im Sinne hätte, dir den Entwurf einer deutsch-galanten Historie zu zeigen, zu deren Ausführung ich mich fertig mache. Was wollen die Pariser Eroberungen sagen, die du nur durch Gold erhältst? Dann was würde sonst eine Französin mit deinem breiten Gesicht und hagern Figürchen machen; die Eroberungen der Herren Mylords in Paris, was sind die? Eine Kokette, eine Aktrice, beide artig einnehmend; aber sie waren es schon für so viel Leute, daß man ein Tor sein muß, sich darüber zu beloben. War ich nicht auch da, meine schöne Herren? und weiß ich nicht ganz sicher, daß die wohlerzogene Tochter eines angesehenen Hauses und die geistvolle achtungswerte Frau gar nicht die Bekanntschaften sind, die man uns machen läßt? Also prahle mir nicht mehr, mein guter B*, denn von Siegen wie die eurige ist kein Triumphlied zu singen. Aber ein den Göttern gewidmetes Meisterstück der Natur und der Kunst zu erbeuten, den Argus der Klugheit und Tugend einzuschläfern, Staatsminister zu betrügen, alle weithergesuchte Vorbereitungen eines gefährlichen und geliebten Nebenbuhlers zu zernichten, ohne daß man die Hand gewahr wird, welche an der Zerstörung arbeitet, dies verdient angemerkt zu werden!

Du weißt, daß ich der Liebe niemals keine andere Gewalt als über meine Sinnen gelassen habe, deren feinstes und lebhaftestes Vergnügen sie ist. Daher war die Wahl meiner Augen immer fein, daher meine Gegenstände immer abgewechselt. Alle Klassen von Schönheiten haben mir gefrönet; ich wurde ihrer satt und suchte nun auch die Häßlichkeit zu meiner Sklavin zu machen; nach dieser mußten mir Talente und Charakter unterwürfig werden. Wieviel Anmerkungen könnten nicht die Philosophen und Moralisten über die feinen Netze und Schlingen machen, in denen ich die Tugend oder den Stolz, die Weisheit oder den Kaltsinn, die Koketterie und selbst die Frömmigkeit der ganzen weiblichen Welt gefangen habe. Ich dachte schon mit Salomo, daß für mich nichts Neues mehr unter der Sonne wäre. Aber Amor lachte meiner Eitelkeit. Er führte aus einem elenden Landwinkel die Tochter eines Obersten herbei, deren Figur, Geist und Charakter so neu und reizend ist, daß[84] meinen vorigen Unternehmungen die Krone fehlte, wenn sie mir entwischen sollte. Wachsam muß ich sein; Seymour liebt sie; läßt sich aber durch Mylord G. leiten, weil diese Rose für den Fürsten bestimmt ist, bei dem sie einen Prozeß für ihren Oheim gewinnen soll. Der Sohn des Grafen F. bietet sich zur Vermählung mit ihr an, um den Mantel zu machen; wenn sie ihn aber liebt, so will er die Anschläge des Grafen Löbau und seines Vaters zunichte machen; der schlechte Pinsel! er soll sie nicht haben. Seymour mit seiner schwermütigen Zärtlichkeit, die auf den Triumph ihrer Tugend wartet, auch nicht; und der Fürst – der ist sie nicht wert! Für mich soll sie geblüht haben, das ist festgesetzt; allem meinem Verstand ist aufgeboten, ihre schwache Seite zu finden. Empfindlich ist sie; ich hab' es ihren Blicken angesehen, die sie manchmal auf Seymouren wirft, wenn es gleich ich bin, der mit ihr redet. Freimütig ist sie auch; dann sie sagte mir, es dünkte sie, daß es meinem Herzen an Güte fehle. »Halten Sie Mylord Seymour für besser als mich?« fragte ich sie. Sie errötete und sagte, er wäre es. Damit hat sie mir eine wütende Eifersucht gegeben, aber zugleich den Weg zu ihrem Herzen gezeigt. Ich bin zu einer beschwerlichen Verstellung gezwungen, da ich meinen Charakter zu einer Harmonie mit dem ihrigen stimmen muß. Aber es wird eine Zeit kommen, wo ich sie nach dem meinigen bilden werde. Dann mit ihr werd' ich diese Mühe nehmen, und gewiß, sie soll neue Entdeckungen in dem Lande des Vergnügens machen, wenn; ihr aufgeklärter und feiner Geist alle seine Fähigkeiten dazu anwenden wird. Aber das Lob ihrer Annehmlichkeiten und Talenten rührt sie nicht; die allgemeinen Kennzeichen einer eingeflößten Leidenschaft sind ihr auch gleichgültig. Hoheit des Geistes und Güte der Seele scheinen in einem seltenen Grad in ihr verbunden zu sein; so wie in ihrer Person alle Reize der vortrefflichsten Bildung mit dem ernsthaften Wesen, welches große Grundsätze geben, vereinigt sind. Jede Bewegung, die sie macht, der bloße Ton ihrer Stimme, lockt die Liebe zu ihr; und ein Blick, ein einziger ungekünstelter Blick ihrer Augen, scheint sie zu verscheuchen; so eine reine unbefleckte Seele wird man in ihr gewahr. – Halt einmal: wie komme ich zu diesem Geschwätz? – So lauteten die Briefe des armen Seymour,[85] da er in die schöne Y** verliebt war: sollte mich diese Landjungfer auch zum Schwärmer machen? Soweit es zu meinen Absichten dient, mag es sein; aber, beim Jupiter, sie soll mich schadlos halten! Ich habe Mylords G-s zweiten Sekretär gewonnen; der Kerl ist ein halber Teufel. Er hatte die Theologie studiert, aber sie wegen der strengen Strafe, die er über eine Büberei leiden müssen, verlassen; und seitdem sucht er sich an allen frommen Leuten zu rächen. Es ist gut, wenn man ihren Stolz demütigen kann, sagte er; durch ihn will ich Mylord Seymouren ausforschen. Er kann den letzten wegen der Moral, die er immer predigt, nicht ausstehen. Du siehst, daß der Theologe eine starke Verwandlung erlitten hat, aber so einen Kerl brauche ich itzt, weil ich selbst nicht frei agieren kann; heute nichts mehr, man unterbricht mich.


Fräulein von Sternheim an Emilia

Emilia! ich erliege fast unter meinem Kummer; mein Pflegvater tot! warum schrieben Sie mir oder doch Rosinen nichts, als da alles vorbei war? Die gute Rosine vergeht vor Jammer. Ich suche sie zu trösten, und meine eigne Seele ist niedergeschlagen. Meine werte Freundin, die Erde deckt nun das Beste, das sie uns gegeben hatte, gütige verehrungswürdige Eltern! Kein Herz kennt Ihren Verlust so wohl als das meinige; ich empfinde Ihren Schmerz doppelt. – Warum konnte ich seinen Segen nicht selbst hören? Warum benetzen meine Tränen seine heilige Grabstätte nicht? da ich mit gleichen kindlichen Gesinnungen wie seine Töchter um ihn weine. – Die arme Rosine! Sie knieet bei mir, ihr Kopf liegt auf meinem Schoße, und ihre Tränen träufeln auf die Erde. Ich umarme sie und weine mit. Gott lasse durch unsern Kummer Weisheit in unsrer Seele aufblühen und erfülle dadurch den letzten Wunsch unserer Väter; besonders den, welchen mein Pflegvater für seine Emilia machte, da seine zitternde Hand noch ihre Ehe einsegnete und sie so dem Schutz eines treuen Freundes übergab. Tugend und Freundschaft sei mein und Rosinens Teil, bis die Reihe des Loses der Sterblichkeit auch uns in einer glückseligen Stunde[86] trifft! Möchte alsdann ein edles Herze mir Dank für das gegebene Beispiel im Guten nachrufen und ein durch mich erquickter Armer mein Andenken segnen! Dann würde der Weise, der Menschenfreund sagen können, daß ich den Wert des Lebens gekannt habe!

Ich kann nicht mehr schreiben, unsre Rosine gar nicht; sie bittet um ihres Bruders und ihrer Schwester Liebe und will immer bei mir leben. Ich hoffe, Sie sind es zufrieden und befestigen dadurch das Band unsrer Freundschaft. Edelmut und Güte soll es unzertrennlich machen. Ich umarme meine Emilia mit Tränen; Sie glauben nicht, wie traurig mir ist, daß ich diesen Brief schließen muß, ohne etwas an meinen väterlichen Freund beizusetzen. Ewige Glückseligkeit lohne ihn und meinen Vater! Lassen Sie uns, meine Emilia, meine Rosina, so leben, daß wir ihnen einmal als würdige Erbinnen ihrer Tugend und Freundschaft dargestellt werden können!


Mylord Seymour an den Doktor B.

Immer wird mir das Fräulein liebenswürdiger, und ich – ich werde immer unglücklicher. Der Fürst und Derby suchen ihre Hochachtung zu erwerben; beide sehen, daß dies der einzige Weg zu ihrem Herzen ist. Der doppelte Eigensinn, den meine Leidenschaft angenommen, hindert mich, ein Gleiches zu tun. Ich bin nur bemüht, sie zu beobachten und eine untadelhafte Aufführung zu haben. Sie hingegen meidet mich und das Fräulein C*. Ich höre sie nicht mehr reden; aber die Erzählung des Derby, dem sie Achtung erweiset, sind mir beständige Beweise des Adels ihrer Seele. Ich glaube, daß sie die erste tugendhafte Bewegung in sein Herz gebracht hat. Denn vor einigen Tagen sagt' er mir: er hätte das Fräulein in eine Gesellschaft führen sollen, und wie er in ihr Zimmer gegangen sie abzuholen, habe er ihre Kammerjungfer vor ihr knien gesehen; das Fräulein selbst halb angezogen, ihre schönen Haare auf Brust und Nacken zerstreut, ihre Arme um das kniende Mädchen geschlungen, deren Kopf sie an sich gedrückt, während sie ihr mit beweglicher Stimme von dem Wert des Todes der[87] Gerechten und der Belohnung der Tugend gesprochen. Tränen wären aus ihren Augen gerollt, die sie endlich gen Himmel gehoben und das Andenken ihres Vaters und noch eines Mannes für ihren Unterricht gesegnet hätte. Dieser Anblick hätte ihn staunen gemacht; und wie das Fräulein ihn gewahr worden, habe sie gerufen: »O Mylord, Sie sind gar nicht geschickt, mich in diesem Augenblicke zu unterhalten; haben Sie die Güte zu gehen und mich bei meiner Tante zu entschuldigen; ich werde heute niemand sehen.« Das feierliche und rührende Ansehen, so sie gehabt, hätte ihm ihren Vorwurf zweifach verbittert, da er die Geringschätzung gefühlt, die sie für seine Denkungsart habe. Er hätte auch geantwortet: wenn sie die Ehrfurcht sehen könnte, die er in diesem Augenblicke für sie fühlte, so würde sie ihn ihres Vertrauens würdiger achten. Da sie aber, ohne ihm zu antworten, ihren Kopf auf den von ihrem Mädchen gelegt, wäre er fortgegangen und hätte von der Gräfin L* gehört, daß ihre Szene den Tod des Pfarrers von P. anginge, der das Fräulein zum Teil erzogen und der Vater ihrer Kammerjungfer gewesen; der Graf Löbau und seine Gemahlin wären froh, daß der schwärmerische Briefwechsel, den das Fräulein mit diesem Manne unterhalten, nun ein Ende hätte und man sie auf eine ihrem Stande gemäßere Denkungsart leiten könne. Sie wären auch beide mit ihm zu dem Fräulein gegangen und hätten ihr ihre Traurigkeit und den Entschluß verwiesen, daß sie nicht in die Gesellschaft gehen wolle. »Meine Tante«, habe sie geantwortet, »so viele Wochen habe ich der schuldigen Gefälligkeit gegen Sie und den Gewohnheiten des Hofes aufgeopfert; die Pflichten der Freundschaft und der Tugend mögen wohl auch einen Tag haben!« »Ja«, habe die Gräfin versetzt, »aber deine Liebe ist immer nur auf eine Familie eingeschränkt gewesen; du bist gegen die Achtung und Zärtlichkeit, so man dir hier beweist, zu wenig empfindlich.« Das Fräulein: »Meine gnädige Tante, es ist mir leid, wenn ich Ihnen undankbar scheine; aber verdiente der Mann, der meine Seele mit guten Grundsätzen und meinen Geist mit nützlichen Kenntnissen erfüllte, nicht ein größeres Maß von Erkenntlichkeit als der höfliche Fremdling, der mich nötigt, an seinen vorübergehenden Ergötzlichkeiten Anteil zu nehmen?« Die[88] Gräfin: »Du hättest schicklicher das Wort abwechselnde Ergötzlichkeiten gebrauchen können.« Das Fräulein: »Alle diese Fehler beweisen Ihnen, daß ich für den Hof sehr untauglich bin.« Die Gräfin: »Ja, heute besonders, du sollst auch zu Hause bleiben.« –

Derby erzählte mir dieses mit einem leichtsinnigen Ton, aber gab genau auf meine Bewegungen acht. Sie wissen, daß ich sie selten verbergen kann, und in diesem Falle war mir's ganz unmöglich. Der Charakter des Fräuleins rührte mich. Ich mißgönnte Derbyn, sie gesehen und gehört zu haben. Unzufrieden auf mich, meinen Oncle und den Fürsten, brach ich in den Eifer aus, zu sagen: »Das Fräulein hat den edelsten und seltensten Charakter; wehe den Elenden, die sie zu verderben suchen!« »Sie sind ein ebenso seltener Mann«, erwiderte er, »als das Fräulein ein seltenes Frauenzimmer ist. Sie wären der schicklichste Liebhaber für sie gewesen, und ich hätte ihr Vertrauter und Geschichtschreiber sein mögen.«

»Ich glaube nicht, Mylord Derby, daß Ihnen das Fräulein oder ich diesen Auftrag gemacht hätte«, sagte ich. Über diese Antwort sah ich eine Miene an ihm, die mir gänzlich mißfiel; sie war lächelnd und nachdenkend; aber, mein Freund, ich konnte mich nicht enthalten, in meinem Herzen zu sagen, so lächelt Satan, wenn er sich eines giftigen Anschlags bewußt ist.


Fräulein von Sternheim an Emilien

Ihr Stilleschweigen, meine Freundin, dünket mich und Rosinen sehr lange und unbillig; aber ich werde mich wegen der Unruhe, die Sie mir dadurch gemacht, nicht anders rächen, als Ihnen, wenn ich einmal eine lange Reise mache, auf halbem Wege zu schreiben; denn da ich weiß, wie Sie mich lieben, so könnte ich den Gedanken nicht ertragen, Ihrem zärtlichen Herzen den Kummer für mich zu geben, den das meinige in dieser Gelegenheit für Sie gelitten. Aber Ihre glückliche Ankunft in W. und Ihr Vergnügen über Ihre Aussicht in die Zukunft hat mich dafür belohnt. Auch ohne dies, wie sehr, meine Emilia, bin ich erfreut, daß mir mein Schicksal zu gleicher Zeit einen[89] vergnügten Gegenstand zu etlichen Briefen an Sie gegeben hat! Denn hätte ich fortfahren müssen, über verdrießliche Begegnisse zu klagen, so wäre Ihre Zufriedenheit durch mich gestört worden, da Ihr liebreiches Herz einen so lebhaften Anteil an allem nimmt, was mich und die seltene Empfindsamkeit meiner Seele betrifft. Ich habe in dieser für mich so dürren moralischen Gegend, die ich seit drei Monaten durchwandre, zwei angenehme Quellen und ein Stück urbares Erdreich angetroffen, wobei ich mich eine Zeitlang aufhalten werde, um bei dem ersten meinen Geist und mein Herz zu erfrischen und für die Anpflanzung und Kultur guter Früchte bei dem letztern zu sorgen. Doch ich will ohne Gleichnis reden. Sie wissen, daß die Erziehung, die ich genossen, meine Empfindungen und Vorstellungen von Vergnügen mehr auf das Einfache und Nützliche lenkte als auf das Künstliche und nur allein Belustigende. Ich sah die Zärtlichkeit meiner Mama niemals in Bewegung als bei Erzählung einer edeln, großmütigen Handlung oder einer, so von der Ausübung der Pflichten und der Menschenliebe und andern Tugenden gemacht wurde. Niemals drückte sie mich mit mehr Liebe an ihr Herz, als wenn ich etwas sagte oder etwas für einen Freund des Hauses, für einen Bedienten oder Untertanen unternahm, so die Kennzeichen der Wohltätigkeit und Freude über anderer Vergnügen an sich hatte; und ich habe sehr wohl bemerkt, daß, wenn mir, wie tausend andern Kindern, ungefähr eine feine und schickliche Anmerkung oder ein Gedanke beigefallen, worüber oft die ganze Gesellschaft in Bewunderung und Lob ausgebrochen, sie nur einen Augenblick gelächelt und sofort die Achtung, welche mir ihre Freunde zeigen wollten, auf die Seite des tätigen Lebens zu lenken gesucht, indem sie entweder etwas von meinem Fleiß in Erlernung einer Sprache, des Zeichnens, der Musik oder anderer Kenntnisse lobte, oder von einer erbetenen Belohnung oder Wohltat für jemand redte, und mir also dadurch zu erkennen gab, daß gute Handlungen viel ruhmwürdiger sein als die feinsten Gedanken. Wie einnehmend bewies mein Papa mir diesen Grundsatz, da er mich in dem Naturreiche auf die Betrachtung führte, daß die Gattungen der Blumen, welche nur zu Ergötzung des Auges dienten, viel weniger zahlreich und[90] ihre Fruchtbarkeit weit schwächer wäre5 als der nützlichen Pflanzen, die zur Nahrung der Menschen und Tiere dienen; und waren nicht alle Tage seines Lebens mit der Ausübung dieses Satzes bezeichnet? Wie nützlich suchte er seinen Geist und seine Erfahrungen seinen Freunden zu machen? Was tat er für seine Untergebenen und für seine Untertanen? Nun, meine Emilie! mit diesen Grundsätzen, mit diesen Neigungen kam ich in die große Welt, worin der meiste Teil nur für Aug und Ohr lebt, wo dem vortrefflichen Geist nicht erlaubt ist, sich anders als in einem vorübergehenden witzigen Einfalle zu zeigen; und Sie sehen, mit wie vielem Fleiße meine Eltern die Anlage zu diesem Talent in mir zu zerstören suchten.

Ganz ist es nicht von mir gewichen; doch bemerkte ich seine Gegenwart niemals mehr als in einem Anfalle von Mißvergnügen oder Verachtung über jemands Ideen oder Handlungen. Urteilen Sie selbst darüber! Letzthin wurde ich durch meine Liebe für Deutschland in ein Gespräch verflochten, worin ich die Verdienste meines Vaterlandes zu verteidigen suchte; ich tat es mit Eifer; meine Tante sagte mir nachher, ich hätte einen schönen Beweis gegeben, daß ich die Enkelin eines Professors sei. – Dieser Vorwurf ärgerte mich. Die Asche meines Vaters und Großvaters war beleidigt, und meine Eigenliebe auch. Diese antwortete für alle dreie. »Es wäre mir lieber, durch meine Gesinnungen den Beweis zu geben, daß ich von edeldenkenden Seelen abstamme, als wenn ein schöner Name allein die Erinnerung gäbe, daß ich aus einem ehemals edeln Blute entsprossen sei.« Dieses verursachte eine Kälte von einigen Tagen unter uns beiden; doch unvermerkt erwärmten wir uns wieder. Meine Tante, denke ich, weil sie nach dem alt adeligen Stolz fühlte, wie empfindlich es sein müsse, wenn einem der Mangel von Ahnen vorgeworfen würde; und ich,[91] weil ich meine rächende Antwort mißbilligte, die mich just auf eben die niedere Stufe setzte, auf welcher mir meine Tante den unedlen Vorwurf gemacht hatte. Doch es ist Zeit, Sie zu einer von den zwoen Quellen zu führen, wovon ich Ihnen nach meiner Liebe zur Bildersprache geredet habe.

Die erste hat sich in Privatbesuchen gezeigt, welche meine Tante empfängt und ablegt, worin ich eine Menge abwechselnder Betrachtungen über die unendliche Verschiedenheit der Charakter und Geister machen kann, die sich in Beurteilungen, Erzählungen, Wünschen und Klagen abdrücken. Aber was für einen Zirkel von Kleinigkeiten damit durchloffen wird; mit was für Hastigkeit die Leute bemüht sind, einen Tag ihres Lebens auf die Seite zu räumen; wie oft der Hofton, der Modegeist, die edelsten Bewegungen eines von Natur vortrefflichen Herzen unterdrückt und, um das Auszischen der Modeherren und Modedamen zu vermeiden, mit ihnen lachen und beistimmen heißt: dies erfüllt mich mit Verachtung und Mitleiden. Der Durst nach Ergötzlichkeiten, nach neuem Putz, nach Bewunderung eines Kleides, eines Meubles, einer neuen schädlichen Speise, o meine Emilia! wie bange, wie übel wird meiner Seele dabei zumute, weil ich gewöhnt bin, allen Sachen ihren eigentlichen Wert zu geben! Ich will von dem falschen Ehrgeiz nicht reden, der so viele niedrige Intrigen anspinnt, vor dem im Glücke sitzenden Laster kriecht, Tugend und Verdienste mit Verachtung ansieht, ohne Empfindung Elende macht. – Wie glücklich sind Sie, meine Freundin! Ihre Geburt, Ihre Umstände haben Sie nicht von dem Ziel unserer moralischen Bestimmung entfernt; Sie können ohne Scheu, ohne Hindernis alle Tugenden, alle edeln und nützlichen Talente üben; in den Tagen Ihrer Gesundheit, in den Jahren Ihrer Kräfte alles Gute tun, was die meisten in der großen Welt in ihren letzten Stunden wünschen getan zu haben!

Indessen genießen dennoch Religion und Tugend ganz schätzbare Ehrenbezeugungen. Die Hofkirchen sind prächtig geziert, die besten Redner sind zu Predigern darinnen angestellt, die Gottesdienste werden ordentlich und ehrerbietig besucht; der Wohlstand im Reden, im Bezeugen wird genau und ängstlich beobachtet; kein Laster darf ohne Maske erscheinen;[92] ja selbst die Tugend der Nächstenliebe erhält eine Art von Verehrung in den ausgesuchten und feinen Schmeicheleien, die immer eines der Eigenliebe des andern macht. Alles dieses ist eine Quelle zu moralischen Betrachtungen für mich worden, aus welcher ich den Nutzen schöpfe, in den Grundsätzen meiner Erziehung immer mehr und mehr bestärkt zu werden. Oft beschäftigt sich meine Phantasie mit dem Entwurf einer Vereinigung der Pflichten einer Hofdame, zu denen sie von ihrem Schicksal angewiesen worden, mit den Pflichten der vollkommenen Tugend, welche zu dem Grundbau unserer ewigen Glückseligkeit erfodert wird. Es läßt sich eine Verbindung denken; allein es ist so schwer, sie immer in einer gleichen Stärke zu erhalten, daß mich nicht wundert, so wenig Personen zu sehen, die darum bekümmert sind. – Wie oft denke ich, wenn ein Mann, wie mein Vater war, den Platz des ersten Ministers hätte, dieser Mann wäre der verehrungswürdigste und glücklichste der Menschen.

Es ist wahr, viele Mühseligkeit würde seine Tage begleiten; doch die Betrachtung des großen Kreises, in welchem er seine Talente und sein Herz zum Besten vieler tausend Lebenden und Nachkommenden verwenden könnte; diese Aussicht, die schönste für eine wahrhaft erhabne und gütige Seele, müßte ihm alles leicht und angenehm machen. Die Kenntnis des menschlichen Herzens würde seinem feinen Geiste den Weg weisen, das Vertrauen des Fürsten zu gewinnen; seine Rechtschaffenheit, tiefe Einsicht und Stärke der Seele, fänden dadurch ihre natürliche Obermacht unterstützt, so daß die übrigen Hof- und Dienstleute sich für den Zügel und das Leitband des weisen und tugendhaften Ministers ebenso lenksam zeigen würden, als man sie täglich bei den Unvollkommenheiten des Kopfs und den Fehlern des Herzens derjenigen sieht, von welchen sie Glück und Beförderung erwarten. So, meine Emilia, beschäftigt sich meine Seele oft, seitdem ich von den Umständen, dem Charakter und den Pflichten dieser oder jener Person unterrichtet bin. Meine Phantasie stellt mich nach der Reihe an den Platz derer, die ich beurteile; dann messe ich die allgemeinen moralischen Pflichten, die unser Schöpfer jedem Menschen, wer er auch sei, durch ewige unveränderliche Gesetze[93] auferlegt hat, nach dem Vermögen und der Einsicht ab, so diese Person hat, sie in Ausübung zu bringen. Auf diese Weise war ich schon Fürst, Fürstin, Minister, Hofdame, Favorit, Mutter von diesen Kindern, Gemahlin jenes Mannes, ja sogar auch einmal in dem Platz einer regierenden und alles führenden Mätresse; und überall fand ich Gelegenheit, auf mannigfaltige Weise Güte und Klugheit auszuüben, ohne daß die Charakter oder die politische Umstände in eine unangenehme Einförmigkeit gefallen waren. Bei vielen habe ich Ideen und Handlungen angetroffen, deren Richtigkeit, Güte und Schönheit ich so leicht nicht hatte erreichen, noch weniger verbessern können; aber auch bei vielen war ich mit meinem Kopf und Herzen besser zufrieden als mit dem ihrigen. Natürlicherweise führte mich die Billigkeit nach diesen phantastischen Reisen meiner Eigenliebe auf mich selbst und die Pflichten zurück, die mir auszurichten angewiesen sind. Sie verband mich, so genau und streng in Berechnung meiner Talente und Kräfte für meinen Wirkungskreis zu sein, als ich es gegen andre war; und dadurch, meine Emilia, habe ich eine Quelle entdeckt, meine Aufmerksamkeit auf mich selbst zu verstärken, Kenntnisse, Empfindung und Überzeugung des Guten tiefer in mein Herz zu graben und mich von Tag zu Tag mehr zu versichern, wie sehr ein großer Beobachter der menschlichen Handlungen recht hatte, zu behaupten: »daß sehr wenige Personen sein, welche das ganze Maß ihrer moralischen und physikalischen Kräfte nützten«. Denn in Wahrheit, ich habe viele leere Stellen in dem Zirkel meines Lebens gefunden, zum Teil auch solche, die mit verwerflichen Sachen und nichts werten Kleinigkeiten ausgefüllt waren. Das soll nun weggeräumt werden, und weil ich nicht unter der glücklichen Klasse von Leuten bin, die gleich von Haus aus ganz klug, ganz gut sind, so will ich doch unter die gehören, die durch Wahrnehmungen des Schadens der andern weise und rechtschaffen werden, um ja nicht unter die zu geraten, welche nur durch Erfahrung und eignes Elend besser werden können.[94]


Fräulein von Sternheim an Emilien

Ich danke Ihnen, meine wahre Freundin, daß Sie mich an den Teil meiner Erziehung zurückgewiesen, der mich anführte, mich an den Platz der Personen zu stellen, wovon ich urteilen wollte; aber nicht allein, um zu sehen, was ich in ihren Umständen würde getan haben, sondern auch mir die so nötige menschenfreundliche Behutsamkeit zu geben, »nicht alles, was meinen Grundsätzen, meinen Neigungen zuwider ist, als böse oder niedrig anzusehen«. Sie haben mich daran erinnert, weil Ihnen meine Unzufriedenheit mit den Hofleuten zu unbillig und zu lebhaft und beinahe ungerecht schien. Ich habe Ihnen gefolgt und dadurch die zwote Quelle meiner Verbesserung gefunden, indem ich meine Abneigung vor dem Hofe durch die Vorstellung gemäßigt, daß gleichwie in der materiellen Welt alle mögliche Arten von Dingen ihren angewiesenen Kreis haben, darin sie alles antreffen, was zu ihrer Vollkommenheit beitragen kann: so möge auch in der moralischen Welt das Hofleben der Kreis sein, in welchem allein gewisse Fähigkeiten unsers Geistes und Körpers ihre vollkommene Ausbildung erlangen können; als z E. die höchste Stufe des feinen Geschmacks in allem, was die Sinnen rührt und von der Einbildungskraft abhängt; dahin nicht allein die unendliche Menge Sachen aller Künste und beinahe aller Notdürftigkeiten von Nahrung, Kleidung, Gerätschaft nebst allen Arten von Verzierungen gehören, deren alle Gattungen von äußerlichen Gegenständen fähig sind, sich beziehen. Der Hof ist auch der schicklichste Schauplatz, die außerordentliche Biegsamkeit unsers Geistes und Körpers zu beweisen; eine Fähigkeit, die sich daselbst in einer unendlichen Menge feiner Wendungen in Gedanken, Ausdruck und Gebärden, ja selbst in moralischen Handlungen äußert, je nachdem Politik, Glück oder Ehrgeiz von einer oder andern Seite eine Bewegung in der Hofluft verursachen. Viele Teile der schönen Wissenschaften haben ihre völlige Auspolierung in der großen Welt zu erhalten; gleichwie Sprachen und Sitten allein von den da wohnenden Grazien eine ausgesuchte angenehme Einkleidung bekommen. Alles dieses[95] sind schätzbare Vorzüge, die auf einen großen Teil der menschlichen Glückseligkeit ihren Einfluß haben und wohl ganz sicher Bestandteile davon ausmachen. Das Pflanzen- und Tierreich hat seine Züge von Schönheit und Zierlichkeit in Form, Ebenmaß und Farbenmischung; auch die rauhesten Nationen haben Ideen von Verschönerung. Unser Gesicht, Geschmack und Gefühl sind auch nicht umsonst mit so großer Empfindlichkeit im Vergleichen, Wählen, Verwerfen und Zusammensetzen begabt, so daß es ganz billig ist, diese Fähigkeiten zu benutzen, wenn nur die Menschen nicht so leicht und so gerne über die Grenzen träten, die für alles gezogen sind. Doch wer weiß, ob nicht selbst dieses Überschreiten der Grenzen seine Triebfeder in der Begierde nach Vermehrung der Vollkommenheit unsers Zustandes hat? Einer Begierde, die der größte Beweis der Güte unsers Schöpfers ist, weil sie, so sehr sie in gesunden und glücklichen Tagen irrig und übel verwendet wird, dennoch im Unglück, in dem Zeitpunkt der Auflösung unsers Wesens, ihre Aussicht und Hoffnung auf eine andere Welt und dort immer daurende unabänderliche Glückseligkeiten und Tugenden wendet und dadurch allein einen Trost erteilt, welchen alle andre Hülfsmittel nicht geben können. Sie denken leicht, meine Emilia, in wieviel Stunden des Nachdenkens und Überlegens sich alle diese hier nur flüchtig berührte Gegenstände abteilen lassen, und Sie sehen auch, daß mir dabei, neben den übrigen Zerstreuungen, die mir das Haus meiner Tante gibt, kein Augenblick zu Langerweile bleibt.

Nun will ich Sie zu dem Stück urbaren Erdreichs führen, das ich angetroffen habe. Dieses geschah auf dem Landgute des Grafen von F*. Eine Brunnenkur, deren sich die Gräfin bedient, gab Gelegenheit, daß wir auf ein paar Tage zu einem Besuch dahin reisten. Meine Tante hatte die Gräfin B* und das Fräulein R. auch hinbestellt, und der Zufall brachte den Lord Derby dazu. Gut, Haus und Garten ist sehr schön. Die Damen hatten viele kleine weibliche Angelegenheiten unter sich auszumachen; man schickte also das Fräulein R. und mich mit Herrn Derby auf einen Spaziergang. Erst durchliefen wir das ganze Haus und den Garten, wo Mylord in Wahrheit ein angenehmer Gesellschafter war, indem er uns von der Verschiedenheit[96] unterhielt, die der Nationalgeist eines jeden Volks in die Bauart und die Verzierungen legte. Er machte uns Beschreibungen und Vergleichungen von englischen, italienischen und französischen Gärten und Häusern, zeichnete auch wohl eines und das andre mit einer ungemeinen Fertigkeit und ganz artig ab. Kurz, wir waren mit unserm Spaziergang so wohl zufrieden, daß wir Abrede nahmen, den andern Tag nach dem Frühstück auf das freie Feld und in dem Dorfe herumzugehen.

Es waren zween glückliche Tage für mich. Landluft, freie Aussicht, Ruhe, schöne Natur, der Segen des Schöpfers auf Wiesen und Kornfeldern, die Emsigkeit des Landmanns. – Mit wieviel Zärtlichkeit und Bewegung heftete ich meine Blicke auf dies alles! Wieviel Erinnerungen brachte es in mein Herz von verflossenen Zeiten, von genossener Zufriedenheit! Wie eifrig machte ich Wünsche für meine Untertanen; für Segen zu ihrer Arbeit und für die Zurückkunft meiner Tante R.! Sie wissen, meine Emilia, daß mein Gesicht allezeit die Empfindungen meiner Seele ausdrückt. Ich mag zärtlich und gerührt ausgesehen haben; der Ton meiner Stimme stimmte zu diesen Zügen. Aber Lord Derby erschreckte mich beinahe durch das Feuer, mit dem er mich betrachtete, durch den Eifer und die Hastigkeit, womit er mich bei der Hand faßte, und auf englisch sagte: »Gott! wenn die Liebe einmal diese Brust bewegt und diesen Ausdruck von zärtlicher Empfindung in diese Gesichtszüge legt, wie groß wird das Glück des Mannes sein, der – –«

Meine Verwirrung, die Art von Furcht, die er mir gab, war ebenso sichtbar als meine vorige Bewegungen; sogleich hielt er in seiner Rede inne, zog seine Hand ehrerbietig zurück und suchte in allem seinem Bezeugen den Eindruck von Heftigkeit seines Charakters zu mildern, den er mir gegeben hatte.

Wir gingen in die Hauptgasse des schönen Dorfs; da wir in der Hälfte waren, mußten wir einem Karrn ausweichen, der hinter uns gefahren kam. Er war mit einer dichten Korbflechte bedeckt, doch sah man eine Frau mit drei ganz jungen Kindern darin. Die rührende Traurigkeit, die ich auf dem Gesichte der Mutter erblickte, das blasse, hagere Aussehen der Kinder, die reinliche, aber sehr schlechte Kleidung von allen zeugte von[97] Armut und Kummer dieser kleinen Familie. Mein Herz wurde bewegt; die Vorstellung ihrer Not und die Begierde zu helfen wurden gleich stark. Froh, sie an dem Wirtshause absteigen zu sehen, bedacht ich mich nicht lange. Ich gab vor, ich kennte diese Frau und wollte etwas mit ihr reden, und bat den Lord Derby, das Fräulein R. zu unterhalten, bis ich wiederkäme. Er sah mich darüber mit einem ernsthaften Lächeln an und küßte den Teil seines Ärmels, wo ich im Eifer meine Hand auf seinen Arm gelegt hatte. Ich errötete und eilte zu der armen Familie.

Bei dem Eintritt in das Haus fand ich alle im Gang an einer Stiege sitzen; die Frau mit weinenden Augen beschäftigt, aus einem kleinen Sack ein seiden Halstuch und eine Schürze zu nehmen, die sie der Wirtin zu kaufen anbot, um Geld genug zu bekommen, den Fuhrmann zu bezahlen. Zwei Kinder riefen um Brot und Milch; ich faßte mich, so äußerst gerührt ich war, näherte mich und sagte der armen Frau mit der Miene einer Bekannten, es wäre mir lieb, sie wiederzusehen. Ich tat dieses, um ihr die Verwirrung zu vermeiden, die ein empfindliches Herz fühlt, wenn es viele Zeugen seines Elends hat, und weil der Unglückliche eine Art von Achtung, so ihm Angesehene und Begüterte erweisen, auch als einen Teil Wohltat aufnimmt. Ich sagte der Wirtin, sie sollte mir ein Zimmer anweisen, in welchem ich mit der Frau allein reden könnte, und bestellte, den Kindern ein Abendbrot zurechte zu machen. Während ich dieses sagte, machte die Wirtin ein Zimmer auf, und die gute arme Frau stund mit ihrem kleinen Kind im Arm da und sah mich mit fremdem Erstaunen an. Ich reichte ihr die Hand und bat sie, in das Zimmer zu gehen, wohin ich die zwei ältern Kinder führte. Da ich die Türe zugemacht, leitete ich die zitternde Mutter zu einem Stuhl, mit dem Zeichen, sich zu setzen, bat sie, ruhig zu sein und mir zu vergeben, daß ich mich ihr so zudringe. Ich wollte auch nicht unbescheiden mit ihr handeln; sie solle mich für ihre Freundin ansehen, die nichts anders wünsche, als ihr an einem fremden Orte nützlich zu sein. Eine Menge Tränen hinderten sie zu reden, dabei sah sie mich mit einem von Hoffnung und Jammer bezeichneten Gesichte an.[98]

Ich reichte ihr wehmütig die Hand. »Sie leiden für Sie und Ihre Kinder unter einem harten Schicksal«, sagte ich; »ich bin reich und unabhängig, mein Herz kennt die Pflichten, welche Menschlichkeit und Religion den Begüterten auflegen; gönnen Sie mir das Vergnügen, diese Pflichten zu erfüllen und Ihren Kummer zu erleichtern.« Indem ich dieses sagte, nahm ich von meinem Gelde, bat sie, es anzunehmen und mir den Ort ihres Aufenthalts zu sagen. Die gute Frau rutschte von ihrem Stuhle auf die Erde und rief mit äußerster Bewegung aus:

»O Gott, was für ein edles Herz läßt du mich antreffen!«

Die zwei größern Kinder liefen der Mutter zu, fielen um ihren Hals und fingen an zu weinen. Ich umarmte sie, hob sie auf, umfaßte die Kinder und bat die Frau, sich zu fassen und stille zu reden. Es sollte hier niemand als ich ihr Herz und ihre Umstände kennen; sie sollte glauben, daß ich mich glücklich achten würde, ihr Dienste zu beweisen; voritzt aber wollte ich nichts als den Ort ihres Aufenthalts wissen und ihr meinen Namen aufschreiben, welches ich auch sogleich mit Reißblei tat und ihr das Papier überreichte.

Sie sagte mir, daß sie wieder nach D*, wo ihr Mann wäre, zurückginge, nachdem sie von einem Bruder, zu dem sie Zuflucht hätte nehmen wollen, abgewiesen worden wäre. Sie wollte mir alle Ursachen ihres Elends aufschreiben und sich dann meiner Güte in Beurteilung ihrer Fehler empfehlen. Nach diesem las sie mein Papier. »Sind Sie das Fräulein von Sternheim? O was ist der heutige Tag für mich? Ich bin die Frau des unglücklichen Rats T. Wenn Sie mich Ihrer Tante, der Gräfin L. nennen, so verliere ich vielleicht Ihr Mitleiden; aber verdammen Sie mich nicht ungehört!« – Dies sagte sie mit gefalteten Händen. Ich versprach es ihr gerne, umarmte sie und die Kinder und nahm Abschied mit dem Verbot, daß sie nichts von mir reden und die Wirtin glauben lassen sollte, daß wir einander kenneten. Im Weggehen befahl ich der Wirtin, der Mutter und den Kindern gute Betten, Essen und den folgenden Morgen eine gute Kutsche zu geben, ich wollte für die Bezahlung sorgen. Mylord und das Fräulein R. waren in dem Garten des Wirtshauses, wo ich sie antraf und ihnen für die Gefälligkeit dankte, daß sie auf mich gewartet hatten. Mein Gesicht hatte[99] den Ausdruck des Vergnügens, etwas Gutes getan zu haben; aber meine Augen waren noch rot von Weinen. Der Lord sah mich oft und ernsthaft an und redete den ganzen übrigen Spaziergang sehr wenig mit mir, sondern unterhielt das Fräulein R.; dies war mir desto angenehmer, weil es mich an einen Entwurf denken ließ, dieser ganzen Familie so viel mir möglich aufzuhelfen, und dies, meine Emilia, ist das Stück urbaren Erdreichs, so ich angetroffen: wo ich Sorgen, Freundschaft und Dienste aussäen will. Die Ernte und der Nutzen soll den drei armen Kindern zugute kommen. Denn ich hoffe, daß die Eltern der Pflichten der Natur getreu genug sein werden, um davon keinen andern Gebrauch, als zum Besten ihrer unschuldigen und unglücklichen Kinder zu machen. Gelingt mir alles, was ich tun will und was mir mein Herz angibt, so will ich meinen Aufenthalt segnen; dann nun achte ich die Zeit, die ich hier bin, nicht mehr für verloren. Ich soll in wenigen Tagen von den Ursachen des Unglücks dieser Familie Nachricht erhalten, nach dem werde ich erst eigentlich wissen, was ich zu tun habe. Der Rat T* ist sehr krank, deswegen konnte die Frau noch nicht schreiben. Vorgestern kamen wir zurück.


Mylord Derby an Mylord B* in Paris

Du bist begierig, den Fortgang meiner angezeigten Intrige zu wissen. Ich will dir alles sagen. Weil man doch immer einen Vertrauten haben muß, so kannst du diese Ehrenstelle vertreten und dabei für dich selbst lernen.

Laß dir nicht einfallen, zur Unzeit ein dummes Gelächter anzufangen, wenn ich dir frei bekenne, daß ich noch nicht viel würde gewonnen haben, wenn der Zufall nicht mehr als mein Nachdenken und die feinste Wendung meines Kopfs zu Beförderung meiner Absichten beigetragen hätte. Ich bin damit zufrieden; denn meine Liebesgeschichte stehet dadurch in der nämlichen Klasse wie die Staatsgeschäfte der Höfe; der Zufall tut bei vielen das meiste, und die Weisheit manches Ministers besteht allein darin, durch die Kenntnis der Geschichte der vergangenen und gegenwärtigen Staaten diesen Augenblick des[100] Zufalls zu benutzen und die übrige Welt glauben zu machen, daß es die Arbeit seiner tiefen Einsichten gewesen sei6. Nun sollst du sehen, wie ich diese Ähnlichkeit gefunden und wie ich mir eine unvorgesehene Gelegenheit durch die Historie der Leidenschaften und die Kenntnisse des weiblichen Herzens zu bedienen gewußt habe.

Ich war vor einigen Tagen in einer ungeduldigen Verlegenheit über die Auswahl der Mittel, die ich brauchen müßte, um das Fräulein von Sternheim zu gewinnen. Hätte sie nur gewöhnlichen Witz und gewöhnliche Tugend, so wäre mein Plan leicht gewesen; aber da sie ganz eigentlich nach Grundsätzen denkt und handelt, so ist alles, wodurch ich sonst gefiel, bei ihr verloren. Besitzen muß ich sie, und das mit ihrer Einwilligung. Dazu gehört, daß ich mir ihr Vertrauen und ihre Neigung erwerbe. Nun bleibt mir nichts übrig, als mir, wie der Minister, zufällige Anlässe nützlich zu machen. Von beiden erfuhr ich letzthin die Probe auf dem Landgut der Gräfin F*. Ich wußte, daß das Fräulein mit ihrer Tante auf etliche Tage hinging, und fand mich auch ein. Ich kam zweimal mit meiner Göttin und dem Fräulein R. allein auf den Spaziergang und hatte Anlaß, etwas von meinen Reisen zu erzählen. Du weißt, daß meine Augen gute Beobachter sind und daß ich manche halbe Stunde ganz artig schwatzen kann. Der Gegenstand war von Gebäuden und Gärten. Das Fräulein von Sternheim liebt Verstand und Kenntnisse. Ich machte mir ihre Aufmerksamkeit ganz vorteilhaft zunutze und habe ihre Achtung für meinen Verstand so weit erhalten, daß sie eine Zeichnung zu sich nahm, die ich währender Erzählung von einem Garten in England machte. Sie sagte dabei zu Fräulein R.: »Dieses Papier will ich zu einem Beweis aufheben, daß es Kavaliere gibt, die zu ihrem Nutzen und zum Vergnügen ihrer Freunde reisen.« Dies ist ein wichtiger Schritt, der mich weit genug führen wird. Keine lächerliche[101] Grimasse, dummer Junge, daß du mich über diese Kleinigkeit froh siehst, da ich es sonst kaum über den ganzen Sieg war; ich sage dir, das Mädchen ist außerordentlich. Aus ihren Fragen bemerkte ich eine vorzügliche Neigung für England, die mir ohne meine Bemühung von selbst Dienste tun wird. Ich redete vergnügt und ruhig fort; denn da sie durch die gleichgültige Gegenstände unserer Unterredung zufrieden und vertraut wurde, so hütete ich mich sehr, meine Liebe und eine besondere Aufmerksamkeit zu entdecken. Aber bald wäre ich aus meiner Fassung geraten, weil ich eine Veränderung der Stimme und Gesichtszüge des Fräuleins von Sternheim wahrnahm. Sie schien bewegt; ihre Antworten waren abgebrochen; ich redete aber mit Fräulein R., soviel ich konnte, gleichgültig fort, beobachtete aber die Sternheim genau. Indem brachte uns ein erhöheter Gang in dem Garten auf einen Platz, wo man das freie Feld entdeckte. Wir blieben stehen. Das bezaubernde Fräulein von Sternheim heftete ihre Blicke auf eine gewisse Gegend; eine feine Röte überzog ihr Gesicht und ihre Brust, die von der Empfindung des Vergnügens eine schnellere Bewegung zu erhalten schien. Sehnsucht war in ihrem Gesicht verbreitet, und eine Minute darauf stund eine Träne in ihren Augen. B*, alles, was ich jemals Reizendes an andern ihres Geschlechts gesehen, ist nichts gegen den einnehmenden Ausdruck von Empfindung, der über ihre ganze Person ausgegossen war. Kaum konnte ich dem glühenden Verlangen widerstehen, sie in meine Arme zu schließen. Aber ganz zu schweigen war mir unmöglich. Ich faßte eine ihrer Hände mit einem Arme, der vor Begierde zitterte, und sagte ihr auf englisch: ich weiß nicht mehr was; aber die Wut der Liebe muß aus mir gesprochen haben; denn ein ängstlicher Schrecken nahm sie ein und entfärbte sie bis zur Totenblässe. Da war's Zeit mich zu erholen, und ich befliß mich, den ganzen übrigen Abend recht ehrerbietig und gelassen zu sein. Mein Täubchen ist noch nicht kirre genug, um das Feuer meiner Leidenschaft in der Nähe zu sehen. Dieses loderte die ganze Nacht in meiner Seele; keinen Augenblick schlief ich; immer sah ich das Fräulein vor mir, und meine Hand schloß sie zwanzigmal mit der nämlichen Heftigkeit zu, mit welcher ich die ihrige gefaßt hatte. Rasend dachte ich,[102] Sehnsucht und Liebe in ihr gesehen zu haben, die einen Abwesenden zum Gegenstand hatten; aber ich schwur mir, sie mit oder ohne ihre Neigung zu besitzen. Wenn sie Liebe, feurige Liebe für mich bekömmt, so kann es sein, daß sie mich fesselt; aber auch kalt soll sie mein Eigentum werden.

Der Morgen kam und fand mich wie einen tollen brennenden Narren mit offener Brust und Verstörten Gesichtszügen am Fenster. Der Spiegel zeigte mich mir unter einer Satansgestalt, die fähig gewesen wäre, das gute furchtsame Mädchen auf immer vor mir zu verscheuchen. Wild über die Gewalt, so sie über mich gewonnen, und entschlossen, mich dafür schadlos zu halten, warf ich mich aufs Bette und suchte einen Ausweg aus diesem Gemische von neuen Empfindungen und meinen alten Grundsätzen zu finden. Geduld brauchte es auf dem langweiligen Weg, den ich vor mir sah; weil ich nicht wissen konnte, daß der Nachmittag mir zu einem großen Sprung helfen würde. Als ich wieder in ihre Gesellschaft kam, war ich lauter Sanftmut und Ehrfurcht; das Fräulein stille und zurückhaltend. Nach dem Essen ließ man uns junge Leute wieder gehen, weil die Tante und die Gräfin F* die Karte noch vollends zu mischen hatten, mit welcher sie das Fräulein dem Fürsten zuspielen wollten. Nach unserer Abrede vom vorigen Tage gingen wir in das Dorf. Als wir gegen das Wirtshaus kamen, wo meine Leute einquartieret waren, begegnete uns ein kleiner Wagen mit einer Frau und Kindern beladen, der langsam vorbeiging und uns hinderte vorzukommen. Meine Sternheim sieht die Frau starr an, wird rot, nachdenklich, betrübt, alles schier in einem Anblick, und sieht dem Wagen melancholisch nach. Dieser hält an dem Wirtshause, die Leute steigen aus; die Blicke des Fräuleins sind unbeweglich auf sie geheftet; Unruhe nimmt sie ein; sie sieht mich und das Fräulein R* an, wendet die Augen weg, endlich legt sie ihre Hand auf meinen Arm, und sagt mir auf englisch mit einem verschönerten Gesichte und bittender zärtlicher Stimme: »Lieber Lord, unterhalten Sie doch das Fräulein R* einige Augenblicke hier, ich kenne diese Frau und will ein paar Worte mit ihr reden.« Ich stutzte, machte eine einwilligende Verbeugung und küßte den Platz meines Rocks, wo ihre Hand gelegen war und mich sanft gedrückt[103] hatte. Sie sieht dieses. Brennendrot und verwirrt eilt sie weg. Was T- dachte ich, muß das Mädchen mit dem Weibe haben; sie mag wohl irgend einmal Briefträgerin oder sonst eine dienstfertige Kreatur in einem verborgenen Liebeshandel gewesen sein. Gestern nach meiner zärtlichen Anrede war das Mädchen stutzig; heute den ganzen Tag trocken, hoch, sah mich kaum an; ein Bettelkarrn führt eine Art Kupplerin herbei, und ihre Gesichtszüge verändern sich, sie hat mit sich zu kämpfen, und endlich werde ich der liebe Lord, auf den man die schöne Hand legt, seinen Arm zärtlich drückt, die Stimme, den Blick beweglich macht, um zu einer ungehinderten Unterredung mit diesem Weibe zu kommen. Hm! Hm! wie sieht's mit dieser strengen Tugend aus? Ich hätte das Fräulein R* in der Mistpfütze ersäufen mögen, um mich in dem Wirtshause zu verbergen und zuzuhören. Diese sieht der Sternheim nach; und sagt: »Was macht das Fräulein in dem Wirtshause?« Ich antwortete kurz: sie hätte mir gesagt, daß sie diese Bettelfrau kenne und mit ihr etwas zu reden hätte. Sie lacht, schüttelt den Kopf mit der Miene des Affengesichts, das lang über die Vorzüge der Freundin neidisch war, nichts tadeln konnte, und nun eine innerliche Freude über den Schein eines Fehlers fühlte. »Es wird wohl eine alte gute Bekanntin vom Dorfe P. sein«, zischte die Natter, mit einem Ansehen, als ob sie ganz unterrichtet wäre. Ich sagte ihr: ich wollte einen meiner Leute horchen lassen, denn ich wäre selbst über diesen Vorgang in Erstaunen; schickte auch einen nach ihr und suchte indessen die R* folgends auszulocken: was sie wohl von Fräulein Sternheim denke?

»Daß sie ein wunderliches Gemische von bürgerlichem und adeligem Wesen vorstellt und ein wunderlich Gezier von Delikatesse macht, die sie doch nicht souteniert. Denn was für ein Bezeugen von einer Person vom Stande ist das, von einer Dame und einem Kavalier wegzulaufen, um – ich weiß nicht, wie ich sagen soll – eine Frau zu sprechen, die sehr schlecht aussieht und die vielleicht am besten die Art angeben könnte, wie dieses Herz zu gewinnen ist, ohne daß die vielen Anstalten und Vorkehrungen nötig wären, die man mit ihr macht.« –

Ich sagte wenig darauf, doch so viel, um sie in Atem zu halten,[104] weiterzureden. Die Genealogie des Fräuleins Sternheim wurde also vorgenommen, ihr Vater und ihre Mutter verleumdet und die Tochter lächerlich gemacht; mehr habe ich nicht behalten, der Kopf war mir warm. Die Sternheim blieb ziemlich lange weg. Endlich kam sie mit einem gerührten, doch zufriednen Gesichte, etwas verweinten Augen und ruhigem Lächeln gegen uns, und mit einem Ton der Stimme, so weich, so voll Liebe, daß ich noch toller als vorher wurde und gar nicht mehr wußte, was ich denken sollte.

Das Fräulein R* betrachtete sie auf eine beleidigende Weise, und meine Göttin mochte unsere Verlegenheit gemerkt haben, denn sie schwieg, wie wir, in einem fort, bis wir wieder zu Hause kamen. Ich eilte abends fort, um meine Nachrichten zu hören. Da erzählte mir mein Kerl: Er hätte die Wirtin und die Frau heulend über die Güte des Fräuleins angetroffen; die Frau sei dem Fräulein ganz fremd gewesen, hätte sich über das Anreden dieser Dame verwundert und wäre ihr mit sorgsamem Gesicht in die Stube gefolgt, wohin sie sie mit den Kindern geführt. Da hätte ihr das Fräulein zugesprochen, sie um Vergebung für ihr Zudringen gebeten und Hülfe angeboten, auch wirklich Geld gegeben, und nachdem sie erfahren, daß sie nach D* gehe und dort wohne, hätte sie ihren Namen und Aufenthalt der Frau aufgeschrieben und ihr auf das liebreichste fernere Dienste versichert, auch bei der Wirtin eine gute Kutsche bestellt, welche die Frau und Kinder nach Hause bringen sollte.

Ich dachte, mein Kerl oder ich müßte ein Narr sein und widersprach ihm alles; aber er fluchte mir die Wahrheit seiner Geschichte; und ich fand, daß das Mädchen den wunderlichsten Charakter hat. Was T-wird sie rot und verwirrt, wenn sie etwas Gutes tun will; was hatte sie uns zu belügen, sie kenne die Frau; besorgte sie, wir möchten Anteil an ihrer Großmut nehmen?

Aber diese Entdeckung, das Ungefähr, werde ich mir zunutze machen; ich will die Familie aufsuchen und ihr Gutes tun, wie Engländer es gewohnt sind, und dieses, ohne mich merken zu lassen, daß ich etwas von ihr weiß. Aber gewiß werde ich keinen Schritt machen, den sie nicht sehen soll. Durch diese Wohltätigkeit werde ich mich ihrem Charakter nähern,[105] und da man sich allezeit mit einer gewissen zärtlichen Neigung an die Gegenstände seines Mitleidens und seiner Freigebigkeit heftet, so muß in ihr notwendigerweise eine gute Gesinnung für denjenigen entstehen, der, ohne ein Verdienst dabei zu suchen, das Glück in eine Familie zurückrufen hilft. Ich werde schon einmal zu sagen wissen, daß ihr edles Beispiel auf mich gewirkt habe, und wenn ich nur eine Linie breit Vorteil über ihre Eigenliebe gewonnen habe, so will ich bald bei Zollen und Spannen weitergehen.

Sie beobachtet mich scharf, wenn ich nahe bei ihr in ein Gespräch verwickelt bin. Dieser kleinen List, mich ganz zu kennen, setzte ich die entgegen, allezeit, wenn sie mich hören konnte, etwas Vernünftiges zu sagen oder den Diskurs abzubrechen und recht altklug auszusehen. Aber ob schon ihre Zurückhaltung gegen mich schwächer geworden ist, so ist es doch nicht Zeit von Liebe zu reden; die Waagschale zieht noch immer für Seymour. Ich möchte wohl wissen, warum das gesunde junge Mädchen den blassen traurigen Kerl meiner frischen Farbe und Figur vorzieht und seinen krächzenden Ton der Stimme lieber hört als den muntern Laut der meinigen, seine toten Blicke sucht und mein redendes Auge flieht? Sollte soviel Wasser in ihre Empfindungen gegossen sein? Das wollen wir beim Ball sehen, der angestellt ist, denn da muß eine Lücke ihres Charakters zum Vorschein kommen, wenigstens sind alle möglichen Anstalten gemacht worden, um die tiefschlafendsten Sinnen in eine muntere Geschäftigkeit zu bringen. Deinem Freund wird das Erwachen der ihrigen nicht entgehen, und dann will ich schon Sorge tragen, sie nicht einschlummern zu lassen.


Fräulein von Sternheim an Emilia

Ich komme von der angenehmsten Reise zurück, die ich jemals mit meiner Tante gemacht habe. Wir waren zehn Tage bei dem Grafen von T*** auf seinem Schlosse, und haben da die verwitibte Gräfin von Sch*, welche immer da wohnt, zwei andere Damen von der Nachbarschaft und zu meiner unbeschreiblichen[106] Freude den Herrn ** gefunden, dessen vortreffliche Schriften ich schon gelesen und soviel Feines für mein Herz und meinen Geschmack daraus erlernt hatte. Der ungezwungene ruhige Ton seines Umgangs, unter welchen er seinen Scharfsinn und seine Wissenschaft verbirgt; und die Gelassenheit, mit welcher er sich in Zeitvertreibe und Unterredungen einflechten ließ, die der Größe seines Genies und seiner Kenntnissen ganz unwürdig waren, erregten in mir für seinen leutseligen Charakter die nämliche Bewunderung, welche die übrige Welt seinem Geiste widmet. Immer hoffte ich auf einen Anlaß, den man ihm geben würde, uns allen etwas Nützliches von den schönen Wissenschaften, von guten Büchern, besonders von der deutschen Literatur zu sagen, wodurch unsere Kenntnisse und unser Geschmack hätte verbessert werden können; aber wie sehr, meine Emilia, fand ich mich in meiner Hoffnung betrogen! Niemand dachte daran, die Gesellschaft dieses feinen, gütigen Weisen für den Geist zu benützen; man mißbrauchte seine Geduld und Gefälligkeit auf eine unzählbare Art mit geringschätzigen Gegenständen, auf welchen der Kleinigkeitsgeist haftet, oder mit neu angekommenen französischen Broschüren, wobei man ihm übelnahm, wenn er nicht darüber in Entzückung geriet, oder wenn er auch andere Sachen nicht so sehr erhob, als man es haben wollte. O! wie geizte ich nach jeder Minute, die mir dieser hochachtungswerte Mann schenkte; wenn er mit dem liebreichsten, meiner Wißbegierde und Empfindsamkeit angemeßnen Tone meine Fragen beantwortete, oder mir vorzügliche Bücher nannte und mich lehrte, wie ich sie mit Nutzen lesen könne. Mit edler Freimütigkeit sagte er mir einst: Ob sich schon Fähigkeiten und Wissensbegierde in beinahe gleichem Grade in meiner Seele zeigten, so wäre ich doch zu keiner Denkerin geboren; hingegen könnte ich zufrieden sein, daß mich die Natur durch die glücklichste Anlage, den eigentlichen Endzweck unsers Daseins zu erfüllen, dafür entschädigt hätte; dieser bestehe eigentlich im Handeln, nicht im Spekulieren;7 und da ich die Lücken, die andre in ihrem moralische – Leben und[107] in dem Gebrauch ihrer Tage machen, so leicht und fein empfände, so sollte ich meine Betrachtungen darüber durch edle Handlungen, deren ich so fähig sei, zu zeigen suchen.8

Niemals, meine Emilia, war ich glücklicher als zu der Zeit, da dieser einsichtsvolle Ausspäher der kleinsten Falten des menschlichen Herzens dem meinigen das Zeugnis edler und tugendhafter Neigungen beilegte. Er verwies mir, mit der achtsamsten Güte, meine Zaghaftigkeit und Zurückhaltung in Beurteilung der Werke des Geistes und schrieb mir eine richtige Empfindung zu, welche mich berechtigte, meine Gedanken so gut als andre zu sagen. Doch bat er mich, weder im Reden noch im Schreiben einen männlichen Ton zu suchen. Er behauptete, daß es die Wirkung eines falschen Geschmacks sei, männliche Eigenschaften des Geistes und Charakters in einem Frauenzimmer vorzüglich zu loben. Wahr sei es, daß wir überhaupt gleiche Ansprüche, wie die Männer, an alle Tugenden und an alle die Kenntnisse hätten, welche die Ausübung derselben befördern, den Geist aufklären oder die Empfindungen und Sitten verschönern; aber daß immer in der Ausübung davon die Verschiedenheit des Geschlechts bemerkt werden müsse. Die Natur selbst habe die Anweisung hiezu gegeben, als sie, z. E. in der Leidenschaft der Liebe, den Mann heftig, die Frau zärtlich gemacht; in Beleidigungen jenen mit Zorn, diese mit rührenden Tränen bewaffnet; zu Geschäften und Wissenschaften dem männlichen Geiste Stärke und Tiefsinn, dem weiblichen Geschmeidigkeit und Anmut; in Unglücksfällen dem Manne Standhaftigkeit und Mut, der Frau Geduld und Ergebung vorzüglich mitgeteilt; im häuslichen Leben jenem die Sorge für[108] die Mittel der Familie zu erhalten, und dieser die schickliche Austeilung derselben aufgetragen habe usw. Auf diese Weise, und wenn ein jeder Teil in seinem angewiesnen Kreise bliebe, liefen beide in der nämlichen Bahn, wiewohl in zwoen verschiedenen Linien, dem Endzweck ihrer Bestimmung zu; ohne daß durch eine erzwungene Mischung der Charakter die moralische Ordnung gestört würde. – Er suchte mich mit mir selbst und meinem Schicksale, über welches ich Klagen führte, zufriedenzustellen und lehrte mich, immer die schöne Seite einer Sache zu suchen, den Eindruck der widrigen dadurch zu schwächen und auf diese nicht mehr Aufmerksamkeit zu wenden, als vonnöten sei, den Reiz und Wert des Schönen und Guten desto lebhafter zu empfinden.

O Emilia! in dem Umgang dieses Mannes sind die besten Tage meines Geistes verflossen! Es ist etwas in mir, das mich empfinden läßt, daß sie nicht mehr zurückkommen werden, daß ich niemals so glücklich sein werde, nach meinen Wünschen und Neigungen, so einfach, so wenig fodernd sie sind, leben zu können! Schelten Sie mich nicht gleich wieder über meine zärtliche Kleinmütigkeit; vielleicht ist die Abreise des Herrn* * daran Ursache, die für mich eine abscheuliche Leere in diesem Hause läßt. Er kommt nur manchmal hieher. Wie Pilgrime einen verfallenen Platz besuchen, wo ehemals ein Heiliger wohnte, besucht er dieses Haus, um noch den Schatten des großen Mannes zu verehren, der hier lebte, dessen großen Geist und erfahrne Weisheit er bewunderte, der sein Freund war und ihn zu schätzen wußte.

Den Tag nach seiner Abreise langte ein kleiner französischer Schriftsteller an, den ein Mangel an Pariser Glück und die seltsame Schwachheit unsers Adels, »die französische Belesenheit immer der Deutschen vorzuziehen«, in dieses Haus führte. Die Damen machten viel Wesens aus der Gesellschaft eines Mannes, der geraden Weges von Paris kam, viele Marquisinnen gesprochen hatte und ganze Reihen von Abhandlungen über Moden, Manieren und Zeitvertreiber der schönen Pariser Welt zu machen wußte; der bei allen Frauenzimmerarbeiten helfen konnte und der galanten Witib sein Erstaunen über die Delikatesse ihres Geistes und über die Grazien ihrer Person und ihrer gar[109] nicht deutschen Seele in allen Tönen und Wendungen seiner Sprache vorsagte.

So angenehm es mir anfangs war, ein Urbild der Gemälde zu sehen, die mir schon oft in Büchern von diesen Mietgeistern der Reichen und Großen in Frankreich vorgekommen waren; so wurde ich doch schon am vierten Tag seiner leeren und nur in andern Worten wiederholten Erzählungen von Meubles, Putz, Gastereien und Gesellschaften in Paris herzlich müde. Aber die Szene wechselte bei der Rückkunft des Herrn**, der sich die Mühe nahm, diesen aus Frankreich berufenen Hausgeist an den Platz seiner Bestimmung zu setzen.

Das Gepränge, womit das sklavische Vorurteil, so unser Adel für Frankreich hat, dem Herrn** den Pariser vorstellte; das Gezier, die Selbstzufriedenheit, womit der Franzose sich als den Autor sehr artiger und beliebter Büchergen anpreisen hörte, würde meine Emilia, wie mich, geärgert haben.

Aber wie schön leuchtete die Bescheidenheit unsers weisen Landmanns hervor, der mit der Menschenfreundlichkeit, womit der echte Philosoph die Toren zu ertragen pflegt, den Eindruck verhehlte, den der fade Bel-esprit auf ihn machen mußte, ja sogar sich mit wahrer Herablassung erinnerte, eines von seinen Schriftchen gelesen zu haben.

Mir schien der ganze Vorgang, als ob ein armer Prahler mit lächerlichem Stolze den edeln Besitzer einer Goldmine ein Stückgen zackicht ausgeschnittenes Flittergold zeigte, es zwischen seinen Fingern hin und her wendete und sich viel mit dem Geräusche zugute täte, so er damit machen könnte, und wozu freilich der Vorrat gediegenen Goldes des edelmütigen Reichen nicht tauglich ist; aber dieser lächelte den Toren mit seinem Spielwerk leutselig an und dächte, es schimmert und tönt ganz artig, aber du mußt es vor dem Feuer der Untersuchung und dem Wasser der Widerwärtigkeit9 bewahren, wenn dein Vergnügen dauerhaft sein soll.[110]

Herr** fragte den Bel-esprit nach den großen Männern in Frankreich, deren Schriften er gelesen hätte und hochschätzte; aber er kannte sie, wie wir andern, nur dem Namen nach und schob immer anstatt eines Mannes von gelehrten Verdiensten den Namen eines reichen oder großen Hauses ein.

Ich, die schon lange über den übeln Gebrauch, den man von der Gesellschaft und Gefälligkeit des Herrn** machte, erbost war, zumal da ihn dem ungeachtet alle um sich haben wollten und mich wie neidischsumsende Wespen hinderten, etwas Honig für mich zu sammeln, auch nur den Pariser immer reden machten: ich warf endlich die Frage auf: Was für einen Gebrauch die französischen Damen von dem Umgang ihrer Gelehrten machten? Ich vernahm aus der Antwort, sie lernten von ihnen:

Die Schönheiten der Sprache und des Ausdrucks;

Von allen Wissenschaften eine Idee zu haben, um hie und da etliche Worte in die Unterredung mischen zu können, die ihnen den Ruhm vieler Kenntnisse er haschen hälfen;

Wenigstens die Namen aller Schriften zu wissen und etwas, das einem Urteil gleiche, darüber zu sagen;

Sie besuchten auch mit ihnen die öffentlichen physikalischen Lehrstunden, wo sie ohne viele Mühe sehr nützliche Begriffe sammelten;

Ingleichem die Werkstätte der Künstler, deren Genie für Pracht und Vergnügen arbeitet, und alles dieses trüge viel dazu bei, ihre Unterredungen so angenehm und abwechselnd zu machen.

Da fühlte ich mit Unmut die vorzügliche Klugheit der französischen Eigenliebe, die sich in so edle nützliche Auswüchse verbreitet. Immer genug, wenn man begierig ist, die Blüte der Bäume zu kennen; bald wird man auch den Wachstum und die Reife der Früchte erforschen wollen.

Wieviel hat diese Nation voraus, denn nichts wird schneller allgemein als der Geschmack des Frauenzimmers.

Warum brachten seit so vielen Jahren die meisten unserer[111] Kavaliere von ihren Pariser Reisen ihren Schwestern und Verwandtinnen, unter tausenderlei verderblichen Modenachrichten, nicht auch diese mit, die alles andere verbessert hätte? Aber da sie für sich nichts als lächerliche und schädliche Sachen sammeln, wie sollten sie das Anständige und Nutzbare für uns suchen?

Ich berechnete noch überdies den Gewinn, den selbst das Genie des Gelehrten durch die Fragen der lehrbegierigen Unwissenheit erhält, die ihn oft auf Betrachtung und Nachdenken über eine neue Seite gewisser Gegenstände führt, die er als gering übersah, oder die, weil sie allein an das Reich der Empfindungen grenzte, von einem Frauenzimmer eher bemerkt wurde als von Männern. Gewiß ist es, daß die Bemühung, andere in einer Kunst oder Wissenschaft zu unterrichten, unsere Begriffe feiner, deutlicher und vollkommener macht. Ja, sogar des Schülers verkehrte Art, etwas zu fassen, die einfältigsten Fragen desselben, können der Anlaß zu großen und nützlichen Entdeckungen werden; wie diese von dem Gärtner zu Florenz, über die bei abwechselnder Witterung bemerkte Erhöhung oder Erniedrigung des Wassers in seinem Brunnen, die vortreffliche Erfindung des Baromets veranlaßte. Aber ich komme zu weit von dem liebenswürdigen Deutschen weg, dessen feines und mit unendlichen Kenntnissen bereichertes Genie in unserer aus so verschiednen Charaktern zusammengesetzten Gesellschaft moralische Schattierfarben zu seinen reizenden Gemälden der Menschen sammelte. Er sagte mir dieses, als ich seine Herablassung zu manchen nichtsbedeutenden Gesprächen lobte.

Mit Entzückung lernte ich in ihm das Bild der echten Freundschaft kennen, da er mir von einem hochachtungswürdigen Manne erzählte, der von dem ehemaligen Besitzer dieses Hauses erzogen worden und als ein lebender Beweis der unzähligen Fähigkeiten unsers Geistes anzuführen sei, weil er die Wissenschaft des feinsten Staatsmannes mit aller Gelehrsamkeit des Philosophen, des Physikers und des schönen Geistes verbände, alle Werke der Kunst gründlich beurteilen könnte, die Staatsökonomie und Landwirtschaft in allen ihren Teilen verstehe, verschiedene Sprachen gut rede und schreibe, ein Meister[112] auf dem Klavier und ein Kenner aller schönen Künste sei und mit so vielen Vollkommenheiten des Geistes das edelste Herz und den großen Charakter eines Menschenfreundes in seinem ganzen Umfang verbindete – –

Sie sehen aus diesem Gemälde, ob Herr** Ursache hat, die Freundschaft eines solchen Mannes für das vorzügliche Glück seines Lebens zu halten! Und Sie werden sich mit mir über die Entschließung freuen, welche er gefaßt hat, den ältesten Sohn seines Freundes an den seit kurzem veränderten Ort seiner Bestimmung mitzunehmen. Durch die halbe Länge Deutschlands von den Freunden seines Herzens entfernt, will er alle die Gesinnungen, die er für die Eltern hat, auf das Haupt dieses Knaben versammeln: ihn zu einem tugendhaften Mann erziehn und dadurch, weit von seinen Freunden, die Verbindung seines Herzens mit den ihrigen unterhalten. O Emilia! Was ist Gold? Was sind Ehrenstellen, die die Fürsten manchmal dem Verdienste zuteilen, gegen diese Gabe der Freundschaft des Herrn ** an den Sohn seiner glücklichen Freunde? Wie sehr verehrt ihn mein Herz! Wie viele Wünsche mache ich für seine Erhaltung! Und wie selig müssen seine Abendstunden nach so edel ausgefüllten Tagen sein!

Mein Brief ist lang; aber meine Emilia hat eine Seele, die sich mit Ergötzen bei der Beschreibung einer übenden Tugend verweilt und mir Dank dafür weiß. Herr ** reiste abends weg und wir, zu meinem Vergnügen, den zweeten Morgen darauf. Denn jeder Platz des Hauses und Gartens, wo ich ihn gesehen hatte und jetzt mit Schmerzen vermißte, stürzte mich in einen Abfall innerlicher Traurigkeit, die mir an unserm Hof nicht vermindert wird. Doch ich will nach seinem Rat immer die schöne Seite meines Schicksals suchen und Ihnen in Zukunft nur diese zeigen.

Nun muß ich mich zu einem Fest anschicken, welches Graf F* auf seinem Landgut geben wird. Ich liebe die aufgehäuften Lustbarkeiten nicht; aber man wird tanzen, und Sie wissen, daß ich von allen andern Ergötzungen für diese die meiste Neigung habe. –[113]


Mylord Derby an seinen Freund B*

Ich schreibe dir, um der Freude meines Herzens einen Ausbruch zu schaffen; denn hier darf ich sie niemand zeigen. Aber es ist lustig zu sehen, wie alle Anstalten, die man dem Fürsten zu Ehren macht, sich nur alleine dazu schicken müssen, das schöne schüchterne Vögelchen in mein verstecktes Garn zu jagen. Der Graf F*, der den Oberjägermeister in dieser Gelegenheit macht, gab letzthin dem ganzen Adel auf seinem Gute ein recht artig Festin, wobei wir alle in Bauerkleidungen erscheinen mußten.

Wir kamen nachmittags zusammen, und unsre Bauerkleider machten eine schöne Probe, was natürlich edle oder was nur erzwungene Anstalten waren. Wie manchem unter uns fehlte nur die Grabschaufel oder die Pflugschare, um der Bauerknecht zu sein, den er vorstellte; und gewiß, unter den Damen war auch mehr als eine, die mit einem Hühnerkorbe auf dem Kopfe oder bei Melkerei nicht das geringste Merkmal einer besondern Herkunft oder Erziehung behalten hätte. Ich war ein schottischer Bauer und stellte den kühnen entschloßnen Charakter, der den Hochländern eigen ist, ganz natürlich vor; und hatte das Geheimnis gefunden, ihn mit aller der Eleganz, die, wie du weißt, mir eigen ist, ohne Nachteil meines angenommenen Charakters, zu verschönern. Aber diese Zauberin von Sternheim war in ihrer Verkleidung lauter Reiz und schöne Natur; alle ihre Züge waren unschuldige ländliche Freude; ihr Kleid von hellblauem Taft, mit schwarzen Streifen eingefaßt, gab der ohnehin schlanken griechischen Bildung ihres Körpers ein noch feineres Ansehen und den Beweis, daß sie gar keinen erkünstelten Putz nötig habe. Alle ihre Wendungen waren mit Zauberkräften vereinigt, die das neidische Auge der Damen und die begierigen Blicke aller Mannsleute an sich hefteten. Ihre Haare, schön geflochten und mit Bändern zurückgebunden, um nicht auf der Erde zu schleppen, gaben mir die Idee, sie einst in der Gestalt der Miltonischen Eva zu sehen, wenn ich ihr Adam sein werde. Sie war munter und sprach mit allen Damen auf das gefälligste. Ihre Tante und die Gräfin F* überhäuften[114] sie mit Liebkosungen, sie dachten dadurch das Mädchen in der muntern Laune zu erhalten, in welcher sie ihre Gefälligkeit auch auf den Fürsten ausbreiten könnte.

Seymour fühlte die ganze Macht ihrer Reizungen, verbarg aber, nach der politischen Verabredung mit seinem Oncle, seine Liebe unter einem Anfall von Spleen, der den sauertöpfischen Kerl, stumm und unruhig, bald unter diesen, bald unter jenen Baum führte, wohin ihm Fräulein C*, als seine Bäuerin, wie ein Schatten folgte. Meine Leidenschaft kostete mich herkulische Mühe, sie im Zügel zu halten; aber schweigen konnte ich nicht, sondern haschte jede Gelegenheit, wo ich an dem Fräulein von Sternheim vorbeigehen und ihr auf englisch etwas Bewunderndes sagen konnte. Aber etlichemal hätte ich sie zerquetschen mögen, da ihre Blicke, wiewohl nur auf das flüchtigste, mit aller Unruh der Liebe nach Seymour gerichtet waren. Endlich entschlüpfte sie unter dem Volke, und wir sahen sie auf die Türe des Gartens vom Pfarrhofe zueilen; man beredete sich darüber, und ich blieb an der Ecke des kleinen Milchhauses stehen, um sie beim Zurückkommen zu beobachten. Ehe eine Viertelstunde vorbei war, kam sie heraus. Die schönste Karminfarbe und der feinste Ausdruck des Entzückens war auf ihrem Gesicht verbreitet. Mit leutseliger Güte dankte sie für die Bemühung etlicher Zuseher, die ihr Platz geschafft hatten. Niemals hatte ich sie so schön gesehen als in diesem Augenblick, sogar ihr Gang schien leichter und angenehmer als sonst. Jedermann hatte die Augen auf sie gewandt; sie sah es; schlug die ihre zur Erden und errötete außerordentlich. In dem nämlichen Augenblick kam der Fürst auch mitten durch das Gedränge des Volks aus dem Pfarrgarten heraus. Nun hättest du den Ausdruck des Argwohns und des boshaften Urteils der Gedanken über die Zusammenkunft der Sternheim mit dem Fürsten sehen sollen, der auf einmal in jedem spröden, koketten und devoten Affengesicht sichtbar wurde; und die albernen Scherze der Mannsleute über die Röte, da sie der Fürst mit Entzücken betrachtete. Beides wurde als ein Beweis ihrer vergnügten Zusammenkunft im Pfarrhaus aufgenommen, und alle sagten sich ins Ohr: wir seien das Fest der Übergabe dieser für unüberwindlich gehaltenen Schönen. Die reizende Art, mit[115] welcher sie dem Fürsten etwas Erfrischung brachte; die Bewegung, mit der er aufstund, ihr entgegenging und bald ihr Gesichte, bald ihre Leibesgestalt mit verzehrenden Blicken ansah, und nachdem er den Sorbet getrunken hatte, ihr den Teller wegnahm und dem jungen F* gab, sie aber neben ihn auf die Bank sitzen machte; die Freude des alten von F*, der Stolz ihres Oncles und ihrer Tante, der sich schon recht sichtbar zeigte – alles bestärkte unsre Mutmaßungen. Wut nahm mich ein, und im ersten Anfall nahm ich Seymourn, der außer sich war, beim Arm und redete mit ihm von dieser Szene. Die heftigste äußerste Verachtung belebte seine Anmerkungen über ihre vorgespielte Tugend und die elende Aufopferung derselben; über die Frechheit, sich vor dem ganzen Adel zum Schauspiel zu machen und die vergnügteste Miene dabei zu haben. Dieser letzte Zug seines Tadels brachte mich zur Vernunft. Ich überlegte, der Schritt wäre in Wahrheit zu frech und dabei zu dumm; die Szene des Wirtshauses in F* Gel mir ein; ein Zweifel, der sich darüber bei mir erhob, machte mich meinen Will rufen. Ich versprach ihm hundert Guineen, um die Wahrheit dessen zu erfahren, was im Pfarrhause zwischen dem Fürsten und der Sternheim vorgegangen. In einer Stunde, wovon mir jede Minute ein Jahr dünkte, kam er mit der Nachricht, daß die Fräulein den Fürsten nicht gesehen, sondern allein mit dem Pfarrer gesprochen und ihm zehn Karolinen für die Armen des Dorfs gegeben habe, mit der inständigsten Bitte, ja niemand nichts davon zu sagen. Der Fürst wäre nach ihr gekommen und hätte dem Adel von weitem zusehen wollen, wie sie sich belustigten, ehe er komme, um sie desto ungestörter fortfahren zu machen.

Da stund ich und fluchte über die Schwärmerin, die uns zu Narren machte. Und dennoch war das Mädchen wirklich edler als wir alle, die wir nur an unser Vergnügen dachten; während sie ihr Herz für die armen Einwohner des Dorfs eröffnete, um einen der Freude gewidmeten Tag bis auf sie auszudehnen. Was war aber ihre Belohnung davor? Die niederträchtigste Beurteilung ihres Charakters, wozu sich das elendeste Geschöpf unter uns berechtigt zu sein glaubte. In Wahrheit, eine schöne Aufmunterung zur Tugend! Willst du mir sagen, daß die innerliche[116] Zufriedenheit unsre wahre Belohnung sei, so darf ich nur denken, daß just der Ausdruck dieser Zufriedenheit auf dem Gesichte des englischen Mädchens, da es vom Pfarrhof zurückkam, zu einem Beweis ihres Fehlers gemacht wurde. Aber wie dankte ich meiner Begierde, die Sache ganz zu wissen, die mich berufenen Bösewicht zu der besten Seele der ganzen Gesellschaft machte; denn ich allein wollte die Sache ergründen, ehe ich ein festes Urteil über sie faßte, und siehe, ich wurde auf der Stelle für diese Tugend mit der Hoffnung belohnt, das liebenswerte Geschöpfe ganz rein in meine Arme zu bekommen; dann nun soll es nur ihr oder mein Tod verhindern können; mein ganzes Vermögen und alle Kräfte meines Geistes sind zu Ausführung dieses Vorhabens bestimmt.

Mit triumphierendem Gesichte eilte ich zur Gesellschaft, nachdem ich Willen verboten, keiner Seele nichts von seiner Entdeckung zu sagen, und ihm noch hundert Guineen für sein Schweigen versprochen hatte. Du wirst fodern, daß ich meine Entdeckung zum Besten des Fräuleins hätte mitteilen sollen. Dann, meinst du, wäre mein Triumph edel gewesen! Sachte, mein guter Herr! sachte! Ich konnte auf dem Weg der guten Handlungen nicht so eilend fortwandern, noch weniger gleich mein ganzes Vergnügen aufopfern. Und wozu hätte meine Entdeckung gedient, als des Fürsten und meine Beschwerlichkeiten zu vergrößern? Wie vielen Spaßes hätte ich mich beraubt, wenn ich die Unterredungen des vorigen Stoffs unterbrochen hätte? Denn indes ich weg war, hatte eine mißverstandne Antwort des Fürsten die ganze Sache ins reine gebracht. Denn da der Graf F* den Fürsten gefragt: ob er das Fräulein im Pfarrgarten gesehen habe? und der Fürst ihm ganz kurz mit Ja antwortete und die Augen gleich nach ihr kehrte, da war der Vorgang gewiß, ja sie war, weil man doch auch dem Pfarrer eine Rolle dabei zu spielen geben wollte, zur linken Hand vermählt, und viele bezeugten ihr schon besondere Aufwartungen als der künftigen Gnaden-Ausspenderin. Der Graf F*, seine Frau, der Oncle und die Tante des Fräuleins führten den Reihen dieser wahnsinnigen Leute. Selbst Mylord G. spielte die Rolle mit, ob sie gleich etwas gezwungen bei ihm war. Aber Seymour, durch die Beleidigung seiner Liebe und der Vollkommenheit des[117] Ideals, das er sich von ihr in den Kopf phantasiert hatte, in einen unbiegsamen Zorn gebracht, konnte sich kaum zu der gewöhnlichen Höflichkeit entschließen, einen Menuet mit ihr zu tanzen; sein frostiges störriges Aussehen, womit er die freundlichsten Blicke ihrer schönen Augen erwiderte, machte endlich, daß sie ihn nicht mehr ansah; aber goß zugleich eine Niedergeschlagenheit über ihr ganzes Wesen aus, welche die edle Anmut ihres unnachahmlichen Tanzes auf eine entzückende Art vergrößerte. Jeder Vorzug, den ihm ihr Herz gab, machte mich rasend, aber verdoppelte meine Aufmerksamkeit auf alles, was zu Erhaltung meines Endzwecks dienen konnte. Ich sah, daß sie die außerordentlichen Bemühungen und Schmeicheleien der Hofleute bemerkte und Mißfallen daran hatte. Ich nahm die Partie, ihr lauter edle feine Ehrerbietung zu beweisen; es gefiel ihr, und sie redete in schönem Englischen mit mir recht artig und aufgeweckt vom Tanzen als der einzigen Ergötzlichkeit, die sie liebte. Da ich die Vollkommenheit ihrer Menuet lobte, wünschte sie, daß ich dieses von ihr bei den englischen Landtänzen sagen möchte, in denen sie die schöne Mischung von Fröhlichkeit und Wohlstand rühmte, die der Tänzerin keine Vergessenheit ihrer selbst und dem Tänzer keine willkürliche Freiheiten mit ihr erlaubte; wie es bei den deutschen Tänzen gewöhnlich sei. Mein Vergnügen über diese kleine freundschaftliche Unterredung wurde durch die Wahrnehmung des sichtbaren Verdrusses, den Seymour darüber hatte, unendlich vergrößert. Der Fürst, dem es auch nicht gefiel, näherte sich uns, und ich entfernte mich, um dem Grafen F* zu sagen, daß das Fräulein gerne englisch tanze. Gleich wurde die Musik dazu angefangen, und jeder suchte seine Bäuerin auf. Der junge F*, als Kompagnon des Fräulein von Sternheim, stellte sich in der halben Reihe an; aber sein Vater machte alle Paare zurücktreten, um dem Fräulein den ersten Platz zu geben, die ihn mit Erstaunen annahm und die Reihe mit der seltensten Geschwindigkeit und vollkommensten Anmut durchtanzte. Ich blieb bei der ersten Partie mit Fleiß zurück und ging an der Reihe mit Mylord G. und dem Fürsten auf und ab. Dieser hatte kein Auge als für Fräulein Sternheim und sagte immer: tanzt sie nicht wie ein Engel? Da nun Lord G. versicherte,[118] daß eine geborne Engländerin Schritt und Wendungen nicht besser machen könnte, so bekam der Fürst den Gedanken, das Fräulein sollte mit einem Engländer tanzen. Ich trat in ein Fenster, um zu warten, auf wem die Wahl kommen würde; als einige Ruhezeit vorbei war, ersuchte der Fürst das Fräulein um die Gefälligkeit, noch mit der zweiten Reihe, aber mit einem von uns zween Engländern zu tanzen. Eine schöne Verbeugung und das Umsehen nach uns zeigte ihre Bereitwilligkeit an. Wie zärtlich ihr Bild den spröden Seymourn auffoderte, dem es F* zuerst, als Mylord G. Nepoten, antrug, und der es verbat. Die jähe Errötung des Verdrusses färbte ihr Gesicht und ihre Brust; aber sogleich war eine freundliche Miene für mich da, der ich mit ehrerbietiger Eilfertigkeit meine Hand anbot; aber diese Miene hielt mich nicht schadlos und preßte mir den Gedanken ab: O Sternheim! eine solche Empfindung für mich hätte dir und der Tugend mein Herz auf ewig erworben! Die Bemühung, dich andern zu entreißen, vermindert meine Zärtlichkeit; Begierde und Rache bleiben mir allein übrig. – Mein äußerliches Ansehen sagte nichts davon; ich war lauter Ehrfurcht. Sie tanzte vortrefflich; man schrieb es der Begierde zu, dem Fürsten zu gefallen. Ich wußte allein, daß es eine Bemühung ihrer beleidigten Eigenliebe war, um den Seymour durch die Schönheit und Munterkeit ihres Tanzes über seine abschlägige Antwort zu strafen. Und gestraft war er auch! Sein Herz voll Verdruß war froh, bei mir Klagen zu führen und sich selbst zu verdammen, daß er, ungeachtet sie alle seine Verachtung verdiente, sich dennoch nicht erwehren konnte, die zärtlichste Empfindlichkeit für ihre Reizungen zu fühlen.

»Warum hast du denn nicht mit ihr getanzt?«

»Gott bewahre mich«, sagte er; »ich wäre gewiß unter dem Kampfe zwischen Liebe und Verachtung an ihrer Seite zu Boden gesunken.« Ich lachte ihn aus und sagte: er sollte lieben wie ich, so würde er mehr Vergnügen davon haben, als ihm seine übertriebene Ideen jemals gewähren würden.

»Ich fühle, daß du glücklicher bist als ich«, sagte der Pinsel, »aber ich kann mich nicht ändern.« Verdammt sei die Liebe, dacht' ich, die diesen und mich zu so elenden Hunden macht. Seymour, zwischen dem Schmerz der Verachtung für einen[119] angebeteten Gegenstand und allen Reizungen der Sinne herumgetrieben, war unglücklich, weil er nichts von ihrer Unschuld und Zärtlichkeit wußte. Ich, der meiner Hochachtung und Liebe nicht entsagen konnte, war ein Spiel des Neides und der Begierde, mich zu rächen, und genoß wenig Freude dabei, als diese, andern die ihrige sicher zu zerstören, es folge daraus, was da wolle. – Arbeit habe ich! – Denn so künstlich und sicher ich sonst meine Schlingen zu flechten wußte, so nützen mich doch meine vorigen Erfahrungen bei ihr nichts, weil sie so viele Entfernung von allen sinnlichen Vergnügungen hat. Bei einem Ball, wo beinahe alle Weibspersonen Koketten und auch die Besten von der Begierde zu gefallen eingenommen sind, hängt sie der Übung der Wohltätigkeit nach. Andre werden durch die Versammlung vieler Leute und den Lärmen eines Festes, durch die Pracht der Kleider und Verzierungen betäubt, durch die Musik weichlich gemacht und durch alles zusammen den Verführungen der Sinnlichkeit bloßgegeben, sie wird auch gerührt, aber zum Mitleiden für die Armen; und diese Bewegung ist so stark, daß sie Gesellschaft und Freuden verläßt, um ein Werk der Wohltätigkeit auszuüben. Ha! wenn diese starke und geschäftige Empfindlichkeit ihrer Seele zum Genuß des Vergnügens umgestimmt sein wird, und die ersten Töne für mich klingen werden! – dann, B., dann werde ich dir aus Erfahrung von der feinen Wollust erzählen können, die Venus in Gesellschaft der Musen und Grazien ausgießt. Aber ich werde mich dazu vorbereiten müssen. Wie Schwärmer, die in den persönlichen Umgang mit Geistern kommen wollen, eine Zeitlang mit Fasten und Beten zubringen, muß ich, dieser enthusiastischen Seele zu gefallen, mich aller meiner bisherigen Vergnügungen entwöhnen. Schon hat mir meine Von ungefähr entdeckte Wohltätigkeit an der Familie T* große Dienste bei ihr getan; nun muß ich sie einmal in diesem Hause überraschen. Sie geht manchmal hin, den Kindern Unterricht und den Eltern Trost zu geben. Dennoch hat alle ihre Moral den Einfluß meiner Guineen nicht verhindern können, durch die ich bei diesen Leuten Gelegenheit Enden werde, sie zu sehen und einen Schritt zu ihrem Herzen zu machen; während daß ich auf der andern Seite die magische Sympathie der Schwärmerei zu[120] schwächen suche, die in einem einzigen Augenblick zwischen ihr und Seymourn entstehen könnte, wenn sie jemals einander im Umgang nahe genug kämen, den so gleich gestimmten Ton ihrer Seelen zu hören. Doch dem bin ich ziemlich zuvorkommen, indem sich Seymour just des Sekretärs seines Oncles, der mein Sklave ist, bedient, um Nachrichten einzuziehen, die dieser bei mir holt, ohne mit mir zu reden. Denn wir schreiben uns nur und stecken unsre Billetts hinter ein alt Gemälde im obern Gang des Hauses. Dieser Jünger des Luzifers leistet mir vortreffliche Dienste. Doch muß ich Seymourn die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß er uns die Mühe, soviel an ihm ist, erleichtert. Er flieht die Sternheim wie eine Schlange, ungeachtet er sich um alle ihre Bewegungen erkundigt; und diese werden durch die Farbe, welche ihnen meine Nachrichten geben, schielend und zweideutig genug, um auf seinen schon eingenommenen Kopf alle Wirkung zu machen, die ich wünsche. Den Fürsten fürchte ich nicht; jeder Schritt, den er machen wird, entfernt ihn vom Ziel. Von allem, was Fürsten geben können, liebt sie nichts. Das Mädchen macht eine ganz neue Gattung von Charakter aus!


Mylord Seymour an den Doktor B.

Ich bin seit vier Stunden von einem prächtigen und wohlausgesonnenen Feste zurückgekommen; und da ich, ungeachtet der heftigen Bewegungen, die meine Lebensgeister erlitten, keinen Schlaf Enden kann, so will ich wenigstens die Ruhe suchen, welche eine Unterredung mit einem würdigen Freund einem bekümmerten Herzen gibt. Warum, o mein teurer Lehrmeister, konnte Ihre erfahrne Weisheit kein Mittel Enden, meine Seele gegen die Heftigkeit guter Eindrücke zu bewaffnen, so wie Sie eins gefunden haben, mich gegen das Beispiel und die Aufmunterung der Bosheit zu bewahren. Ich will Ihnen die Ursache erzählen; so werden Sie selbst sehen, wie glücklich ich durch eine vernünftige Gleichgültigkeit geworden wäre.

Der erste Minister des Hofs gab dem Adel, oder vielmehr[121] der Fürst gab unter dem Namen des Grafen F* dem Fräulein von Sternheim eine Fete auf dem Lande, welche die Nachahmung auf den höchsten Grad der Gleichheit führte, denn die Kleidungen, die Musik, der Platz, wo die Lustbarkeit gegeben wurde, alles bezeichnete das Landfest. Mitten auf einer Matte waren eigne Bauerhäuser und eine Tanzscheure erbaut. Der Gedanke und die Ausführung entzückte mich, in den ersten zwo Stunden, da ich nichts als die Schönheit des Festes und die alles übertreffende Liebenswürdigkeit des Fräuleins von Sternheim vor mir sah. Niemals, mein Freund, niemals wird das Bild der lautern Unschuld, der reinen Freude wieder so vollkommen erscheinen, als es diese zwo Stunden durch in der edeln schönen Figur von Sternheim abgezeichnet war! Verdammt sein die Künste, welche es an ihr auszulöschen wußten! Aber in einer Person von so vielem Geiste, von einer so vortrefflichen Erziehung muß der Wille dabei gewesen sein; es war unmöglich, sie zu berücken; unmöglich ist es auch, daß es allein die Wirkung ihrer von Musik, Pracht und Geräusch empörten Sinnen gewesen sei. Ich weiß wohl, daß man bei diesen Umständen unvermerkt von der Bahn der moralischen Empfindungen abweicht und sie aus dem Gesichte verliert. Aber da sie die letzte Warnung ihres guten Genius verwarf und wenige Minuten darauf der angestellten Unterredung mit dem Fürsten entgegeneilte und sich dadurch die Geringschätzung des Elendesten unter uns zuzog: da hatte ich Mühe, den hohen Grad von Verachtung und Abscheu, die mich gegen sie einnahmen, zu verbergen. Ich muß Ihnen erklären, was ich unter dem letzten Wink ihres Genius verstehe. Es war eine Bilderbude da, wo die Damen Lotteriezettel zogen; sagen Sie, ob es wohl ein bloßes Ungefähr oder nicht ein letzter Wink der Vorsicht war, daß das Fräulein von Sternheim die vom Apollo verfolgte Daphne bekam! Die Partie des Fürsten sah es nicht gerne; sie dachte, es würde ihre Widerspenstigkeit bestärken. Ihr gefiel es, sie wies es jedermann, und redete es als eine gute Kennerin von der Zeichnung und Malerei. Meine Freude war nicht zu beschreiben; ich hielt die Besorgnisse der Hofleute gegründet, und die Freude des Fräuleins bekräftigte mich in der Idee, daß sie durch ihre Tugend eine neue fliehende Daphne sein[122] würde. Aber wie schmerzhaft, wie niederträchtig hat mich nicht ihre Scheintugend betrogen, da sie sich gleich darauf dem Apollo in die Arme warf! Ich sah sie mit ihrer ehrlosen Tante und der Gräfin F* einige Zeit auf und ab gehen; die zwo elenden Unterhändlerinnen schmeichelten ihr in die Wette. Endlich merkte ich, daß sie mit einer zärtlichen und sorgsamen Miene bald die Gesellschaft, bald die Türe des Pfarrgartens ansah und auf einmal mit dem leichtesten, freudigsten Schritt durch die Zuseher drang und in den Garten eilte. Lang war sie nicht darin, aber ihr Hineingehen hatte schon Aufsehen erweckt. Wie vieles verursachte erst der Ausdruck von Zufriedenheit und Beschämung, mit welchem sie zurückkam; da der Fürst bald nach ihr heraustrat, der sein Vergnügen über sie nicht verbergen konnte und seine Leidenschaft in vollem Feuer zeigte. Mit wieviel niederträchtiger Gefälligkeit bot sie ihm Sorbet an, schwatzte mit ihm, tanzte ihm zuliebe englisch mit einem Eifer, den sie sonst nur für die Tugend zeigte. Und wie reizend, o Gott, wie reizend war sie! Wie unnachahmlich ihr Tanz; alle Grazien in ihr vereinigt, so wie es die Furien in meinem Herzen waren! denn ich fühlte es von dem Gedanken zerrissen, daß ich, der ihre Tugend angebetet hatte, der sie zu meiner Gemahlin gewünscht, ein Zeuge sein mußte, wie sie Ehre und Unschuld aufgab und im Angesichte des Himmels und der Menschen ein triumphierendes Aussehen dabei hatte. Unbegreiflich ist mir eine Beobachtung über mein Herz in dieser Gelegenheit. Sie wissen, wie heftig ich einst eine unserer Schauspielerinnen liebte; ich wußte, daß ihre Gunst zu erkaufen war und daß sie für ihr Herz ganz keine Achtung verdiente. Ich hatte auch keine, und dennoch dauerte meine Leidenschaft in ihrer ganzen Stärke fort. Itzt hingegen verachte, verfluche ich diese Sternheim und ihr Bild. Ihre Reize und meine Liebe liegen noch in dem Grunde meiner Seele; aber ich hasse beide und mich selbst, daß ich zu schwach bin, sie zu vernichten.

Mein Oncle redete mir im Nachhausefahren zu, wie ein Mann dessen Leidenschaften schon lange gesättigt sind und der, wenn er als Minister zu Vergnügung des Ehrgeizes seines Fürsten tausend Schlachtopfer für nichts achtet, natürlicherweise die Aufopferung der Tugend eines Mädchens zu Befriedigung der[123] Leidenschaft eines Großen für eine sehr wenig bedeutende Kleinigkeit ansehen muß. O wäre sie ein gemeines Mädchen mit Papageien-Schönheit und Papageien-Verstand gewesen, so könnte ich es ansehen wie er! Aber die edelste Seele und Kenntnisse zu besitzen; an die Verehrung der ganzen Welt Anspruch zu haben und sich hinzuwerfen! Sie soll zur linken Hand vermählt worden sein. Elende lächerliche Larve, eine verstellte Tugend vor Schande sicherzustellen! – Alle schmeichelten ihr; Sie, mein Freund, kennen mich genug, um zu wissen, ob ich es tat. Ich werde nicht an den Hof gehen, bis ich ruhiger bin; niemals liebte ich das Hofleben ganz, nun verabscheue ich es! Die Reisen meines Oncles will ich aushalten; aber meine Frau Mutter soll nicht fodern, daß ich Hofdienste nehme oder mich verheirate; das Fräulein von Sternheim hat mich beidem auf ewig entsagen gemacht. Derby, der ruchlose Derby, verachtet sie auch, aber er hilft sie betäuben; denn er erzeigt ihr mehr Ehrerbietung als sonst. – Der Bösewicht!


Fräulein von Sternheim an Emilien

Kommen Sie, meine Emilia, Sie sollen auch einmal eine aufgeweckte Erzählung von mir erhalten. Sie wissen, daß ich gerne tanze und daß F* einen Ball geben wollte. Dieser ist nun vorbei, und ich war so vergnügt dabei, daß das Andenken davon mir noch itzt angenehm ist. Alle Anstalten dieses niedlichen Festins waren völlig nach meinem Geschmack, nach meinen eigensten Ideen eingerichtet. Ländliche Einfalt und feine Hofkünste fanden sich so artig miteinander verwebt, daß man sie nicht trennen konnte, ohne dem einen oder dem andern seine beste Annehmlichkeit zu rauben. Ich will versuchen, ob eine Beschreibung davon diese Vorstellung bei Ihnen bekräftigen wird.

Der Graf F* wollte auf dem Gut, wo seine Gemahlin die Kur gebraucht und die Besuche des ganzen Adels empfangen hatte, zum Beweis seiner Freude über das Wohlsein der Gräfin und seines Danks für die ihr bewiesene Achtung, an dem nämlichen Orte eine Ergötzung für uns alle anstellen. Wir wurden[124] acht Tage voraus geladen und gebeten, paarweise in schönen Bauerkleidungen zu erscheinen, weil er ein Landfest vorstellen wollte. Der junge Graf F*, sein Nepote, wurde in der Liste ein Bauer und ich bekam die Kleidung eines Alpen-Mädchens; lichtblau und schwarz; die Form davon brachte meine Leibesgestalt in das vorteilhafteste Ansehen, ohne im geringsten gesucht oder gezwungen zu scheinen. Das feine ganz nachlässig aufgesetzte Strohhütgen und meine simpel geflochtnen Haare machten meinem Gesicht Ehre. Sie wissen, daß mir viele Liebe für die Einfalt und die ungekünstelten Tugenden des Landvolks eingeflößt worden ist. Diese Neigung erneuerte sich durch den Anblick meiner Kleidung. Mein edel einfältiger Putz rührte mich; er war meinem die Ruhe und die Natur liebenden Herzen noch angemeßner als meiner Figur, wiewohl auch diese damals, in meinen Augen, im schönsten Lichte stund. Als ich völlig angezogen den letzten Blick in den Spiegel warf und vergnügt mit meinem ländlichen Ansehen war, machte ich den Wunsch, daß, wenn ich auch diese Kleidung wieder abgelegt haben würde, doch immer reine Unschuld und unverfälschte Güte meines Herzens den Grund einer heitern wahren Freude in meiner Seele erhalten möchte! Mein Oncle, meine Tante, und der Graf F* hörten nicht auf, mein zärtliches und reizendes Aussehen zu loben, und so kamen wir auf das Gut, wo wir in der halben Allee, die auf schönen Wiesengrund gepflanzt ist, abstiegen und gleich den Ton der Schalmei hörten, verschiedene Paare von artigen Bauren und Bäuerinnen erblickten und im Fortfahren bald eine Maultrommel, bald eine kleine Landpfeife, oder irgendein andres Instrument dieser Art, das völlige Landfest ankündigen hörten. Simpel gearbeitete hölzerne Bänke waren zwischen den Bäumen gesetzt und zwei artige Bauerhäuser an beiden Seiten der Allee erbaut, wo in einem auf alle mögliche Art zubereitete Milch und andre Erfrischungen in kleinen porcelainen Schüsselchen bereit waren. Jedes hatte seinen hölzernen Teller und seinen Löffel von Porcelain. Unter der Türe dieses Hauses war die Gräfin F*, als Wirtin gekleidet, und bewillkommte die Gäste mit einer reizenden Gefälligkeit. Alle Bedienten des Hauses waren als Kellerjungen oder Schenkknechte und auch die Musikanten[125] nach bäuerischer Art angezogen; auf einem Platz waren Bäcker und Bilderkrämer, wo unsre Bauren uns hinführten und eine Bäuerin eine Prezel oder sonst ein Stück aus feiner Pastille gearbeitetes Brot bekam, welches der Bauer zerbrach und dann entweder ein Stück Spitzen, Bänder oder andre artige Sachen darin fand. Bei dem Bilderkrämer bekamen wir niedliche Miniatur-Gemälde zu sehen, welche wie aus einer Lotterie gezogen wurden. Ich bekam die vom Apollo verfolgte Daphne, ein feines niedliches Stück; es schien auch, daß mich andere darum beneideten, weil es für das schönste gehalten wurde. Es dünkte mich, vielerlei Veränderungen und Ausdrücke auf den Gesichtern einiger Damen zu lesen, da sie es ansahen.

Wie der ganze Adel beisammen war, wurden wir junge Fräulein gebeten, die älteren Damen und Kavaliere mit Erfrischungen bedienen zu helfen; unsre Geschäftigkeit war artig zu sehen; für eine fremde Person aber müßten die forschenden, halb verborgnen Blicke, die immer eine Dame nach der andern schickte, zu vielen kleinen Betrachtungen Anlaß gegeben haben. Ich war voll herzlicher Freude; es war Grasboden, den ich betrat, Bäume, unter deren Schatten ich eine Schüssel Milch verzehrte, frische Luft, was ich atmete, ein heitrer offner Himmel um mich her, nur zwanzig Schritte von mir ein schöner Bach und wohlangebaute reiche Kornfelder! Mir schien's, als ob die unbegrenzte Aussicht in das Reich der Natur meinen Lebensgeistern und Empfindungen eine freiere Bewegung verschaffte, sie von dem einkerkernden Zwang des Aufenthalts in den Mauren eines Palastes voller gekünstelten Zieraten und Vergoldungen in ihre natürliche Freiheit und in ihr angebornes Element setzte. Ich redete auch mehr und freudiger als sonst und war von den ersten, die Reihentänze zwischen den Bäumen anfingen. Diese zogen alle Einwohner des Dorfs aus ihren Hütten, um uns zuzusehen. Nach einigem Herumhüpfen ging ich mit meiner Tante und der Gräfin F*, die mich sehr lobten und liebkosten, auf und ab; wo mir dann bald der fröhliche und glänzende Haufen von Landleuten, die wir vorstellten, in die Augen fiel, bald auch der, welchen unsre Zuseher ausmachten, darunter ich viele arme und kummerhafte Gestalten erblickte. Ich wurde durch diesen Kontrast und das gutherzige[126] Vergnügen, womit sie uns betrachteten, sehr gerührt, und sobald ich am wenigsten bemerkt wurde, schlüpfte ich in den Pfarrgarten, der ganz nahe an die Wiese stößt, wo wir tanzten, und gab dem Pfarrer etwas für die Armen des Dorfs und ging mit einem glücklichen Herzen zurück in die Gesellschaft. Mylord Derby schien auf meine Schritte gelauert zu haben; denn wie ich aus dem Pfarrgarten heraustrat, sah ich, daß er an dem einen Ende des Milchhauses stand und seine Augen unverwandt auf die Türe des Gartens geheftet hatte, mit forschenden und feurigen Blicken sah er mich an, ging mir hastig entgegen, um mir einige außerordentliche, ja gar verliebte Sachen über meine Gestalt und Physionomie zu sagen. Dieses und die neugierige Art, womit mich alle ansahen, machte mich erröten und die Augen zur Erde wenden; als ich sie in die Höhe hob, war ich einem Baume, an welchen sich Mylord Seymour ganz traurig und zärtlich aussehend lehnte, so nahe, daß ich dachte, er müßte alles gehöret haben, was Mylord Derby mir gesagt hatte. Ich weiß nicht ganz, warum mich diese Vorstellung etwas verwirrte; aber bestürzt wurde ich, da ich alles aufstehen und sich in Ordnung stellen sah, weil der Fürst eben aus dem Pfarrgarten kam. Der Gedanke, daß er mich da hätte antreffen können; machte mir eine Art Entsetzen, so daß ich zu meiner Tante floh, gleich als ob ich fürchtete, allein zu sein. Aber meine innerliche Zufriedenheit half mir wieder zu meiner Fassung, so daß ich dem Fürsten meine Verbeugung ganz gelassen machte. Er betrachtete und lobte meine Kleidung in sehr lebhaften Ausdrücken. Die Gräfin F*, welche mich nötigte, ihm eine Schale Sorbet anzubieten, brachte mich in eine Verlegenheit, die mir ganz zuwider war; denn ich mußte mich zu ihm auf die Bank setzen, wo er mir über meine Person und zum Teil auch über den übrigen Adel, ich weiß nicht mehr, was für wunderliches Zeug vorsagte. Die meisten fingen an einsam spazieren zu gehen. Da ich ihnen mit Aufmerksamkeit nachsahe, fragte mich der Fürst: Ob ich auch lieber herumgehen als bei ihm sein wollte? Ich sagte ihm, ich dächte, es würden wieder Reihen getanzt und ich wünschte dabeizusein. Sogleich stund er auf und begleitete mich zu den übrigen. Ich dankte mir den Einfall und mengte mich eilends unter den Haufen[127] junger Leute, die alle beisammenstunden. Sie lächelten über mein Eindringen, waren aber sehr höflich, bis auf Fräulein C*, die immer ganz mürrisch den Kopf nach einer Seite kehrte. Ich wandte mich auch hin und erblickte Seymourn und Derby, die einander am Armfahrten und mit hastigen Schritten am Bach auf und nieder gingen. Indessen wurde es etwas dunkel, und man lud uns zu dem Abendessen, welches in der andern Bauerhütte bereitstund. Man blieb nicht lange bei Tische; denn alles eilte in den Tanzsal, der in einer dazu aufgebaueten Scheuer versteckt war. Niemand konnte über das Ende der Tafel froher sein als ich; denn als die Ranglose gezogen wurden, setzte mich mein widriges Geschicke gleich an den Fürsten, der beständig mit mir redte und mich alle Augenblicke etwas kosten machte. Dieser Vorzug des Ungefähr10 zeigte mir die Hofleute in einem neuen aber sehr kleinen Lichte; denn ihr Betragen gegen mich war, als ob ich eine große Würde erhalten hätte und sie sich mir gefällig machen müßten. Es war niemand, der mir nicht irgendeine schickliche oder unschickliche Schmeichelei sagte, den einzigen Seymour ausgenommen, welcher nichts redete. Sein Oncle G. und Mylord Derby sagten mir dagegen desto feinere Höflichkeiten vor; besonders hatte dieser die gefälligste Ehrerbietung in seinem ganzen Bezeugen gegen mich. Er sprach vom Tanzen mit dem eigentlichen Ton, der für diesen Gegenstand gehört, so daß er mir aufs neue Achtung für seine Talente und Bedauern über die schlimme Verwendung derselben einflößte. Ich fand bei dem Tanzen, daß es nicht für alle vorteilhaft ist, daß der Ball sich mit Menuetten anfängt, weil dieser Tanz so viel Anmut in der Wendung und so viel Nettigkeit des Schritts erfodert, daß es manchen Personen sehr schwer fiel, diesen Gesetzen Genüge zu leisten. Der außerordentliche Beifall, den ich erhielt, führte mein Herz auf ein zärtliches Andenken meiner teuren Eltern[128] zurück, die unter andern liebreichen Bemühungen für meine Erziehung auch das frühzeitige und öftere Tanzen betrieben, weil mein schnelles Wachsen eine große Figur versprach, und mein Vater sagte: daß der frühe Unterricht im Tanzen einer großen Person am nötigsten sei, um durch die Musik ihre Bewegungen harmonisch und angenehm zu machen, indem es immer bemerkt worden sei, daß die Grazien sich leichter mit einer Person von mittlerer Größe verbinden, als mit einer von mehr als gewöhnlicher Länge. Dieses war die Ursache, warum ich alle Tage tanzen und bei meinen Handarbeiten, wenn wir alleine waren, eine Menuet-Arie singen mußte, denn mein Vater behauptete, daß durch diese Übung unvermerkt alle meine Wendungen natürliche Grazien erhalten würden. Sollte ich alles Lob glauben, das man meinem Tanzen und Anstand gibt, so sind seine Vermutungen alle eingetroffen; so wie ich seinen Ausspruch über den Vorzug der Anmut vor der Schönheit ganz wahr gefunden habe, weil ich gesehen, daß die holdselige Miene der mit sehr wenig Schönheit begabten Gräfin Zin*** ihr beinahe mehr Neiderinnen zuzog, als die Fräulein von B* mit ihrer Venus-Figur nicht hatte; und die Neiderinnen waren selbst unter der Zahl der Frauenzimmer von Verdiensten. Woher dieses Emilia? Fühlen etwan vernünftige Personen den Vorzug der Anmut vor der Schönheit stärker als andre und wünschen sie daher begieriger zu ihrem Eigentum? Oder kam dieser Neid von der Beobachtung, daß die ganz anmutsvolle Gräfin Z*** die hochachtungswürdigste Mannspersonen an sich zog? Oder wagt die feine Eigenliebe eher einen Anfall auf Reize des Angenehmen als auf die ganze Schönheit, weil jene nicht gleich von allen Augen bemerkt werden und der Mangel der äußersten Vollkommenheit sehr leicht mit dem Gedanken eines fehlerhaften Charakters oder Verstandes verbunden wird und also der Tadlerin wohl noch den Ruhm eines scharfen Auges geben kann, da hingegen die kleinsten Schmähungen über ein schönes Frauenzimmer von jedem Zuhörer an die Rechnung des Neides kommen? Edle und kluge Eigenliebe sollte sich immer die Gunst der Huldgöttinnen wünschen, weil sie ihre Geschenke niemals zurücknehmen und weder Zeit noch Zufälle uns derselben berauben können. Ich gestehe ganz aufrichtig,[129] daß wenn ich in den schönen griechischen Zeiten geboren gewesen wäre, so hätte ich meine besten Opfer dem Tempel der Grazien geweiht. – Aber ich sehe, meine Emilia, ich errate, was sie denkt; denn indem sie dieses Schreiben liest, fragt der Ausdruck ihrer Physionomie: »War meine Freundin Sternheim so fehlerfrei, weil sie die von den andern so dreuste bezeichnet? Neid mag sie nicht gehabt haben, denn der Plan, dem sich ihre Eitelkeit nachzugehen vorgenommen hatte, meint durch nichts gestört worden zu sein; der Dank für die Tanzübungen in ihrer Erziehung zeigt es an; oft ist es bloß ein großer Grad der Zufriedenheit mit sich selbst, was uns vom Neide frei macht, anstatt, daß es die wahre Tugend tun sollte.«

Sein Sie ruhig, meine liebe strenge Freundin, ich empfinde, daß Sie recht haben; ich war eitel und sehr mit mir zufrieden; aber ich wurde dafür gestraft. Ich hielt mich für ganz liebenswürdig, aber ich war es nicht in den Augen desjenigen, bei dem ich es vorzüglich zu sein wünschte. Ich befliß mich so sehr gut englisch zu tanzen, daß Mylord G. und Derby zu dem Fürsten sagten, eine geborne Engländerin könnte den Schritt, die Wendungen und den Takt nicht besser treffen. Man bat mich, mit einem Engländer eine Reihe durchzutanzen. Mylord Seymour wurde dazu aufgefodert, und, Emilia! er schlug es aus; mit einer so unfreundlichen, beinahe verächtlichen Miene, daß es mir eine schmerzliche Empfindung gab. Mein Stolz suchte diese Wunde zu verbinden; doch beunruhigte mich sein düstres Bezeugen gegen alle Welt am allermeisten; er redete mit gar niemand mehr als mit seinem Oncle und Herrn Derby, welcher mit entzückter Eilfertigkeit der Auffoderung entgegenging. Ich suchte ihn auch dafür durch mein bestes Tanzen zu belohnen und zugleich Seymourn durch meine Munterkeit zu zeigen, daß mich sein Widerwille nicht gerührt habe. Sie kennen mich. Sie urteilen gewiß, daß dieser Augenblick nicht angenehm für mich war; aber meine voreilige Neigung verdiente eine Strafe! Warum ließ ich mich durch die Lobreden der Liebhaberin des Mylord Seymour so sehr zu seinem Besten einnehmen, daß ich die Gerechtigkeit für andre darüber vergaß und auf dem Wege war, die Achtung für mich selbst zu vergessen? Aber ich habe ihm Dank, daß er mich zum Nachdenken und[130] Überlegen zurückführte; ich bin nun ruhiger in mir selbst, billiger für andre und habe auch deswegen neue Ursache, mit diesem Feste vergnügt zu sein. Ich habe für meinen Nächsten eine Pflicht der Wohltätigkeit ausgeübt und für mich eine Lektion der Klugheit gelernt, und nun hoffe ich, meine Emilia ist mit mir zufrieden und liebt mich wie sonst.


Fräulein von Sternheim an Emilia

Nun habe ich den Brief, den mir die arme Madam T* auf dem Gute des Grafen F* versprochen und worin sie mir die Ursachen ihres Elends erzählt; er ist so weitläufig und auf so dichtes Papier geschrieben, daß ich ihn nicht beischließen kann. Sie werden aber aus dem Entwurf meiner Antwort das meiste davon sehen, und einige Hauptzüge will ich hier bemerken.

Sie ist aus einer guten, aber armen Rats-Familie entsprossen; ihre Mutter war eine rechtschaffene Frau und sorgfältige Hauswirtin, die ihre Töchter sehr gering in Speise und Kleidung hielt, wenig aus dem Hause gehen ließ und zu beständigem Arbeiten anstrengte, auch ihnen immer von ihrem wenigen Vermögen redete, welches die Hindernis sei, warum sie und die Ihrigen in Kleidung, Tisch und übrigem Aufwande andern, die reicher und glücklicher wären, nicht gleichkäme. Die Kinder ließen sich's, wiewohl ungern, gefallen. Die Mutter stirbt, der Rat T* wirbt um die zwote Tochter und erhält sie sehr leicht, weil man wußte, daß er ein artiges Vermögen von seinen Eltern ererbt hatte. Der junge Mann will seinen Reichtum zeigen, macht seiner Frau schöne Geschenke, die Einrichtung seines Hauses wird auch so ge macht, sie geben Besuche, laden Gäste ein, und diese werden nach der Art begüterter Leute bedient; sie ziehen sich dadurch eine Menge Tischfreunde zu, und die gute Frau, welche in ihrem Leben nichts als den Mangel dieser Glückseligkeiten des Reichtums gekannt hatte, übergibt sich mit Freuden dem Genuß des Wohllebens, der Zerstreuung in Gesellschaften und dem Vergnügen schöner und abwechselnder Kleidung. Sie bekömmt Kinder; diese fängt man auch an standesmäßig zu erziehen; und das Vermögen[131] wird aufgezehrt; man macht Schulden und führt mit entlehntem Gelde den gewohnten Aufwand fort, bis die Summe so groß wird, daß die Gläubiger keine Geduld mehr haben und sie mit ihren Mobilien und dem Hause selbst die Bezahlung machen müssen; und nun verschwanden auch alle ihre Freunde. Die Gewohnheit eines guten Tisches und die Liebe zu schöner Kleidung nahm ihnen das übrige. Das Einkommen von seinem Amte wurde in den ersten Monaten des Jahres verbraucht, in den andern fand sich Mangel und Kummer ein; der Mann konnte seinen Stolz, die Frau ihre Liebe zur Gemächlichkeit nicht vergnügen; bei ihm fehlte der Wille, bei ihr die Klugheit, sich nach ihren Umständen einzurichten; es wurden Wohltäter gesucht; es fanden sich einige; aber ihre Hülfe war nicht zureichend. Der Mann wurde unmutig, machte den Leuten, welche seine Freunde gewesen, Vorwürfe, beleidigte sie, und sie rächten sich, indem sie ihn seines Amts verlustig machten. Nun war Verzweiflung und Elend in gleichem Maß ihr Anteil; beides wurde noch durch den Anblick von sechs Kindern vergrößert. Alle Verwandten hatten die Hände abgezogen, und da ihr Elend sie zu allerhand kleinen, oft niederträchtigen Hülfsmitteln zwang, so wurden sie endlich ein Gegenstand der Verachtung und des Hasses. In diesem Zustande lernte ich sie kennen und bot ihnen meine Hülfe an. Geld, Kleidung und Leinengeräte und andrer nötiger Hausrat war der Anfang davon. Ich sehe aber wohl, daß dieses nicht hinreichen wird, wenn das Übel nicht in der Wurzel gehoben und ihre Denkensart von den falschen Begriffen von Ehre und Glück geheilt wird. Ich habe einen Entwurf dazu gemacht, und Ihren rechtschaffenen Mann, den einsichtvollen Herrn Br*, bitte ich, ihn auszuarbeiten und zu verbessern. Denn ich sehe wohl ein, daß die Erfahrung und das Nachdenken eines zwanzigjährigen Mädchens nicht hinreichend ist, die dieser Familie auf allen Seiten nötige Anweisung zu einer richtigen Denkungsart zu geben. Sie, meine Emilia, werden sehen, daß meine Gedanken meistens Auszüge aus den Papieren meiner Erziehung sind, die ich auf diesen Fall anzupassen suchte. Es ist für den Reichen schwer, dem Armen einen angenehmen Rat zu geben; denn dieser wird den Ernst des erstern bei seinen moralischen Ideen[132] immer in Zweifel ziehen und seine Ermahnungen zu Fleiß und Genügsamkeit als Kennzeichen annehmen, daß er seiner Wohltätigkeit müde sei; und dieser Gedanke wird alle gute Wirkungen verhindern. Zwei Tage von Zerstreuung haben mein Schreiben, wo ich bei dem Rat T* stehenblieb, unterbrochen. Wollte Gott, ich hätte ihn reich machen können und hätte nur die Bitte zu dieser Gabe setzen dürfen, sie mit Klugheit zu brauchen. Das Wohlergehn dieser Familie hat mich mehr gekostet, als wenn ich ihnen die Hälfte meines Vermögens gegeben hätte. Ich habe ihr einen Teil meiner Denkungsart aufgeopfert; der Rat T* lag mir sehr an, ihm durch meinen Oncle wieder ein Amt zu verschaffen. Ich sagte es diesem, und er antwortete mir: er könne die Gnade, welche er wieder anfange, bei dem Fürsten zu genießen, für niemand als seine Kinder verwenden, indem er seinen Familien-Prozeß zu gewinnen suchte. Ich war darüber traurig, aber meine Tante sagte mir: ich sollte bei nächster Gelegenheit selbst mit dem Fürsten sprechen; ich würde finden, daß er gerne Gutes tue, wenn man ihm einen würdigen Gegenstand dazu zeigte, und ich würde gewiß keine Fehlbitte tun. Nachmittags kamen der Graf F* und seine Gemahlin zu uns; mit diesen beredete ich mich auch und ersuchte beide, sich bei dem Fürsten dieser armen Familie wegen zu verwenden; aber auch sie sagten mir: weil es die erste Gnade wäre, die ich mir ausbäte, so würde ich sie am leichtesten durch mich selbst erhalten. Zudem würde er es, der Seltenheit wegen, zusagen, weil sich noch niemals eine junge muntere Dame mit so vielem Eifer um eine verunglückte Familie angenommen habe, und dieser neue Zug meines Charakters würde die Hochachtung vermehren, die er für mich zeigte. Ich wurde unmutig, keine Hand zu finden, die sich mit der meinigen zu diesem Werk der Wohltätigkeit vereinigen wollte; mit dem Fürsten redete ich sehr ungern, ich konnte auf seine Bereitwilligkeit zählen, denn seine Neigung für mich hatte ich schon deutlich genug gesehen, aber eben daher entstund meine Unschlüssigkeit, ich wünschte, immer in einer Entfernung von ihm zu bleiben, und meine Fürbitte, seine Zusage und mein Dank nähern mich ihm und seinen Lobsprüchen, nebst den Erzählungen, die er mir schon von neuen, ihm bisher[133] unbekannten Gesinnungen, die ich ihm einflößte, zweimal gemacht hat. Etliche Tage kämpfte ich mit mir, aber da ich den vierten Abend einen Besuch in dem trostlosen Hause machte, die Eltern froh über meine Gaben, das Haus aber noch leer von Notdürftigkeiten und mit sechs teils großen, teils kleinen Kindern besetzt sahe, o da hieß ich meine Empfindlichkeit für meine Ruhe und Ideen derjenigen weichen, welche mich zum Besten dieser Kinder einnahm; sollte die Delikatesse meiner Eigenliebe nicht der Pflicht der Hülfe meines notleidenden Nächsten Platz machen, und der Widerwille, den mir die aufglimmende Liebe des Fürsten erreget, sollte dieser das Bild der Freude verdrängen, welche durch die Erhaltung eines Amts und Einkommens in diese Familie kommen würde. Ich war der Achtung gewiß, die er für denselben hätte; und was dergleichen mehr war. Man hatte mich der Hülfe versichert; mein Herz wußte, daß mir die Liebe des Fürsten ohne meine Einwilligung nicht schädlich sein konnte; ich führte also gleich den andern Tag meinen Entschluß aus, da wir bei der Prinzessin von W* im Konzert waren und ich meine Stimme hören lassen mußte. Der Fürst schien entzückt und ersuchte mich einigemal, mit ihm im Saal auf und ab zu gehen. Sie können denken, daß er mir viel von der Schönheit meiner Stimme und der Geschicklichkeit meiner Finger redete, und daß ich diesem Lob einige bescheidne Antworten entgegensetzte; aber da er den Wunsch machte, mir seine Hochachtung durch etwas anders als Worte beweisen zu können, so sagte ich, daß ich von seiner edeln und großmütigen Denkungsart überzeugt wäre und mir daher die Freiheit nähme, seine Gnade für eine unglückliche Familie zu erbitten, die der Hülfe ihres Landesvaters höchst bedürftig und würdig sei.

Er blieb stillestehen, sahe mich lebhaft und zärtlich an: »Sagen Sie mir, liebenswürdiges Fräulein Sternheim: wer ist diese Familie? was kann ich für sie tun?« Ich erzählte ihm kurz, deutlich und so rührend, als ich konnte, das ganze Elend, in welchem sich der Rat T* samt seinen Kindern befänden, und bat ihn um der letztern willen, Gnade und Nachsicht für den erstern zu haben, der seine Unvorsichtigkeit schon lange durch seinen Kummer gebüßet hätte. Er versprach mir alles Gute,[134] lobte mich wegen meinem Eifer und setzte hinzu, wie gerne er Unglücklichen zu Hülfe komme; aber, daß er wohl einsehe, daß diejenigen, die ihn umgäben, immer zuerst für sich und die Ihrigen besorgt wären; ich würde ihm vieles Vergnügen machen, wenn ich ihm noch mehr Gegenstände seiner Wohltätigkeit anzeigen wollte.

Ich versicherte ihn, daß ich seine Gnade nicht mißbrauchen würde, wiederholte nochmals ganz kurz meine Bitte für die Familie T*.

Er nahm meine Hand, drückte sie mit seinen beiden Händen und sagte mit bewegtem Ton: »Ich verspreche Ihnen, meine liebe, eifrige Fürbitterin, daß alle Wünsche Ihres Herzens erfüllt werden sollen, wenn ich erhalten kann, daß Sie gut für mich denken.«

Diesen Augenblick verwünschte ich beinahe mein mitleidendes Herz und die Familie T*; denn der Fürst sah mich so bedeutend an, und da ich meine Hand wegziehen wollte, so hielt er sie stärker und erhob sie gegen seine Brust. »Ja, wiederholte er, alles werde ich anwenden, um Sie gut für mich denken zu machen.«

Er sagte dieses laut und mit einem so feurigen und unruhvollen Ausdruck in seinem Gesichte, daß sich viele Augen nach uns wendeten und mich ein kalter Schauer ankam. Ich riß meine Hand los und sagte mit halb gebrochner Stimme, daß ich nicht anders als gut von dem Fürsten denken könne, der so willig wäre, seinen unglücklichen Landeskindern väterliche Gnade zu beweisen; machte dabei eine große Verbeugung und stellte mich mit etwas Verwirrung hinter den Stuhl meiner Tante. Der Fürst soll mir nachgesehen und mit dem Finger gedroht haben. Mag er immer drohen; ich werde nicht mehr mit ihm spazierengehen und will meinen Dank für seine Wohltat an T* nicht anders als mitten im Kreis ablegen, den man allezeit bei seinem Eintritt im Saal bei Hofe um ihn schließt.

Alle Gesichter waren mit Aufmerksamkeit bezeichnet, und noch niemals hatte ich an den Spieltischen eine so allgemeine Klage über zerstreute Spieler und Spielerinnen gehört. Ich fühlte, daß ihre Aufmerksamkeit auf mich und den Fürsten Ursache daran war und konnte mich kaum von meiner Verwirrung[135] erholen. Mylord Derby sah etwas traurig aus und schien mich mit Verlegenheit zu betrachten; er war in ein Fenster gelehnt und seine Lippen bewegten sich wie eines Menschen, der stark mit sich selbst redet; er näherte sich dem Spieltische meiner Tante just in dem Augen blick, da sie sagte:

»Sophie, du hast gewiß mit dem Fürsten für den armen Rat T* gesprochen; denn ich sehe dir an, daß du bewegt bist.«

Niemals war mir meine Tante lieber als diesen Augenblick, da sie meinen Wunsch erfüllte, daß alle wissen möchten, was der Inhalt meines Gesprächs mit dem Fürsten gewesen sei. Ich sagte auch ganz munter: er hätte meine Bitte in Gnaden angehört und zugesagt. Die Düsternheit des Mylords Derby verlor sich und blieb nur nachdenkend, aber ganz heiter, und die übrigen zeigten mir ihren Beifall über meine Fürbitte mit Worten und Gebärden. Aber was denken Sie, meine Emilia, wie mir war, als ich nach der Gesellschaft mich nur auszog und einen Augenblick mit meiner Rosine in einem Tragsessel mich zum Rat T* bringen ließ, der gar nicht weit von uns wohnt; ich wollte den guten Leuten eine vergnügte Ruhe verschaffen, indem ich ihnen die Gnade des Fürsten versicherte. Ich hatte mich nahe an das Fenster, welches in eine kleine Gasse gegen einen Garten geht, gesetzt. Eltern und Kinder waren um mich versammelt; der Rat T* hatte auf mein Zureden neben mir auf der Bank Platz genommen, und ich zog die Frau mit meiner Hand an mich, indem ich beiden sagte: »Bald, meine lieben Freunde, werde ich Sie mit einem vergnügten Gesichte sehen, denn der Fürst hat dem Herrn Rat ein Amt und andre Hülfe versprochen.«

Die Frau und die zwei ältesten Kinder knieten vor mich hin mit Ausrufung voll Freude und Danks. Im nämlichen Augenblick pochte jemand an den Fensterladen; der Rat T* machte das Fenster und den Laden auf, und es flog ein Paket mit Geld herein, das ziemlich schwer auffiel und uns alle bestürzt machte. Eilends näherte ich meinen Kopf dem Fenster und hörte ganz deutlich die Stimme des Mylords Derby, der auf englisch sagte: »Gott sei Dank, ich habe etwas Gutes getan, mag man mich wegen meiner Lustigkeit immer für einen Bösewicht halten!«[136]

Ich bekenne, daß mich seine Handlung und seine Rede in der Seele bewegte, und mein erster Gedanke war: Vielleicht ist Mylord Seymour nicht so gut, als er scheint, und Derby nicht so schlimm, als von ihm gedacht wird. Die Frau T* war an die Haustüre geloffen und rief: »Wer sind Sie?« Aber er eilte davon wie ein fliehender Vogel. Das Paket wurde aufgemacht und funfzig Karolinen darin gefunden. Urteilen Sie von der Freude, die darüber entstand. Eltern und Kinder weinten und drückten sich wechselsweise die Hände; wenig fehlte, daß sie nicht das Geld küßten und an ihr Herz drückten. Da sah ich den Unterschied zwischen der Wirkung, welche die Hoffnung eines Glücks und der, die der wirkliche Besitz desselben macht. Die Freude über das versprochene Amt war groß, doch deutlich mit Furcht und Mißtrauen vermengt; aber fünfzig Karolinen, die man in die Hände faßte, zählte und ihrer sicher war, brachten alle in Entzückung. Sie fragten mich: was sie mit dem Gelde anfangen sollten? Ich sagte zärtlich: »Meine lieben Freunde, gebrauchen Sie es sorgfältig, als wenn Sie es mit vieler Mühe erworben hätten und als ob es der ganze Rest Ihres Glücks wäre, denn wir wissen noch nicht, wann oder wie der Fürst für Sie sorgen wird.« Ich ging sodann nach Hause und war mit meinem Tage vergnügt.

Ich hatte durch meine Fürbitte die Pflicht der Menschenliebe ausgeübt und den Fürsten zu einer Ausgabe der Wohltätigkeit gebracht, wie ihn andre zu Ausgaben von Wollust und Üppigkeit verleiteten. Ich hatte die Herzen trostloser Personen mit Freude erfüllt und das Vergnügen genossen, von einem für sehr boshaft gehaltenen Mann eine edle und gute Handlung zu sehen. Denn wie schnell hat Mylord D. die Gelegenheit ergriffen, Gutes zu tun? An dem Spieltische meiner Tante hört er ungefähr von einem mitleidenswürdigen Hause reden und erkundigt sich gleich mit so vielem Eifer darnach, daß er noch den nämlichen Abend eine so freigebige, wahrhaftig engländische Hülfe leistet.

Er dachte wohl nicht, daß ich da wäre, sondern zu Hause an der Tafel sitzen würde, sonst sollte er nicht englisch geredet haben. In Gesellschaften hörte ich ihn oft gute Gesinnungen äußern; aber ich hielte sie für Heucheleien eines feinen Bösewichts;[137] allein die freie, allen Menschen unbekannte Handlung kann unmöglich Heuchelei sein. O möchte er einen Geschmack an der Tugend finden und ihr seine Kenntnisse weihen! Er würde einer der hochachtungswürdigsten Männer werden.

Ich kann mich nun nicht verhindern, ihm einige Hochachtung zu bezeugen, weil er sie verdient. Seinen feinen Schmeicheleien, seinem Witz und der Ehrerbietung, die er mir beweist, hätte ich sie niemals gegeben. Es kann oft geschehen, daß äußerliche Annehmlichkeit uns die Aufwartung und vielleicht die stärkste Leidenschaft des größten Bösewichts zuzieht. Aber wie verachtungswert ist ein Frauenzimmer, die einen Gefallen daran bezeugt und sich wegen diesem armen Vergnügen ihrer Eigenliebe zu einer Art von Dank verbunden hält. Nein! niemand als der Hochachtungswürdige soll hören, daß ich ihn hochschätze. Zu meiner Höflichkeit ist die ganze Welt berechtigt; aber bessere Gesinnungen müssen durch Tugenden erworben werden.

Nun glaube ich aber nötig zu sagen, daß mein ganzer Plan für die Familie T* umgearbeitet werden müsse, wenn sie ein sicheres Einkommen erhalten. Ich überlasse es Ihrem gutdenkenden und aller Klassen der Moral und Klugheit kundigen Manne, diesen Plan brauchbar zu machen. Ich bitte Sie aber bald darum. Und da meine Augen vor Schlaf zufallen, wünsche ich Ihnen, meine teure Emilia, gute Nacht.


Fräulein von Sternheim an Frau T*

Ich danke Ihnen, werte Madam T*, für das Vergnügen, welches Sie mir durch Ihre Offenherzigkeit gemacht haben; ich versichre Sie dagegen meiner wahren Freundschaft und eines unermüdeten Eifers, Ihnen zu dienen.

Sie wissen von meinem letzten Besuch, daß das Verlangen des Herrn T* nach einem Amte durch die gnädigen Gesinnungen Ihres Fürsten zufriedengestellt wird. Sie kennen meine Freude über den Gedanken, Sie bald aus dem sorgenvollen Stande gezogen zu sehen, in welchem Sie schmachten. Darf ich Ihnen aber auch sagen, daß diese Freude mit dem Wunsch begleitet[138] ist: daß Sie sich bemühen möchten, Ihren künftigen Wohlstand für Sie und Ihre Kinder dauerhaft zu machen. Die Vergleichung Ihres vorigen Wohlstandes und der kummervollen Jahre, die darauf erfolgten, könnte die Grundlage eines Plans werden, den Sie itzt mit Ihren Kindern befolgten. Die Geschenke des Lord Derby haben Sie in den Stand gesetzt, sich mit Kleidung und Hausgeräte zu besorgen, so daß das Einkommen Ihres Amts ganz rein zu Unterhaltung und Erziehung Ihrer Kinder gewidmet werden kann.

Ich trauete meinen jungen Einsichten nicht zu, den Entwurf eines solchen Plans zu machen, und habe einen Freund geistlichen Standes darum gebeten, der mir folgendes zuschrieb.

Bei den drei ältern Kindern ist (wie ich aus der Nachricht ersehe) der Verstand und die Empfindung reif genug, um jene Vergleichung in ihrer Stärke und Nutzbarkeit einzusehen. Wenn Sie ihnen sodann die Berechnung Ihres Einkommens und der nötigen Ausgaben machen, werden sie sich gerne nach Ihrem Plan führen lassen. Sagen Sie ihnen alsdann:

Gott habe zwo Gattungen Glückseligkeit für uns bestimmt, wovon die erste ewig für unsre Seele verheißen ist und deren wir uns durch die Tugend würdig machen müssen.11 Die zwote geht unser Leben auf dieser Erde an. Diese können wir durch Klugheit und Kenntnisse erhalten. Reden Sie ihnen von der Ordnung, die Gott unter den Menschen durch die Verschiedenheit der Stände eingesetzt hat. Zeigen Sie ihnen die höhere und reichere, aber auch die ärmere und niedrigere als Sie sind. Reden Sie von den Vorteilen und Lasten, die jede Klasse hat, und lenken Sie alsdenn Ihre Kinder zu einer ehrerbietigen Zufriedenheit mit ihrem Schöpfer, der sie durch die Eltern, die er ihnen gab, zu einem gewissen Stande bestimmte und ihnen darin ein eignes Maß besondrer Pflichten zu erfüllen auflegte; sagen Sie ihnen, zu den Pflichten der Tugend und der[139] Religion sei der Fürst wie der Geringste unter den Menschen verbunden.

Der erste Rang des Privatstandes habe die edle Pflicht, durch nützliche Kenntnisse und Gelehrsamkeit auf den verschiedenen Stufen öffentlicher Bedienungen oder in der höhern Klasse des Kaufmannsstandes dem gemeinen Wesen nützlich zu sein.

Von diesem Begriffe machen Sie die Anwendung, daß Ihre Söhne durch den Stand des Herrn Rat T* in den ersten Rang der Privatpersonen gehören, darin sie nach Erfüllung der Pflichten für ihr ewiges Wohl auch denen nachkommen müssen, ihre Fähigkeiten des Geistes durch Fleiß im Lernen und Studieren so anzubauen, daß sie einst als geschickte und rechtschaffene Männer ihren Platz in der Gesellschaft einnehmen könnten. Der Ursprung des Adels wäre kein besonderes Geschenk der Vorsicht, sondern die Belohnung der zum Nutzen des Vaterlandes ausgeübten vorzüglichen Tugenden und Talente gewesen. Der Reichtum sei die Frucht des unermüdeten Fleißes und der Geschicklichkeit; es stünde bei ihnen, sich auch auf diese Art vor andern ihresgleichen zu zeigen, weil Tugend und Talente noch immer die Grundsteine der Ehre und des Glücks sein.

Ihren Töchtern sollen Sie sagen, daß sie neben den Tugenden der Religion auch die Eigenschaften edelgesinnter liebenswürdiger Frauenzimmer besitzen müssen und daß sie dieses ohne großen Reichtum werden und bleiben könnten.

Unser Herz und Verstand sind dem Schicksal nicht unterworfen. Wir können ohne eine adelige Geburt edle Seelen und ohne großen Rang einen großen Geist haben; ohne Reichtum glücklich und vergnügt und ohne kostbaren Putz durch unser Herz, unsern Verstand und unsre persönliche Annehmlichkeiten sehr liebenswürdig sein und also durch gute Eigenschaften die Hochachtung unsrer Zeitgenossen als die erste und sicherste Stufe zu Ehre und Glück erlangen.

Dann sagen Sie ihnen ihre Einkünfte und die Anwendung, die sie davon, nach den Pflichten für die Bedürfnisse ihres Körpers in Nahrung und Kleider, für die Bedürfnisse ihres Geistes und Vergnügens an Lehrmeistern, Büchern und Gesellschaften[140] machen wollten. Nennen Sie auch den zurücklegenden Pfennig als eine Pflicht der Klugheit für künftige Zufälle.

Wir brauchen Nahrung, um die Kräfte unsers Körpers zu unterhalten. Und diesen Endzweck der Natur können wir durch die simpelsten Speisen am leichtesten erreichen. Diese werden von dem kleinen Einkommen nicht zuviel wegnehmen und wir folgen da durch der Stimme der Natur für unsre Gesundheit und geben zugleich unserm Schicksal nach, welches uns die Ausschweifungen unsrer Einbildung ohnehin nicht erlaubte. Und da der Reiche nach dem schwelgerischen Genuß des Überflusses seine Zuflucht zu einfachen Speisen und Wasser nehmen muß, um seine Gesundheit wiederherzustellen, warum sollten wir uns beklagen, weil wir durch unser Verhängnis gezwungen sind, in gesunden Tagen den einfachen Foderungen der Natur gemäß zu leben? Kleider haben wir zur Bedeckung und zum Schutz gegen die Anfälle der Witterung nötig; diesen Dienst erhalten wir von den geringen und wohlfeilen Zeugen wie von den kostbaren. Die meinem Gesichte anständige Farbe und die Schönheit der Form muß bei dem ersten wie bei dem letzten gesucht werden; habe ich diese, so habe ich die erste Zierde des Kleides. Ein edler Gang, eine gute Stellung, die Bildung, so mir die Natur gab, können meinem netten einfachen Putz ein Ansehen geben, das der Reiche bei alle seinem Aufwand nicht allezeit erhält; und bei Vernünftigen wird mir meine Mäßigung ebensoviel Ehre machen, als der Reiche in dem Wechsel seiner Pracht immer finden kann.

Müssen wir in unserm Hausgeräte den Mangel vieles Schönen und Gemächlichen ertragen, so wollen wir in dem höchsten Grade der Reinlichkeit den Ersatz des Kostbaren suchen und uns gewöhnen, wie der weise Araber, froh zu sein, daß wir zu unserm Glück den Überfluß nicht nötig haben. Und wie edel können einst die Töchter des Herrn Rats die Würde ihres Hauses zieren, wenn die Zimmer mit schönen Zeichnungen, die Stühle und Ruhebänke mit Tapetenarbeit von ihren geschickten Händen bekleidet sein werden! Sollten Sie nach dieser edelmütigen Ergebung in Ihr Schicksal durch den Anblick des Reichen in eine traurige Vergleichung zwischen Ihren und[141] seinen Umständen verfallen, so halten Sie sich nicht bloß an die Idee des Vergnügens, das der Reiche in seiner Pracht und Wollust genießt, sondern wenden Sie Ihre Gedanken auf den Nutzen, den Kaufleute, Künstler und Handarbeiter davon haben; denn bei dem ersten Gedanken fühlen Sie nichts als Schmerzen der Unzufriedenheit mit Ihrem Geschicke, welches Sie alle dieser Freuden beraubte; aber bei der zweiten Betrachtung empfinden Sie das Vergnügen einer edeln Seele, die sich über das Wohl ihres Nächsten erfreut, und je kleiner Ihr Anteil an allgemeinem Glück ist, desto edler ist Ihre Freude.

Prüfen Sie das Maß der Fähigkeiten Ihrer Kinder, lassen Sie keines unbebauet, und so bescheiden sie in Kleidung und anderm Aufwand von Personen Ihres Standes sein mögen, so verwenden Sie alles auf die Erziehung. Zeichnen, Musik, Sprachen, alle schönen Arbeiten des Frauenzimmers für Ihre Töchter; für Ihre Söhne alle Kenntnisse, die man von wohlerzognen jungen Mannsleuten fodert. Flößen Sie beiden Liebe und Geschmack für die edle und unserm Geiste so nützliche Beschäftigung des Lesens ein, besonders alles dessen, was zu der besten Kenntnis unsrer Körperwelt gehört. Es ist eine Pflicht des guten Geschöpfs, die Werke seines Urhebers zu kennen, von denen wir alle Augenblicke unsers Lebens soviel Gutes genießen; da die ganze physikalische Welt lauter Werke und Zeugnisse der Wohltätigkeit und Güte unsers Schöpfers in sich faßt, deren Anblick und Kenntnis das reinste und vollkommenste, keinem Zufall, keinem Menschen unterworfene Vergnügen in unsre Seele gießt. Je mehr Geschmack Ihre Kinder an der natürlichen Geschichte unsers Erdbodens, je mehr Kenntnisse sie von seinen Gewächsen, Nutzbarkeit und Schönheit erlangen, je sanfter ihre Gesinnungen, Leidenschaften und Begierden sein, und um so viel mehr wird ihr Geschmack am Edeln und Einfachen gestärkt und befestigt werden, und um so weiter entfernen sie sich Von der Idee, daß Pracht und Wollust das größte Glück sei.

Die Geschichte der moralischen Welt sollen Ihre Kinder auch kennen; die Veränderungen, welche ganze Königreiche und erhabne Personen betroffen, werden sie zu Betrachtungen leiten, deren Wirkung die Zufriedenheit mit ihren eingeschränkten[142] Umständen sein und den Eifer für die Vermehrung der Tugend ihrer Seele und der Kenntnisse ihres Geistes vergrößern wird; weil sie durch die Geschichte Enden werden, daß, Tugend und Talente allein die Güter sind, welche Verhängnis und Menschen nicht rauben können.

Heute abend sollen Ihre Kinder alle Bücher erhalten, welche zu Erlangung dieses Nutzens erforderlich sind. Der beste Segen meines Herzens wird den Korb begleiten, damit diese Arbeiten wohltätiger und liebenswürdiger Männer auch für sie eine Quelle nutzbarer Kenntnisse und der besten Vergnügungen ihres Lebens werden, gleichwie sie es für mich sind.

Noch eins bitte ich Sie, teure Madam T*. Suchen Sie ja keine Tischfreunde mehr. Beweisen Sie denen, so Ihnen in Ihrem Unglücke dienten, Ihre Dankbarkeit und Achtung, Freundschaft und alle Gesinnungen der Ehre; tun Sie nach allen Ihren Kräften andern Notleidenden Gutes und leben Sie mit Ihren Kindern ruhig und einsam fort, bis Ihr Umgang von Rechtschaffnen gesucht wird. Halten Sie Ihre heranwachsende Töchter, je mehr Schönheit, je mehr Talente sie haben werden, je mehr zu Hause; das Lob ihrer Lehrmeister und die Bescheidenheit und Klugheit ihrer Lebensart soll sie bekannt machen, ehe man mit ihren Gesichtern sehr bekannt sein wird. Ich bin überzeugt, daß Sie einst sehr zufrieden sein werden, dieser Phantasie Ihrer Freundin gefolgt zu haben.


Mylord Derby an seinen Freund in Paris

Heida, Brüderchen, rufen sich die Landsleute meiner Sternheim zu, wenn sie sich recht lustig machen wollen. Und weil ich meine englischen Netze auf deutschem Boden ausgesteckt habe, so will ich dir auch zurufen! Heida, Brüderchen! die Schwingen meines Vögelchens sind verwickelt! Zwar sind Kopf und Füße noch frei, aber die kleine Jagd, welche auf der andern Seite nach ihr gemacht wird, soll sie bald ganz in meine Schlingen treiben und sie sogar nötigen, mich als ihren Erretter anzusehen. Vortrefflich war mein Gedanke, mich nach ihrem Geiste der Wohltätigkeit zu schmiegen und dabei das Ansehen der Gleichgültigkeit und Verborgenheit zu behalten. Beinahe[143] hätte ich es zu lange anstehen lassen und die beste Gelegenheit versäumt, mich ihr in einem vorteilhaften Lichte zu zeigen; aber die Geschwätzigkeit ihrer Tante half mir alles einbringen.

In der letzten Gesellschaft bei Hofe wurden wir alle durch ein langes Gespräch der Sternheim mit dem Fürsten besonders aufmerksam gemacht; ich hatte ihren Ton behorcht, welcher süß und einnehmend gestimmt war, und da ich nachdachte, was das Mädchen vorhaben möchte, sah ich den Fürsten ihre Hände er greifen und, wie mich dünkte, eine küssen. Der Kopf wurde mir schwindlicht, ich verlor meine Karten und legte mich voll Gift an ein Fenster; aber wie ich sie zum Spieltische ihrer Tante eilen und ihre Augen voller Bewegung und verwirrt auf das Spiel richten sah, näherte ich mich. Sie warf einen heftigen halbscheuen Blick nach mir. Ihre Tante Eng an: Sie sähe ihr an, daß sie mit dem Fürsten für den Rat T* geredet habe: das Fräulein bejahte es, sagte freudig, daß er ihr Gnade für die Familie versprochen, und setzte etwas von dem Notstande dieser Leute hinzu. Dieses faßte ich mir, um gleich den andern Tag etwas für sie zu tun, ehe der Fürst die Bitte der Sternheim erfüllte. Ich ging nach meiner Gewohnheit in dem Überrock meines Kerls an die Fenster des Speisesaals vom Grafen Löbau, weil ich alle Tage wissen wollte, wer mit meiner Schönen zu Nacht esse; kaum war ich in der Gasse, so sah ich Tragsessel kommen, die an dem Hause hielten, zwo ziemlich verkappte Frauenzimmer kamen an die Tür und ich hörte die Stimme der Sternheim deutlich sagen, zu Rat T* am S*** Garten. Ich wußte das Haus, lief in mein Zimmer, holte mir Geld und warf es, da sie noch da war, bei dem Rat T* durchs Fenster, an welchem das Fräulein saß, murmelte einige Worte von Freude über die Wohltätigkeit, und als man an die Türe kam, eilte ich davon. Zauberkraft war in meinen Worten; denn da ich zween Tage darauf dem Fräulein in Graf F-s Hause entgegenging, um ihr meine angenommene Ehrerbietung zu bezeugen, bemerkte ich, daß ihr schönes Auge sich mit einem Ausdruck von Achtung und Zufriedenheit auf meinem Gesichte verweilte; sie fing an, mir etliche Worte auf englisch zu sagen, aber da sie sehr spät gekommen war, wurde ihr[144] gleich vom jungen Grafen F* eine Karte zu ziehen angeboten; sie sah sich unschlüssig, wie durch eine Ahndung, um und zog einen König, der sie zur Partie des Fürsten bestimmte.

»Mußte ich just diese ziehen«, sagte sie, mit unmutiger Stimme; aber sie hätte lange wählen können, sie würde nichts als Könige gezogen haben, dann der Graf F* hatte keine andre Karten in der Hand, und ihre Tante war mit Bedacht spat gekommen, da alle Spieltische besetzt und der Fürst just als von ungefähr in die Gesellschaft gekommen und so höfisch war, keinem sein Spiel nehmen zu wollen, sondern dem Zufall unter der Leitung des diskreten F. die Sorge übertrug, ihm jemand zu schaffen. Der französische Gesandte und die Gräfin F* machten die Partie mit; mein Pharaon erlaubte mir manchmal, hinter den Stuhl des Fürsten zu treten und meine Augen dem Fräulein etwas sagen zu lassen; bezaubernde, unnachahmliche Anmut begleitete alles, was sie tat; der Fürst fühlte es einst, als sie mit ihrer schönen Hand Karten zusammenraffte, so stark, daß er hastig die seinige ausstreckte, einen ihrer Finger faßte und mit Feuer ausrief: »Ist es möglich, daß in P** alle diese Grazien erzogen wurden? Gewiß, Herr Marquis, Frankreich kann nichts Liebenswürdigers zeigen.«

Der Gesandte hätte kein Franzose und kein Gesandter sein müssen, wenn er es nicht bekräftiget hätte, wäre er auch nicht davon überzeugt gewesen; und meine Sternheim glühete von Schönheit und Unzufriedenheit. Denn die Blicke des Fürsten mögen noch lebhafter gewesen sein als der Ton, mit welchem er redete. Mein Mädchen mischte die Karte mit niedergeschlagenem Auge fort. Als sie selbige austeilte, machte ich eine Wendung; sie blickte mich an; ich zeigte ihr ein nachdenkendes, trauriges Gesichte, mit welchem ich sie ansah, meine Augen auf den Fürsten heftete und mit schnellem Schritte mich an den Pharao-Tisch begab, wo sie mich spielen sehen konnte. Ich setzte stark und spielte zerstreut; meine Absicht war, die Sternheim denken zu machen, daß meine Beobachtung der Liebe des Fürsten gegen sie Ursache an der Nachlässigkeit für mein Glück und der scheinbaren Zerstreuung meiner Gedanken sei. Dieses konnte sie nicht anders als der Stärke meiner Leidenschaft für sie zuschreiben, und es ging, wie ich es haben[145] wollte. Sie war auf alle meine Bewegungen aufmerksam. Als die Spiele geendigt waren, ging ich schwermütig zu dem Piquet, eben da das Fräulein ihr gewonnenes Geld zusammenfaßte; es war viel und alles von dem Fürsten.

»Heute noch«, sagte sie, »sollen es die Kinder des Rats T* bekommen, denen ich sagen werde, daß Euere Durchlaucht ihnen zulieb es so großmütig verloren haben.«

Der Fürst sah sie lächelnd und vergnügt an, und ich riß mich aus dem Zimmer weg, mit dem Entschluß auf sie zu lauren, wenn sie zum Rat T* ginge, um mich dort einzudringen und ihr von meiner Liebe zu reden. Den ganzen Nachmittag hatte sie mich mit Tiefsinn und Heftigkeit wechselsweise behaftet gesehen; mein Eindringen konnte auf die Rechnung meiner starken Leidenschaft geschrieben werden. Ich habe ohnehin während meinem Aufenthalt in Deutschland gefunden, daß ein günstiges Vorurteil für uns darin herrschet, kraft dessen man von unsern verkehrtesten Handlungen auf das gelindeste urteilt, ja, sie noch manchmal als Beweise unsrer großen und freien Seelen ansieht.

Bei dieser Kunst, den Augenblick des Zufalls zu benutzen, habe ich mehr gewonnen, als ich durch ein ganzes Jahr Seufzen und Winseln erhalten hätte. Lies diese Szene und bewundere die Gegenwart des Geistes und die Gewalt, die ich über meine sonst unbändige Sinnen in der ganzen halben Stunde hatte, die ich allein, ganz allein mit meiner Göttin in einem Zimmer war und ihre schöne Figur in der allerreizendsten Gestalt vor mir sah. Sie war nach Hause gegangen, um ihr Oberkleid und ihren Kopfputz abzulegen und warf nur einen großen Mantel und eine Kappe über sich, als sie sich zu Rat T* tragen ließ. Die Kappe, welche sie abzog, nahm allen Puder von ihren Kastanien-Haaren hinweg und brachte auch die Locken etwas in Unordnung; ein kurzes Unterkleid und die schöne erhöhete Farbe, die ihr mein Anblick und meine Unterredung gab, machten sie unbeschreiblich reizend.

Als sie einige Minuten da war, pochte ich an die Türe und rief sachte nach der Madam T*. Sie kam; ich sagte ihr, daß ich Sekretär bei Mylord G. wäre, der mich mit einem Geschenk für ihre Familie zu dem Fräulein von Sternheim geschickt hätte,[146] der ich es selbst übergeben solle und mit ihr deswegen zu reden habe; die Frau hieß mich einen Augenblick warten und lief hin, ihren Mann und ihre Kinder in ein ander Zimmer zu schaffen; sie winkte mir sodann. Ich Narr zitterte beinahe, als ich den ersten Schritt in die Türe trat; aber die kleine Angst, die das Mädchen befiel, erinnerte mich noch zu rechter Zeit an die Oberherrschaft des männlichen Geistes, und eine überbleibende Verwirrung mußte mir dazu dienen, mein gezwungenes Eindringen zu beschönen. Ehe sie sich von ihrem Erstaunen, mich zu sehen, erholen konnte, war ich zu ihren Füßen; machte in unsrer Sprache einige lebhafte Entschuldigungen wegen des Überfalls und wegen des Schreckens, den ich ihr verursacht, aber es sei mir unmöglich gewesen, noch länger zu leben, ohne ihr das Geständnis der lebhaftesten Verehrung zu machen, und daß, da mir durch Mylord G. die vielen Besuche in dem Hause ihres Oncles untersagt worden, und ich gleichwohl mit Augen gesehen, daß andere die Kühnheit hätten, ihr ihre Gesinnungen zu zeigen, so wollte ich nur das Vorrecht haben, ihr zu sagen, daß ich sie wegen ihrem seltenen Geist verehrte, daß ich Zeuge von ihrer ausübenden Tugend gewesen wäre und sie allein mich an den Ausspruch des Weisen erinnert hätte, der gesagt, daß wenn die Tugend in sichtbarer Gestalt erschiene, niemand der Gewalt ihrer Reizungen würde widerstehen können; daß ich dieses Haus als einen Tempel betrachtete, in welchem ich zu ihren Füßen die Gelübde der Tugend ablegte, welche ich durch sie in ihrer ganzen Schönheit hätte kennenlernen, daß ich mich nicht würdig schätzte, ihr von Liebe zu reden, ehe ich mich ganz umgebildet hätte, wobei ich ihr Beispiel zum Muster nehmen würde. Meine Erscheinung und der Jast der Leidenschaften, in welchem ich zu ihr sprach, hatte sie wie betäubt und auch anfangs etwas erzürnt; aber das Wort Tugend, welches ich etlichemal aussprach, war die Beschwörung, durch welche ich ihren Zorn besänftigte und ihr alle Aufmerksamkeit gab, die ich nötig hatte, um mir ihre Eitelkeit gewogen zu machen. Ich sah auch, wie mitten unter den Runzeln, die der Unmut der jungfräulichen Sittsamkeit über ihre Stirne gezogen hatte, da sie mich etlichemal unterbrechen und forteilen wollte, mein Plato mit seiner sichtbar gewordenen[147] Tugend diese ernsthaften Züge merklich aufheiterte und der feinste moralische Stolz auf ihren zur Erde geschlagnen Augen saß. Diese Bemerkung war mir für diesmal genug, und ich endigte meine ganz zärtlich gewordene Rede mit einer wiederholten demütigen Abbitte meiner Überraschung.

Sie sagte mit einer etwas zitternden Stimme: Sie bekenne, daß mein Anblick und meine Anrede ihr sehr unerwartet gewesen sei, und daß sie wünschte, daß mich meine Gesinnungen, wovon ich ihr redete, abgehalten hätten, sie in einem fremden Hause zu überraschen.

Ich machte einige bewegliche Ausrufungen, und mein Gesicht war mit der Angst bezeichnet, ihr mißfallen zu haben; sie betrachtete mich mit Sorgsamkeit und sagte: »Mylord, Sie sind der erste Mann, der mir von Liebe redt und mit dem ich mich allein befinde; beides macht mir Unruhe; ich bitte Sie, mich zu verlassen und mir dadurch eine Probe der Hochachtung zu zeigen, die Sie für meinen Charakter zu haben vorgeben.«

»Vorgeben! O Sternheim, wenn es vorgebliche Gesinnungen wären, so hätte ich mehr Vorsicht gebraucht, um mich gegen Ihren Zorn zu bewahren. Anbetung und Verzweiflung war's, die mich zu der Verwegenheit führten, hieher zu kommen; sagen Sie, daß Sie mir meine Verwegenheit vergeben und meine Verehrung nicht verwerfen.«

»Nein, Mylord, die wahre Hochachtung des rechtschaffenen Mannes werde ich niemals verwerfen; aber wenn ich die Ihrige erhalten habe, so verlassen Sie mich.«

Ich erhaschte ihre Hand, küßte sie und sagte zärtlich und eifrig: »Göttliches, anbetungswürdiges Mädchen! ich bin der erste Mann, der dir von Liebe redet: O wenn ich der erste wäre, den du liebtest!«

Seymour fiel mir ein, es war gut, daß ich ging; an der Tür legte ich mein Paket Geld hin und sagte zurück: »Geben Sie es der Familie.«

Sie sah mir mit einer leutseligen Miene nach; und seitdem habe ich sie zweimal in Gesellschaften gesehen, wo ich mich in einer ehrerbietigen Entfernung halte und nur sehr gelegen etliche Worte von Anbetung, Kummer oder so etwas sage und,[148] wenn sie mich sehen oder hören kann, mich sehr weislich und züchtig aufführe.

Von Mylord G. weiß ich, daß man bei Hof verschiedene Anschläge macht, ihren Kopf zu gewinnen; das Herz, denken sie, haben sie schon, weil sie gerne Gutes tut und ihr der Fürst alles bewilligen wird. Man hält in ihrer Gegenwart immer Unterredungen von der Liebe und galanten Verbindungen, die man leicht, und was man in der Welt philosophisch heißt, beurteilt. Alles dieses dient mir; denn je mehr sich die andern bemühen, ihre Begriffe von Ehre und Tugend zu schwächen und sie zum Vergessen derselben zu verleiten; je mehr wird sie gereizt, mit allem weiblichen Eigensinn ihre Grundsätze zu behaupten. Die trockne Höflichkeit des Mylord G., die argwöhnische und kalte Miene des Seymour beleidigt die Überzeugung, die sie von dem Werte ihrer Tugend hat. Ich beweise ihr Ehrerbietung; ich bewundere ihren seltnen Charakter und achte mich nicht würdig, ihr von Liebe zu reden, bis ich nach ihrem Beispiel umgebildet sein werde; und so werde ich sie, in dem Harnisch ihrer Tugend und den Banden der Eigenliebe verwickelt, zum Streit mit mir untüchtig sehen; wie man die Anmerkung von den alten Kriegsrüstungen machte, unter deren Last endlich der Streiter erlag und mit seinem schönen festen Panzer gefangen wurde. Sage mir nichts mehr Von der frühen Sättigung, in welche mich der so lange gesuchte Genuß der schönen frommen *** brachte, und daß mich, nach aller Mühe, mit dieser Tugend das nämliche Schicksal erwarte. Du bist weit entfernt, eine richtige Idee von der seltenen Kreatur zu haben, von der ich dir schreibe. Eine zärtliche Andächtige hat freilich ebensoviel übertriebne Begriffe von der Tugend als meine Sternheim, und es ist angenehm, alle diese Gespenster aus einer liebenswürdigen Person zu verjagen; aber der Unterschied ist dieser: so wie die Devote bloß aus Zärtlichkeit für sich selbst den schrecklichen Schmerzen der Hölle durch Frömmigkeit zu entfliehen und hingegen den Genuß der ewigen Wonne zu erhalten sucht, folglich aus lauter Eigennutz tugendhaft ist, und Furcht der Hölle und Begierde nach dem Himmel allein aus dem feinen Gefühl ihrer Sinnen quillt, so kann auch ihre Ergebung an einen Liebhaber allein aus der Vorstellung[149] des Vergnügens der Liebe kommen; denn wenn die Sinnen nicht so viel bei frommen Leuten gälten, woher kämen wohl die sinnlichen Beschreibungen ihrer himmlischen Freuden und woher die entzückte Miene, mit welcher sie Leckerbissen verkäuen?

Aber meine Moralistin ist ganz anders gestimmt; sie setzt ihre Tugend und ihre Glückseligkeit in lauter Handlungen zum Besten des Nebenmenschen. Pracht, Gemächlichkeit, delikate Speisen, Ehrenbezeugungen, Lustbarkeiten – nichts kann bei ihr dem Vergnügen, Gutes zu tun, die Waagschale halten, und aus diesem Beweggrunde wird sie einst die Wünsche ihres Verehrers krönen, und das nämliche Nachdenken, das sie hat, alles Übel der Gegenstände ihrer Wohltätigkeit zu erleichtern und neues Glück für sie zu schaffen, dieses Nachdenken wird sie auch zur Vergrößerung meines Vergnügens verwenden, und ich halte für unmöglich, daß man ihr satt werden sollte. Doch in kurzer Zeit werde ich dir Nachricht davon geben können, denn die Komödie eilt zum Schlusse, weil die Leidenschaft des Fürsten so heftig wird, daß man die Anstalten zu ihrer Verwicklung eifriger betreibt und Feste über Feste veranstaltet.


Fräulein von Sternheim an Emilia

Würden Sie, liebste Emilia, jemals geglaubt haben, daß es eine Stunde meines Lebens geben könnte, in der mich reuete, Gutes getan zu haben? Und sie ist gekommen, diese Stunde, in welcher ich mit dem warmen Eifer meines Herzens für das verbesserte Wohlergehen meines Nächsten unzufrieden war und den Streit zwischen Mein und Dein empfunden habe. Sie wissen aus meinen vorigen Briefen, was es mich kostete, den Fürsten um eine Gnade für die Familie T* zu bitten. Sie kennen die Beweggründe meiner Abneigung und Überwindung derselben; aber die verdoppelte Beunruhigung, die mir damit durch den Fürsten und Mylord Derby zugekommen ist, gab mir die Stärke des Unmuts, der mich zur Unzufriedenheit mit meinem Herzen brachte. Der Fürst, welcher mich in Gesellschaften mit seinen Blicken und Unterredungen mehr als zuvor verfolgt,[150] scheute sich nicht, bei einem Piquet, das ich mit ihm spielte, Ausrufungen über meine Annehmlichkeiten zu machen, und dieses mit einem Ton, worin Leidenschaft war und der alle Leute aufmerksam machte. Mylord Derby war eben vom Pharao-Tisch zu uns gekommen, und da ich in der Verwirrung, in die ich aus Zorn und Verlegenheit über die Aufführung des Fürsten geriet, ungefähr meine Augen auf Derby richtete, sah ich wohl den Ausdruck einer heftigen Bewegung in seinem Gesicht, und daß er sich, nachdem seine Augen den Fürsten etwas wild angesehen, wegbegab und wie ein verwirrter Mensch spielte: Aber das konnte ich nicht sehen, daß ich von ihm noch den nämlichen Abend auf das äußerste beunruhigt werden sollte. Der Fürst verlor viel Geld an mich; ich hatte bemerkt, daß er mit Vorsatz schlecht spielte, wenn er allein gegen mich war; dieses verdroß mich; seine Absicht mag gewesen sein, was sie will, sein Geld freute mich nicht, und ich sagte: daß ich es den Kindern des Rats T* noch den Abend geben wollte. Derby mußte es gehört haben und faßte den Entschluß, mich zu belauschen und bei dem Rat T* zu sprechen. Listig fing er es an; denn als ich eine kleine Weile da war, kam er an das Haus, fragte nach der Frau T* und sagte dieser: er sei Sekretär bei Mylord G. und hätte mir etwas für ihre Familie zu bringen. Die Frau, von der Hoffnung eines großen Geschenks eingenommen, holte ihren Mann und Kinder samt der Rosine aus dem Zimmer, wo ich war, und ehe ich sie fragen konnte, was sie wollte, trat sie mit Mylord Derby herein, meldete mir ihn als Sekretär, redete von seinem an sie habenden Geschenke und begab sich weg. Erstaunen und Unmut betäubten mich lange genug, daß Mylord zu meinen Füßen knien und mir seine Entschuldigungen und Abbitten machen konnte, ehe ich fähig war, über sein Eindringen meine Klage zu führen. Ich tat es mit wenigen ernsthaften Worten; da fing er an, von einer langen verborgnen Leidenschaft und der Verzweiflung zu reden, in welche ihn Mylord G. stürzte, da er ihm verboten, nicht mehr in unser Haus zu gehen, und er doch sehen müßte, daß andre mir von ihrer Liebe redeten. Mylords G. Verbot machte mich stutzend und nachdenkend; Derby redete immer in der heftigsten Bewegung fort; ich dachte an den Jast, worin[151] ich ihn den ganzen Abend in der Gesellschaft gesehen hatte, und meine Verlegenheit vergrößerte sich dadurch. Ich foderte, daß er mich verlassen sollte, und wollte zugleich der Türe zugehen; er widersetzte sich mit sehr ehrerbietigen Gebärden, aber mit einer Stimme und Blicken so voll Leidenschaft, daß mir bange und übel wurde. Dies war der Augenblick, wo ich böse auf mein Herz war, daß es mich gerade diesen Abend noch mein Spielgeld den Kindern bringen hieß und mich dadurch dieser Verlegenheit ausgesetzt hatte.

Ich erholte mich endlich, da ich ihn den geheiligten Namen der Tugend aussprechen hörte, in welchem er mich beschwur, ihn nur noch einen Augenblick reden zu lassen. Wiederholen kann ich nichts, aber er redete gut; wenig von meinen äußerlichen Annehmlichkeiten, aber er behauptete, meinen Charakter zu kennen, den er als selten ansieht, und am Ende legte er auf eine rührende Weise eine feierliche Gelübde von Tugend und Liebe ab.

Unzufrieden mit ihm und mit mir selbst, bestürzt und bewegt, machte ich an ihn die Bitte, mir den Beweis von seinen Gesinnungen zu geben, daß er mich verließe. Er ging gleich mit ermunterter Abbitte seines Überraschens und legte an der Tür noch ein schweres Paket Geld für die arme Familie hin.

Ein ungewöhnlicher Kummer beklemmte mein Herz; das beste Glück, das ich mir in dieser Minute wünschte, war, einsam zu sein. Aber die Frau T* kam herein, ich übergab ihr das Geschenk samt dem gewonnenen Gelde. Ihre Freude erleichterte mich ein wenig, aber ich eilte mit dem festen Vorsatz fort, dieses Haus nicht mehr zu betreten, solange Mylord Derby in D* sein würde. Mein Oncle und meine Tante spielten noch, als ich nach Hause kam, und ich legte mich zu Bette. Traurige Nächte hatte ich schon durch meinen an Eltern und Freunden erlittenen Verlust gehabt; aber die mit Unruhe und Schmerzen der Seele erfüllte schlaflose Stunden habe ich niemals gekannt, welche auf die Betrachtung folgten, daß mein Schicksal und meine Umstände meinen Wünschen und meinem Charakter völlig entgegen sind. Meine äußerste Bemühung war immer, unsträflich in meiner Aufführung zu sein, und doch wurde ich[152] durch Mylord Derby der Nachrede einer Zusammenkunft ausgesetzt. Mylord G., dessen Achtung ich zu verdienen glaubte, verbietet seinen Verwandten den vorzüglichen Umgang mit mir. Ich hatte die Freundschaft eines tugendhaften Mannes gewünscht, und dieser flieht mich, während daß mich der Fürst und der Graf F* zu verfolgen anfangen. Und was soll ich von Mylord Derby sagen: Ich bekenne, die Liebe eines Engländers ist mir vorzüglich angenehm, aber – Und doch; warum wählte ich einen und verwarf den andern, ehe ich sie kannte; ich war gewiß voreilig und unbillig. Derby ist rasch und unbesonnen; aber voller Geist und Empfindsamkeit. Wie schnell, wie eifrig tut er Gutes? Sein Herz kann nicht verdorben sein, weil er so viele Aufmerksamkeit für gute Handlungen hat; ich möchte bald hinzusetzen, weil er mich und meine Denkungsart lieben kann. Aber alle halten ihn für einen bösen Menschen; er muß Anlaß zu einer so all gemeinen Meinung gegeben haben; und gleichwohl hat die Tugend Ansprüche auf sein Herz. Emilia! wenn ihn die Liebe ganz von Irrwegen zurückführte, wenn sie es um meinetwillen unternähme: Wäre ich ihr da nicht das Opfer des Vorzugs schuldig, den ich einem andern ohne sein Verlangen gab? Aber itzt wünschte ich, aller Wahl überhoben zu sein und daß meine Tante R. bald käme. Vergeblicher Wunsch! Sie ist in Florenz und wird da ihre Wochen halten. Sie sehen also, daß alle Umstände wider mich sind. Der ländliche Frieden, die Ruhe, die edle Einfalt, welche mein einsames S*** bewohnen, wären meinem armen Kopfe und Herzen so erquickend, als Hofleuten der Anblick einer freien Gegend ist, wenn sie lange in Kunstgärten herumgeirrt und ihr Auge durch Betrachtungen der gesuchten und gezwungenen Schönheiten ermüdet haben. Wie gerne stellten sie ihre durch zerstoßnen Marmor ermattete Füße auf ein mit Moos bewachsnes Stück Erde und sehen sich in dem unbegrenzten schönen Gemische von Feld, Waldungen, Bächen und Wiesen um, wo die Natur ihre besten Gaben in reizender Unordnung verbreitet! Bei vielen beobachtete ich in dieser Gelegenheit die Stärke der reinen ersten Empfindungen der Natur. Sogar ihr Gang und ihre Gebärden wurden freier und ungezwungener, als sie in den sogenannten Lustgärten waren; aber einige Augenblicke darauf sah[153] ich auch die Macht der Gewohnheit, die, durch einen einzigen Gedanken rege gemacht, die sanfte Zufriedenheit störte, welche die Herzen eingenommen hatte. Urteilen Sie, meine Emilia, wie ermüdet mein moralisches Auge über den täglichen Anblick des Erkünstelten im Verstande, in den Empfindungen, Vergnügungen und Tugenden ist! Dazu kommt nun der Antrag einer Verbindung mit dem jungen Grafen F*, die ich, wenn mir auch der Mann gefiele, nicht annehmen würde, weil sie mich an den Hof fesseln würde. So sehr auch diese Fesseln übergüldet und mit Blumen bestreut wären, so würden sie doch mein Herz nur desto mehr belästigen. Ich leide durch den Gedanken, jemand eine Hoffnung von Glück zu rauben, deren Erfüllung in meiner Gewalt steht; aber warum machen die Leute keine Vergleichung zwischen ihrer Denkart und der meinigen? Sie würden darin ganz deutlich die Unmöglichkeit sehen, mich jemals auf den Weg ihrer Gesinnungen zu lenken. Mein Oncle und meine Tante machen mich erstaunen. Sie, die meine Eltern und meine Erziehung kannten, sie, die von der Festigkeit meiner Ideen und Empfindungen überzeugt sind, sie dachten mich durch glänzende Spielwerke von Rang, Pracht und Ergötzlichkeiten zur Übergabe meiner Hand und meines Herzens zu bewegen? Ich kann nicht böse über sie werden; sie suchen mich nach ihren Begriffen von Glück durch eine vornehme Verbindung glück lich zu machen und geben sich alle ersinnliche Mühe, mir den Hof von seiner verführerischen Seite vorzustellen. Sie haben gesucht, meine Liebe zur Wohltätigkeit als eine Triebfeder anzuwenden. Weil der Graf F* versicherte, daß mich der Fürst sehr hochschätze, daß er mit Vergnügen alle Gnaden bewilligen würde, die ich mir immer ausbitten könnte; so haben sie, denke ich, Leute angestellt, mich um Fürsprache bei dem Herrn anzuflehen. Ihre Vermutung, daß dieses die stärkste Versuchung für mich sei, ist ganz richtig; dann die Gewalt Gutes zu tun, ist das einzige wünschenswerte Glück, das ich kenne.

Zu meinem Vergnügen war die erste Bitte ein Wunsch von Eitelkeit, welcher etwas begehrte, dessen man wohl entbehren konnte; so daß ich ohne Unruhe mein Vorwort versagen konnte. Ich zeigte dabei meinen Entschluß an, den Fürsten niemals[154] mehr zu beunruhigen, indem mich nur die äußerste Not und Hülflosigkeit der Familie T* dazu veranlaßt habe. Ware es eine notleidende Person gewesen, die mich um Fürbitte angesprochen hätte, so wäre mein Herz wieder in Verlegenheit geraten, zwischen meiner Pflicht und Neigung, ihr zu dienen, und zwischen meinem Widerwillen, dem Fürsten für eine Gefälligkeit zu danken, einen Entschluß zu machen. Für meines Oncles Prozeß muß ich noch reden, und es soll auf einem Maskenball geschehen, dazu man schon viele Anstalten macht. Eine allgemeine Anstrengung der Erfindungskraft ist aus diesem Vorhaben erfolgt; ein jedes will sinnreich und gefällig gekleidet sein, Hof- und Stadtleute werden dazu geladen, es soll eine Nachahmung der englischen Maskenbälle zu Vauxhall werden. Ich bekenne, daß der ganze Entwurf etwas Angenehmes für mich hat; einmal, weil ich das Bild der römischen Saturnalien, die ich Gleichheitsfeste nennen möchte, sehen werde, und dann, weil ich mir ein großes Vergnügen aus der Betrachtung verspreche, den Grad der Stärke und Schönheit der Einbildungskraft so vieler Personen in ihren verschiedenen Erfindungen und Auswahlen der Kleidungen zu bemerken. Der Graf F*, sein Nepote, mein Oncle, meine Tante und ich werden eine Truppe spanischer Musikanten vorstellen, die des Nachts auf die Straße ziehn, um vor den Häusern etwas zu ersingen. Der Gedanke ist artig, unsre Kleidung in Cramoisi mit schwarzem Taft, sehr schön; aber meine Stimme vor so vielen Leuten erschallen zu lassen, dies vergället meine Freude; es scheint so zuversichtlich auf ihre Schönheit und so begierig nach Lob. Doch man will damit dem Fürsten, der mich gerne singen hört, gefällig sein, weil man glaubt, der Prozeß meines Oncles gewinne dabei, und ich will ihm lieber vor der ganzen Welt singen als noch einmal in unsern Garten, wie gestern; wo ich darauf mit ihm spazierengehen und ihn von Liebe reden hören mußte. Er hatte sie zwar in Ausdrücke der Bewunderung meines Geistes und meiner Geschicklichkeit eingewickelt; aber meine Augen, meine Gestalt und meine Hände hatten viel Verwirrung an seinem Hof angerichtet, ihm wäre es unmöglich, Rat darin zu schaffen, weil die Macht meiner Reize den Herrn ebensowenig verschonet hätte als seine Diener.[155]

»Meine Entfernung wird also das beste Mittel wider diese Unordnung sein«, sagte ich.

»Das sollen Sie nicht tun, Sie sollen meinen Hof der Zierde nicht berauben, die er durch Sie erhalten; einen Glücklichen sollen Sie wählen, und sich niemals von D* entfernen.«

Ich wußte ihm Dank, daß er dieses hinzusetzte; er muß es getan haben, weil er bemerkte, daß ich in Verwirrung geraten war und auf einmal traurig und ernsthaft aussah. Denn wie er von der Wahl eines Glücklichen redete, wandte er sich zu mir und blickte mich so sehnsuchtsvoll an, daß ich mich vor seinen weiteren Erklärungen fürchtete. Er fragte mich zärtlich nach der Ursache meiner Ernsthaftigkeit; ich faßte mich und sagte ihm ziemlich munter: Der Gedanke von einer Auswahl wäre schuld daran; weil ich in D* nach meiner Phantasie keine zu machen wüßte.

»Gar keine? Nehmen Sie den, der Sie am meisten liebt; und Ihnen seine Liebe am besten beweisen kann.« – Mit diesem Gespräche kamen wir zur Gesellschaft an. Alle suchten etwas in den Gesichtszügen des Fürsten zu lesen; er war sehr höflich gegen sie; ging aber bald darauf weg und sagte mir noch mit Lächeln: ich möchte seinen Rat nicht vergessen. Ich redete mit meiner Tante ernsthaft von den Gesinnungen, die ich bemerkt hätte, und daß ich in keinem Menschen Liebe sehen und ernähren würde, die ich nicht billigen könnte; daß ich also auf dem Ball nicht singen wollte und sie bäte, mich nach Sternheim zurück zu lassen.

Da war Jammer über meine zu weit getriebne grillenhafte Ideen, die nicht einmal eine zärtliche Höflichkeit ertragen könnten; ich möchte doch um des Himmels und ihrer Kinder willen die Ball-Partie nicht verschlagen; wenn ich nach diesem unzufrieden wäre, so versprach sie mir, mich nach Sternheim zu begleiten und den Überrest des Jahres dort zu bleiben. Bei diesem Versprechen hielt ich sie und erneuerte ihr das meinige.

Dies ist also die letzte Tyrannie, welche die Gefälligkeit für andre an mir ausüben wird, und dann werde ich mein Sternheim wiedersehen. O Emilia! mit was für Entzücken der Freude werde ich dieses Haus betreten, wo jeder Platz an die aus geübten Tugenden meiner Eltern mich erinnern und aufmuntern[156] wird, ihrem Beispiel zu folgen; Tugenden und Fehler der großen Welt sind nichts für meinen Charakter; die ersten sind mir zu glänzend und die andern zu schwarz. Ein ruhiger Zirkel von Beschäftigung für meinen Geist und für mein Herz ist das mir zugemessene Glück, und dieses Ende ich auf meinem Gute. Ehemals wurde es durch den freundschaftlichen Umgang meiner Emilia vergrößert; aber die Vorsicht wollte ihre Tugenden in einer andern Gestalt leuchten lassen, ließ mir aber ihren Briefwechsel.

Sehr lieb ist mir, daß ich die große Welt und ihre Herrlichkeiten kennengelernt habe. Ich werde sie nun in allen Teilen richtiger zu beurteilen wissen. Ich habe ihr die Verfeinerung meines Geschmacks und Witzes durch die Kenntnis des Vollkommnen in den Künsten zu danken. Ihr Luxus, ihre lärmende, ermüdende Ergötzungen haben mir die edle Einfalt und die ruhigen Freuden meines Stammhauses angenehmer gemacht; der Mangel an Freuden, den sie mich erdulden ließ, hat mich den Wert meiner Emilie höher schätzen gelehrt; und ob ich schon gefühlt habe, daß die Liebe Ansprüche auf mein Herz hat, so freut mich doch, daß es allein durch den Sohn der himmlischen Venus verwundet werden kann und daß die Tugend ihre Rechte ungestört darin erhalten hat. Denn gewiß wird meine Zärtlichkeit niemals einen Gegenstand wählen, der sie verdrängen wird.

Schönheit und Witz haben keine Gewalt über mein Herz, ungeachtet ich den Wert von beiden kenne; eine feurige Leidenschaft und zärtliche Reden auch nicht; am wenigsten aber die Lobeserhebungen meiner persönlichen Annehmlichkeiten; denn da sehe ich in meinem Liebhaber nichts als die Liebe seines Vergnügens. Die Achtung für die guten Neigungen meines Herzens und für die Bemühungen meines Geistes, um Talente zu sammeln, dieses allein rührt mich, weil ich es für ein Zeichen einer gleichgestimmten Seele und der wahren dauerhaften Liebe halte; aber es wurde mir von niemand gesagt, von dem ich es zu hören wünschte. Derby hatte diesen Ton: Aber nicht eine Saite meines Herzens hat darauf geantwortet. Auch dieses Mannes Liebe, oder was es ist, vermehrt meine Sehnsucht und Eile nach Ruhe und Einsamkeit. In acht Tagen ist der Ball:[157] vielleicht, meine Emilia, schreibe ich Ihnen meinen nächsten Brief in dem Kabinette der Sternheim zu den Füßen des Bildnisses meiner Mama, dessen Anblick meine Feder zu einem andern Inhalt meiner Briefe begeistern wird.


Mylord Derby an seinen Freund

Die Komödie des Fürsten mit meiner Sternheim, wovon ich dir letzthin geschrieben, ist durch die romantischen Grillen des Vetters Seymour zu einem so tragischen Ansehen gestiegen, daß nichts als der Tod oder die Flucht der Heldin zu einer Entwicklung dienen kann; das erste, hoffe ich, solle die Göttin der Jugend verhüten, und für das zweite mag Venus durch meine Vermittlung sorgen.

Man hat, weil des Fräulein gerne tanzt, die Hoffnung gefaßt, sie durch Ballustbarkeiten eher biegsam und nachgebend zu machen; und da sie noch niemals einen Maskenball gesehen, so wurden auf den Geburtstag des Fürsten die Anstalten dazu gemacht. Man bewog das Mädchen zu dem Entschluß, bei dieser Gelegenheit zu singen, und sie geriet auf den artigen Einfall, in Gesellschaft etlicher Personen einen Trupp spanischer Musikanten vorzustellen. Der Fürst erhielt die Nachricht davon und ersuchte den Grafen Löbau, ihm das Vergnügen zu lassen, die Kleidung des Fräuleins zu besorgen, um ihr dadurch unversehens ein Geschenk zu machen. Oncle und Tante nahmen es an, weil ihre Masken zugleich angeschafft wurden; aber zween Tage vor dem Ball war dem Hof und der Stadt bekannt, daß der Fürst dem Fräulein die Kleidung und den Schmuck gäbe und auch selbst ihre Farben tragen werde. Seymour geriet in den höchsten Grad von Wut und Verachtung; ich selbst wurde zweifelhaft und nahm mir vor, die Sternheim scharfer als jemals zu beobachten.

Nichts kann reizender sein, als ihr Eintritt in den Saal gewesen ist. Die Gräfin Löbau, als eine alte Frau bekleidet, ging mit einer Laterne und etlichen Rollen Musikalien voraus. Der alte Graf H* mit einer Baßgeige; Löbau mit der Flütetraverse und das Fräulein mit einer Laute kamen nach. Sie stellten sich[158] vor die Loge des Fürsten, Engen an zu stimmen, die Tanzmusik mußte schweigen, und das Fräulein sang eine Arie; sie war in Cramoisi und schwarzen Taft gekleidet, ihre schönen Haare in fliegenden nachlässigen Locken verbreitet; ihre Brust ziemlich, doch weniger als sonst verhüllt; überhaupt schien sie mit vielem Fleiß auf eine Art gekleidet zu sein, die alle reizenden Schönheiten ihrer Figur wechselsweise entwickelte; denn der weite Ärmel war gewiß allein da, um, während sie die Laute schlug, zurückzufallen und ihren vollkommen gebildeten Armin sein ganzes Licht zu setzen. Die halbe Maske zeigte uns den schönsten Mund, und ihre Eigenliebe bemühete sich, die Schönheit ihrer Stimme zu aller Zauberkraft der Kunst zu erhöhen.

Seymour in einem schwarzen Domino an ein Fenster gelehnt, sah sie mit konvulsivischen Bewegungen an. Der Fürst in einem venezianischen Mantel in seiner Loge, Begierde und Hoffnung in seinen Augen gezeichnet, klatschte fröhlich die Hände zusammen und kam, einen Menuet mit ihr zu tanzen, nachdem er vieles Lob von ihren Fingern gemacht hatte. Mein Kopf fing an warm zu werden, und ich empfahl meinem Freunde John, dem Sekretär von Mylord G., seine Aufmerksamkeit zu verdoppeln, weil mein aufkochendes Blut nicht mehr Ruhe genug dazu hatte. Doch machte ich noch in Zeiten die Anmerkung, daß unser Gesicht, und das was man Physionomie nennt, ganz eigentlich der Ausdruck unsrer Seele ist. Denn ohne Maske war meine Sternheim allezeit das Bild der sittlichen Schönheit, indem ihre Miene und der Blick ihrer Augen eine Hoheit und Reinigkeit der Seele über ihre ganze Person auszugießen schien, wodurch alle Begierden, die sie einflößte, in den Schranken der Ehrerbietung gehalten wurden. Aber nun waren ihre Augenbraunen, Schläfe und halbe Backen gedeckt und ihre Seele gleichsam unsichtbar gemacht; sie verlor dadurch die sittliche charakteristische Züge ihrer Annehmlichkeiten und sank zu der allgemeinen Idee eines Mädchens herab. Der Gedanke, daß sie ihren ganzen Anzug vom Fürsten erhalten, ihm zu Ehren gesungen hatte und schon lange von ihm geliebt wurde, stellte sie uns allen als wirkliche Mätresse vor; besonders da eine Viertelstunde darauf der Fürst in einer Maske von nämlichen Farben als die ihrige kam und sie, da eben[159] deutsch getanzt wurde, an der Seite ihrer Tante, mit der sie stehend redte, wegnahm und, einen Arm um ihren Leib geschlungen, die Länge des Saals mit ihr durchtanzte. Dieser Anblick ärgerte mich zum Rasendwerden, doch bemerkte ich, daß sie sich vielfältig sträubte, und loswinden wollte; aber bei jeder Bemühung drückte er sie fester an seine Brust und führte sie endlich zurück, worauf der Graf F* ihn an ein Fenster zog und eifrig redte. Einige Zeit hernach stund eine weiße Maske en Chauve-Souris neben dem Fräulein, die ich auf einmal eine heftige Bewegung mit ihrem rechten Arm gegen ihre Brust machen und einen Augenblick darauf ihre linke Hand nach der weißen Maske ausstrecken sah. Diese entschlüpfte durch das Gedränge, und das Fräulein ging mit äußerster Schnelligkeit den Saal durch. Ich folgte der weißen Maske auf die Ecke eines Gangs, wo sie die Kleider fallen ließ und mir den Lord Seymour in seinem schwarzen Domino zeigte, der in der stärksten Bewegung die Treppe hinunterlief und mich über seine Unterredung mit dem Fräulein in der größten Verlegenheit ließ. John, der sie nicht aus dem Gesichte verlor, war ihr nachgegangen und sah, daß sie in das Zimmer, wo ihr Oncle und die Gräfin F* waren, ging, gleich beim Eintritt allen Schmuck ihres Aufsatzes vom Kopfe riß, mit verachtungs- und schmerzensvollen Ausdrücken zu Boden warf, ihren Oncle, der sich ihr näherte, mit Abscheu ansah und mit der kummervollesten Stimme ihn fragte: »Womit habe ich es verdient, daß Sie meine Ehre und meinen guten Namen zum Opfer der verhaßten Leidenschaften des Fürsten machten?«

Mit zitternden Händen band sie ihre Maske los, riß die Spitzen ihres Halskragens und ihre Manschetten in Stücken und streute sie vor sich her. John hatte sich gleich nach ihr an die Türe gedrungen und war Zeuge von allen diesen Bewegungen. Der Fürst eilte mit dem Grafen F* und ihrer Tante herbei, die übrigen entfernten sich, und John wickelte sich in den Vorhang der Türe, welche sogleich verschlossen wurde. Der Fürst warf sich zu ihren Füßen und bat sie in den zärtlichsten Ausdrücken, ihm die Ursache ihres Kummers zu sagen; sie vergoß einen Strom von Tränen und wollte von ihrem Platz gehen; er hielt sie auf und wiederholte seine Bitten.[160]

»Was soll diese Erniedrigung von Ihnen? Sie ist kein Ersatz für die Erniedrigung meines guten Namens. – O meine Tante, wie elend, wie niederträchtig sind Sie mit dem Kind Ihrer Schwester umgegangen! – O mein Vater, was für Händen haben Sie mich anvertraut!«

Der feierliche schmerzvolle Ton, mit welchem sie dieses sagte, hätte das Innerste seiner Seele bewegt. Ihre Tante fing an: Sie begreife kein Wort von ihren Klagen und von ihrem Unmut; aber sie wünschte, sich niemals mit ihr beladen zu haben.

»Erweisen Sie mir die letzte Güte und führen Sie mich nach Hause. Sie sollen nicht lange mehr mit mir geplagt sein.«

Dieses sprach meine Sternheim mit einer stotternden Stimme. Ein außerordentliches Zittern hatte sie befallen; sie hielt sich mit Mühe an einem Stuhl aufrecht, der Fürst war mit der Zärtlichkeit eines Liebhabers bemüht, sie zu beruhigen. Er versicherte sie, daß seine Liebe alles in der Welt für sie tun würde, was in seiner Gewalt stünde.

»O es ist nicht in Ihrer Gewalt«, rief sie, »mir die Ruhe meines Lebens wiederzugeben, deren Sie mich beraubt haben. – Meine Tante, haben Sie Erbarmen mit mir, bringen Sie mich nach Hause!«

Ihr Zittern nahm zu; der Fürst geriet in Sorgen und ging selbst in das Nebenzimmer, um eine Kutsche anspannen und seinen Medicum rufen zu lassen.

Die Gräfin Löbau hatte die Grausamkeit, dem Fräulein Vorwürfe über ihr Betragen zu machen. Das Fräulein antwortete mit nichts als einen Strom von Tränen, die aus ihren gen Himmel gerichteten Augen flossen und ihre gerungenen Hände benetzten.

Der Fürst kam mit dem Medico, der das Fräulein mit Staunen ansah, ihr den Puls fühlte und den Ausspruch tat, daß das heftigste Fieber mit starken Zückungen vorhanden wäre; der Fürst empfohl sie seiner Aufsicht und Sorgfalt auf das inständigste. Als die angespannte Kutsche gemeldet wurde, sah sich das Fräulein sorgsam und erschrocken um, fiel vor dem Fürsten nieder, und indem sie ihre Hände gegen ihn erhob, rief sie:

»O wenn es wahr ist, daß Sie mich lieben, lassen Sie mich nirgend anderswohin führen als in mein Haus.«[161]

Der Fürst hob sie auf und sagte ihr bewegt: Er schwöre ihr die ehrerbietigsten Gesinnungen und hätte keinen Gedanken, sie zu betrügen; er bäte sie nur, daß sie sich fassen möchte, der Doktor sollte sie begleiten.

Sie gab dem Alten ihre Hand, nachdem sie ihr Halstuch um ihren Hals gelegt hatte, und ging mit wankenden Füßen aus dem Zimmer. Ihre Tante blieb und fing an, über das Mädchen zu reden. Der Fürst hieß sie schweigen und sagte ihr mit Zorn: sie hätten ihm alle eine falsche Idee von dem Charakter des Fräuleins gegeben und ihn lauter verkehrte Wege geführt. Damit ging er fort, die Gräfin auch, und John wurde seines Gefängnisses erlediget.

Im Saal hatte man fortgetanzt, aber daneben viel von der Begebenheit gezischelt. Fast bei allen wurde die Aufführung des Fräuleins als ein übertriebenes Geziere getadelt. »Man kann tugendhaft sein, ohne ein großes Geräusch zu machen. Sollte man nicht denken, der Fürst hätte noch keine Dame als sie geliebt? Aber es gibt eine sanftere und edlere Art von Verteidigung seiner Ehre, zu der man just nicht die ganze Welt zu Zeugen nimmt«; und dergleichen.12

Andre hielten es für eine schöne Komödie, und waren begierig, wie weit sie die Rolle treiben würde.

Ich war überzeugt, daß Seymour die Ursache dieses aufwallenden Jastes von Tugend gewesen sein müsse, aber was er ihr gesagt, und was für einen Eindruck er dadurch auf sie gemacht hätte, das wünschte ich zu wissen, um meine Maßregeln darnach zu nehmen. Ich verbarg diese Unruhe und spottete eins mit; indem ich die Zurückkunft des Johns erwartete, der nach Hause geeilt war, um den Seymour auszuspähen.

Aber stelle dir, wenn du kannst, das Erstaunen vor, als mein John sagte, Seymour wäre gleich nach seiner Zurückkunft in einer Post-Chaise mit Sechsen und einem einzigen Kerl davongefahren. Was T- konnte das anders bedeuten als eine verabredete Entführung! Ich riß John am Arm zum Saal hinaus, warf auf der Straße meine Maske ab und zog den Überrock[162] meines Kerls an, in welchem ich an das Löbauische Haus eilte, um Nachricht von der neuen Aktrice zu hören. Eifersucht, Wut und Liebe jagten sich in meinem Kopfe herum; und gewiß derjenige, der mir gesagt hätte, sie wäre fort, hätte es mit seinem Leben bezahlen müssen; aber ehe eine Viertelstunde um war, lief jemand aus dem Hause nach der Apothek. Die Tür blieb offen; ich schlich in den Hof und sah Licht in den Zimmern der Sternheim. Es wurde mir leichter, aber meine Zweifel blieben; diese Lichter konnten Blendwerk sein. Ich wagte mich in das Zimmer ihrer Kammerjungfer; die Tür des Kabinetts war offen, und ich hörte mein Mädchen reden. Also war Seymour allein fort. Ich sann auf eine taugliche Entschuldigung meines Daseins und gab dem Kammermädchen ganz herzhaft ein Zeichen, zu mir zu kommen. Sie kannte mich nicht, rannte auf die Tür zu, die sie den Augenblick hinter sich zuschloß und fragte hastig: wer ich sei, was ich haben wollte?

Ich gab mich zu erkennen, bat sie in kummervollen ehrerbietigen Ausdrücken um Nachricht von des göttlichen Fräuleins Befinden und beschwur sie auf den Knien, alle Tage einem meiner Leute etwas davon zu sagen. Ich sagte ihr, ich wäre Zeuge gewesen, wie edel und anbetungswürdig sich der Charakter des Fräuleins gezeigt hätte, ich verehrte und liebte sie über allen Ausdruck; ich sei bereit, mein Leben und alles zu ihrem Dienste aufzuopfern, aber mir sei für ihre Gesundheit bange, indem ich den Medicum von einem Fieber hätte reden hören.

Die Katze war froh, die Geschichte des Abends von mir zu hören, indem, wie sie sagte, das Fräulein fast nichts als weinte und zitterte. Ich putzte die Geschichte so sehr als mir möglich war zur Verherrlichung des Fräuleins aus und nannte die weiße Maske; da fiel mir das Mädchen ein: O diese Maske ist's, die mein Fräulein krank gemacht hat! Denn sie sagte ihr ganz frei: Ob sie denn alle Gesetze der Ehre und Tugend so sehr unter die Füße getreten habe, daß sie sich in einer Kleidung und einem Schmuck sehen lasse, welche der Preis von ihrer Tugend sein werde; daß es ihr alle Masken sagen würden; daß alle sie verachteten, weil man von ihrem Geist und ihrer Erziehung etwas Bessers erwartet hätte.[163]

»Und wer war diese Maske?« Dies wisse das Fräulein nicht; aber sie nenne sie eine edle wohltätige Seele, ungeachtet sie ihr das Herz zerrissen habe.

Ich dachte: Der Himmel segne den wohltätigen Seymour für seine Narrheit! Sie soll meinem Verstande schöne Dienste tun. Ich versprach dem Mädchen, mich um die Entdeckung zu bemühen, und erzählte ihr noch die Urteile der Gesellschaft, mit dem Zusatz, daß ich der Verteidiger des Fräuleins werden wollte, und sollte es auch auf Unkosten meines Halses sein; sie sollte mir nur sagen, was ich für sie tun könnte. Das Mädchen war gerührt. Mädchen sehen die Gewalt der Liebe gerne; sie nehmen Anteil an der Macht, die ihr Geschlecht über uns ausübt, und helfen mit Vergnügen an den Kränzen flechten, womit unsre Beständigkeit belohnt wird. Sie sagte mir den folgenden Abend eine zweite Unterredung zu, und ich ging recht munter und voller Anschläge zu Bette.

Meine Hauptsorge war, dem pinselhaften Seymour den Widerstand des Fräuleins und die heroisch ausgezeichnete Wirkung seiner unartigen Vorwürfe zu verbergen. Aber da ich nicht erfahren konnte, wo er sich aufhielt, mußte ich meine Guineen zu Hülfe nehmen und einen Post-Offizier gewinnen, der mir alle Briefe zu liefern versprochen hat, die an das Fräulein, an Löbau und an alle Bekannten des Seymour einlaufen werden. Daß sie in ihrem eignen Hause keine bekommen kann, bin ich sicher. Sie wollte zwar unverzüglich auf ihre Güter; aber ihr Oncle erklärte, daß er sie nicht reisen lasse. Ihr Fieber dauert; sie wünscht zu sterben; sie läßt niemand als den Doktor und ihre Katze vor sich. Die letzte habe ich ganz gewonnen; ich sehe sie alle Nacht, wo ich viel von den Tugenden ihres Fräuleins muß erzählen hören: »Sie ist sehr zärtlich, aber sie wird niemand als einen Gemahl lieben.«

Merkst du den Wink?

»Hat sie niemals geliebt?« fragte ich unschuldig.

»Nein, ich hörte sie nicht einmal davon reden oder einen Kavalier loben, als im Anfang unsers Hierseins den Lord Seymour; aber schon lange nennt sie ihn nicht mehr. Von Euer Gnaden Wohltätigkeit hält sie viel.«

Ich tat sehr bescheiden und vertraut gegen das Tierchen; und[164] da sie mir im Namen ihres Fräuleins, alle Verteidigung ihrer Ehre, die ich ihr angeboten, untersagte, so setzte ich kläglich hinzu: »Wird sie meine Anwerbung auch verwerfen? Ungeachtet ich sie auch wider den Willen des Lord G. machen müßte, so würde ich doch alles wagen, um sie aus den Händen ihrer unwürdigen Familie zu ziehen und sie in England einer bessern vorzustellen.« Ich mußte diese Saite anstimmen, weil sie mir selbst den Ton dazu angegeben, und weil ich ihren Ekel für D* und ihren Hang für Engelland benutzen wollte, ehe der Jast von Seymour verlöschen würde und er bei seiner Zurückkunft im Enthusiasmus der Belohnung ihrer Tugend so weit ginge, als ihn seine Verachtung geführt hatte. Sie hatte ihn sonst vorzüglich gelobt, itzt sprach sie nicht mehr von ihm, sie nennte auch den Lord G. nicht. Lauter Kennzeichen einer glimmenden Liebe. Ich fand Wege, ihr kleine satyrische Briefchen zuzuschicken, worin ihrer Krankheit und der Szene, die sie auf dem Ball gespielt hatte, gespottet wurde. Die Geringschätzung, welche Lord G. für sie bezeugte, wurde auch angemerkt. Neben diesem wiederholte ich beinahe alle Tage das Anerbieten meiner Hand, da ich zugleich ihrer freien Wahl überließ: ob ich es bekanntmachen sollte oder ob sie sich meiner Ehre und Liebe anvertrauen wollte. Diese Mine überlasse ich nun dem Schicksal. Lange kann ich nicht mehr herumkriechen. Zwo Wochen daurt es schon, und ohne die Anstalten, die der Hof auf die Ankunft zweier Prinzen von ** macht, hätte ich vielleicht meine Arbeit unterbrechen müssen. John ist ein vortrefflicher Kerl; er will im Fall der Not die Trauungs-Formeln auswendiglernen und die Person des englischen Gesandtschaftspredigers spielen. Meine letzten Vorschläge müssen etwas fruchten, denn mit allen ihren strahlenden Vollkommenheiten ist sie doch – nur ein Mädchen. Ihr Stolz ist beleidigt, und es ist schwer der Gelegenheit zur Rache zu entsagen. Keine Seele nimmt sich ihrer an als ich; auch findet sie mich großmütig und weiß mir vielen Dank für meine Gesinnungen. Niemals hätte sie dies vermutet; aber sie will mich nicht unglücklich machen, es soll niemand in ihr Elend verwickelt werden. Meine Zurückhaltung, daß ich auf keinen Besuch in ihrem Zimmer dringe, erfreut sie auch, vielleicht deswegen,[165] weil sie sich nicht gerne mit ihrer Fieberfarbe sehen lassen will.

In wenig Tagen muß meine Mine springen, und es dünkt mich, sie soll geraten. Gibst du mir keinen Segen dazu?


Mylord Derby an seinen Freund

Sie ist mein, unwiderruflich mein; nicht eine meiner Triebfedern hat ihren Zweck verfehlt. Aber ich hatte eine teuflische Gefälligkeit nötig, um bei ihr gewisse Gesinnungen zu unterhalten und daneben zu hindern, daß andre keinen Gebrauch von ihrer Empfindlichkeit machten. Aber ihr guter Engel muß sie entweder verlassen haben, oder er ist ein phlegmatisches träges Geschöpfe; denn er tat auf allen Seiten nichts, gar nichts für sie. – Sagte ich dir nicht, daß ich sie durch ihre Tugend fangen würde? Ich habe ihre Großmut erregt, da ich mich für sie aufopfern wollte; dafür war sie, um nicht meine Schuldnerin zu bleiben, so großmütig und opferte sich auf. Solltest du es glauben? Sie willigte in ein geheimes Bündnis; einige Bedingungen ausgenommen, die nur einer Schwärmerin, wie sie ist, einfallen konnten. Meine satyrischen Briefe hatten ihr gesagt, daß ihr Oncle sie dem Interesse seines Prozesses habe aufopfern wollen; daß man sich um so weniger darüber bedacht hätte, weil man gesagt, die Mißheirat ihrer Mutter verdiene ohnehin nicht, daß man für sie die nämliche Achtung trüge als für eine Dame.

Nun war alles aufgebracht; Tugend, Eigenliebe, Eitelkeit; und ich bekam das ganze Paket satyrischer Briefe zu lesen. Sie schrieb einen Auszug aus den meinigen und fragte mich: Ob ich durch meine Beobachtungen über ihren Charakter genugsame Kenntnis ihres Herzens und Denkungsart hätte, um von der Falschheit dieser Beschuldigungen überzeugt zu sein? Sie wisse, daß man in England einem Manne von Ehre keinen Vorwurf mache, wenn er nach seinem Herzen und nach Verdiensten heirate. Sie könne an meiner Edelmütigkeit nicht zweifeln, weil sie solche mich schon oft gegen andre ausüben sehen; sie hätte mich deswegen hochgeschätzt; und nun, da das Schicksal sie zu einem Gegenstande meiner Großmut gemacht habe, so[166] trüge sie kein Bedenken, die Hülfe eines edeln Herzens anzunehmen; ich könnte auf ewig ihres zärtlichen Danks und ihrer Hochachtung versichert sein; sie ginge alle Bedenklichkeiten wegen der Bekanntmachung unsers Bündnisses ein; es wäre ihr selbst angenehm, wenn alles stille bleiben könnte, und wenn sie mich nichts als die Sorgen der Liebe kostete. Nur bäte sie mich um die Gewährung von vier Bedingnissen, davon die erste beschwerlich, aber unumgänglich nötig für ihre Ruhe sei, nämlich zu sorgen, daß ich mit ihr vermählt würde, ehe sie das Haus ihres Oncles verließe, indem sie nicht anders als an der Hand eines würdigen Gemahls daraus gehen wolle. Die zweite: daß ich ihr erlauben möchte, von den Einkünften ihrer Güter auf drei Jahre eine Vergabung zu machen. (Die gute Haustaube!) Drittens möchte ich sie gleich zu ihrem Oncle, dem Grafen R*, nach Florenz führen, denn diesem wolle sie ihre Vermählung sagen; ihre Verwandten in D* verdienten ihr Vertrauen nicht. Von Florenz aus wäre sie mein und würde in ihrem übrigen Leben keinen andern Willen als den meinigen haben; übrigens und viertens möchte ich ihre Kammerjungfer bei ihr lassen.

Ich machte bei dem ersten Artikel die Einwendung der Unmöglichkeit, weil Lord G. oder der Fürst alles erfahren würde: wir wollten uns an einem andern sichern Orte trauen lassen. Aber da war die entscheidende Antwort: so bliebe sie da, und wollte ihr Verhängnis abwarten. – Nun rückte John an, und ich schrieb ihr in zween Tagen, daß ich unsern Gesandtschafts-Prediger gewonnen hätte, der uns trauen würde; sie möchte nur ihre Jungfer schicken, um abends selbst ihn zu sprechen. Dies geschah; das Mädchen brachte ihm einen in englischer Sprache geschriebnen Brief, worin meine Heldin die Ursachen einer geheimen Heirat auskramte und ihren Entschluß entschuldigte, sich seinem Gebet und seiner Fürsorge empfahl und einen schönen Ring beilegte.

John, der Teufel, hatte die Kleider des Doktors an und seine Perucke auf; und redete gebrochen, aber sehr pathetisch Deutsch. Das Kätzchen kroch sehr andächtig um ihn herum; ich gab ihr eine Verschreibung mit, die John unterzeichnete, und sagte ihr, daß das bevorstehende Fest den besten Anlaß[167] geben würde, unser Vorhaben auszuführen, weil man sie wegen ihrer andauernden Kränklichkeit nicht einladen und nicht beobachten würde.

Alles geschah nach Wunsche; sie war froh über mein Papier und meine Gefälligkeit gegen ihre Vorschriften. Warum haben doch gute Leute soviel Schafmäßiges an sich, und warum werden die Weibsbilder nicht klug, ungeachtet der unzähligen Beispiele unserer Schelmereien, welche sie vor sich haben? Aber die Eitelkeit beherrscht sie unumschränkt, daß eine jede glaubt, sie hätte das Recht, eine Ausnahme zu fodern, und sie sei so liebenswürdig, daß man unmöglich nur seinen Spaß mit ihr treiben könne. Da mögen sie nun die angewiesne natürliche Bestrafung ihrer Torheiten annehmen, indessen wir die Belohnung unsers Witzes genießen. Gewiß, da meine Sternheim keine Ausnahme macht, so gibt es keine in der Welt. Indessen ist ihr Verderben deswegen nicht beschlossen. Wenn sie mich liebt, wenn mir ihr Besitz alle die abwechselnden lebhaften Vergnügungen gibt, die ich mir verspreche: so soll sie Lady Derby sein und mich zum Stammvater eines neuen närrisch genug gemischten Geschlechts machen. Für mein erstes Kind ist es ein Glücke, daß seine Mutter eine so sanfte fromme Seele ist; denn wenn sie von dem nämlichen Geist angefeurt würde wie ich, so müßte der kleine Balg zum Besten der menschlichen Gesellschaft in den ersten Stunden erstickt werden; aber so gibt es eine schöne Mischung von Witz und Empfindungen, welche alle Junge von unsrer Art auszeichnen wird. Wie zum Henker komme ich zu diesem Stücke von Hausphysik! Freund, es sieht schlimm aus, wenn es fortdauert; doch ich will die Probe bis auf den letzten Grad durchgehen.

Mein Mädchen ließ sich noch Medizin machen und packte daneben einen Koffer mit Weißzeug und etwas leichten Kleidern voll, den ich und John an einem Abend fortschleppten. Sie schrieb einen großen Brief im gigantischen Ton der hohen Tugend, worin sie sagt, daß sie mit einem würdigen Gemahl von der Gefahr und Bosheit fliehe! Sie wies ihrem Oncle den dreijährigen Genuß aller ihrer Einkünfte an, um seinen Prozeß damit zu betreiben; sie hoffte, sagte sie, er würde dadurch mehr Segen für seine Kinder erlangen, als er durch die Grausamkeit[168] erhalten, die er an ihr ausgeübt habe. Von Florenz werde er Nachricht von ihr erhalten. Ihre reichen Kleider schenkte sie in die Pfarre für Arme. Von dieser Art von Testamente schickte sie auch dem Fürsten und dem Lord G. Kopien zu.

Den Tag, wo das große Festin auf dem Lande gegeben wurde, waren meine Anstalten gemacht, ich war den ganzen Tag bei Hofe überall mit vermengt. Als das Getümmel recht arg wurde, schlich ich in meinen Wagen und flog nach D* John eilte mit mir in den kleinen Gartensaal des Grafen Löbau, wo ich in Wahrheit mit einem das erstemal pochenden Herzen das artige Mädchen erwartete. Sie wankte endlich am Arm ihres Kätzchens herein, niedlich gekleidet und vom Haupt bis zu den Füßen mit Adel und rührender Grazie bewaffnet. Sie zagte einen Augenblick an der Türe, ich lief gegen ihr, sie machte einen Schritt, und ich kniete bei ihr mit einer wahren Bewegung von Zärtlichkeit. Sie gab mir ihre Hände, konnte aber nicht reden; Tränen fielen aus ihren Augen, die sich zu lächeln bemühten; ich konnte ihre Bestürzung genau nachahmen, denn ich fühlte mich ein wenig beklemmt, und John sagte mir nachher, daß es Zeit gewesen wäre, ihm das Zeichen zu geben, sonst würde er nichts mehr geantwortet haben, indem ihn seine Entschlossenheit beinahe verlassen habe.

Doch das waren leere Aufstoßungen unserer noch nicht genug verdauten jugendlichen Vorurteile.

Ich drückte die rechte Hand meines Mädchens an meine Brust.

»Ist sie mein, diese segensvolle Hand? Wollen Sie mich glücklich machen?« – sagte ich mit dem zärtlichsten Tone.

Sie sagte ein stotterndes Ja! und zeigte mit ihrer linken Hand auf ihr Herz. John sah mein Zeichen und trat herbei, tat auf englisch eine kurze Anrede, plapperte die Trauformel her – segnete uns ein, und ich – hob meine halb ohnmächtige Sternheim triumphierend auf, drückte sie das erstemal in meine Arme und küßte den schönsten Mund, den meine Lippen jemals berührten. Ich fühlte eine mir unbekannte Zärtlichkeit und sprach ihr Mut zu. Einige Minuten blieb sie in ein stillschweigendes Erstaunen verhüllt. Endlich legte sie mit einer[169] bezaubernden Vertraulichkeit ihren schönen Kopf an meine Brust, erhob ihn wieder, drückte meine Hände an ihren Busen und sagte:

»Mylord, ich habe nun niemand auf der Erde als Sie und das Zeugnis meines Herzens. Der Himmel wird Sie für den Trost belohnen, den Sie mir geben, und dieses Herz wird Ihnen ewig danken.«

Ich umarmte sie und schwur ihr alles zu. Nachdem mußte sie mit ihrem Mädchen beiseite gehen und Mannskleider anziehen. Ich ließ sie allein dabei, weil ich meiner Leidenschaft nicht trauete und die Zeit nicht Verlieren durfte. Wir kamen unbemerkt aus dem Hause, und da wegen des Festes, welches man dem Prinzen von ** gab, viel Kutschen aus und ein fuhren, achtete man die meinige nicht, in welcher ich meine Lady und ihr Mädchen fortschickte. John, der seine eigne Gestalt wieder angenommen, war ihr Begleiter. Ich redete ihren Ruheplatz in dem Dorfe Z* unweit B* mit ihm ab und eilte zum Ball zurück, wo niemand meine Abwesenheit wahrgenommen hatte.13 Ich tanzte meine Reihen mit Fröhlichkeit durch und lachte, als der Fürst dem Englischtanzen nicht zusehen wollte, indem ihn das Andenken der Sternheim quälte.

Das Gelärme, Mutmaßen und Nachschicken des zweiten Tages will ich dir in einem andern Briefe beschreiben. Ich reise itzt auf acht Tage zu meiner Lady, die, wie mir John schreibt, sehr tiefsinnig ist und viel weint.

Sie sehen, meine Freundin, aus den Briefen des ruchlosen Lords Derby, was für abscheuliche Ränke gebraucht wurden, um die beste junge Dame an den Rand des größten Elendes zu führen. Sie können sich auch vorstellen, wie traurig ich die Zeit zugebracht habe, von dem Augenblick an, da sie vom Ball kam, krank war und dabei immer aus einer bekümmernden Unruhe des Gemüts in die andre gestürzt wurde. Da sie von keinem Menschen mehr Briefe bekam, vermuteten wir, der Fürst und der Graf Löbau ließen sie auffangen. Die Art, mit welcher ihr abgeschlagen wurde, auf ihre Güter zu gehn, und[170] ein Besuch des Fürsten beförderten die Absichten des Lord Derby. Unglücklicherweise betäubte mich der unmenschliche Mann auch, daß ich zu allem half, um meine Fräulein aus den Händen ihres Oncle zu ziehen.

Sie sehen aus seinen Briefen, wieviel Arglist und Verstand er hatte. Daneben war er ein sehr schöner Mann; und mein Fräulein freuete sich, ihre Begierde nach England zu befriedigen.

O wieviel werden Sie noch zu lesen bekommen, worüber Sie erstaunen werden. Ich will so fleißig sein, als mir immer möglich ist, um Sie nicht lange darauf warten zu lassen.[171]

1

Der Verfolg und der ganze Zusammenhang dieser Geschichte gibt die Auslegung über diesen Ausdruck. Er soll ohne Zweifel nichts anders sagen, als einen Mann, der dem besondern Ideal von Tugend und moralischer Vollkommenheit, welches sich in ihrer Seele ausgebildet hatte, bis auf die kleinsten Züge ähnlich wäre. A. d. H.

2

Eine Bemerkung, welche der Herausgeber aus vieler Erfahrung an sich und andern von Herzen unterschreibt.

3

Um die vortreffliche Schreiberin für nichts responsabel zu machen, was nicht wirklich von ihr kömmt, gesteht der Herausgeber, daß die in [ ] eingeschlossenen Zeilen von ihm selbst eingeschoben worden, da er das Glück hat, die Dame, deren getreues Bildnis hier entworfen wird, persönlich zu kennen.

4

Ich habe der kleinen Parteilichkeit des Fräulein von Sternheim für die englische Nation bereits in der Vorrede als eines Fleckens erwähnt, den ich von diesem vortrefflichen Werke hätte wegwischen mögen, wenn es ohne zu große Veränderungen tunlich gewesen wäre. – Wenn wir den weisesten Engländern selbst glauben dürfen, so ist eine Dame von so schöner Sinnesart, als Fräulein Sternheim, in England nicht weniger selten als in Deutschland. Doch, hier spricht ein junger Engländer, welcher billig für seine Nation eingenommen sein darf, und ein Enthusiast, der das Recht hat, zuweilen unrichtig zu räsonieren. A. d. H.

5

Man kann schwerlich sagen, daß es Gattungen von Blumen oder Pflanzen gebe, welche nur zu Ergötzung des Auges dienten; und, soviel mir bekannt ist, kennt man keine einzige Gattung, welche nicht entweder einen ökonomischen oder offizinalischen Nutzen für den Menschen hätte, oder zum Unterhalt einiger Tiere, Vögel, Insekten und Gewürm diente, folglich in Absicht des ganzen Systems unsers Planeten wirklich einen Nutzen hätte. A. d. H.

6

Es gehöret immer noch viele Einsicht dazu, den Zufall so wohl zu benutzen, und vielleicht mehr, als einen wohlausgedachten Entwurf zu machen. Aber das ist der große Haufe nicht fähig zu begreifen: und daher pflegt man ihn immer gerne glauben zu lassen, was seinen Begriffen nach, denen die ihn regieren, die meiste Ehre macht. Die Welt wird nur darum so viel betrogen, weil sie betrogen sein will. A. d. H.

7

Wohlverstanden, daß die Spekulationen der Gelehrten, sobald sie einigen Nutzen für die menschliche Gesellschaft haben, eben dadurch den Wert von guten Handlungen bekommen. A. d. H.

8

Herr * * (den wir zu kennen die Ehre haben) hat uns auf Befragen gesagt, seine Meinung sei eigentlich diese gewesen: Er habe an dem Fräulein von St. eine gewisse Neigung, über moralische Dinge aus allgemeinen Grundsätzen zu räsonieren, Distinktionen zu machen und ihren Gedanken eine Art von systematischer Form zu geben, wahrgenommen und zugleich gefunden, daß ihr gerade dieses am wenigsten gelingen wolle. Ihn habe bedünkt, das, worin ihre Stärke liegt, sei die Feinheit der Empfindung, der Beobachtungsgeist und eine wunderbare und gleichsam zwischen allen ihren Seelenkräften abgeredete Geschäftigkeit derselben, bei jeder Gelegenheit die Güte ihres Herzens tätig zu machen; und dieses habe er eigentlich dem Fräulein von St. sagen wollen. H.

9

Ich habe so viel Wahres und zugleich dem eigentümlichen Charakter des Geistes der Fräulein von St. so Angemessenes in diesem Gleichnisse gefunden, daß ich mich nicht entschließen konnte, etwas davon zu ändern, ungeachtet ich sehr wohl empfinde, daß das Feuer der Untersuchung und das Wasser der Widerwärtigkeit keine Gnade vor der Kritik finden können und wirklich in Bunyans Pilgrimsreise besser an ihrem Platze sind als in diesem Buche. H.

10

Wenige Leser werden der Erinnerung bedürfen, daß es der Unschuld und Unerfahrenheit des Fräulein von St. in den Wegen der Welt ganz natürlich war, für eine Wirkung des Zufalls zu halten, was Absicht und Kunst war. An Höfen versteht man keine Kunst besser, als ungefähre Zufälle zu machen, wenn die Absicht ist, die Leidenschaften des Herrn auf eine feine Art zu befördern. H.

11

Der Herausgeber überläßt dem Herrn Pfarrer, von welchem diese Distinktion herrühren soll, die Rechtfertigung derselben. Seiner Meinung nach, welche nichts Neues ist, läßt sich auch in diesem Leben weder öffentliche noch Privat-Glückseligkeit ohne Tugend denken; und nach den Grundsätzen der Offenbarung gehört noch etwas mehr als nur Tugend zur Erlangung der ewigen Glückseligkeit.

12

Und diejenigen, welche dieses sagten, hatten an sich selbst eben nicht so gar unrecht. H.

13

(Heureusement!)

Quelle:
Sophie von La Roche: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. München 1976, S. 13-173.
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