Zweiter Teil

Seymour an Doktor T.

[173] Zween Monate sind's, seit ich Ihnen schrieb; seit ich, von Zweifel und Argwohn gemartert, mich von aller Gesellschaft enthielte und mich endlich durch einen übelverstandenen Eifer für die Tugend zu dem elendesten Geschöpfe auf der Erde machte. O, wär' ich es allein, ich würde mich glücklich dabei achten; aber ich habe die beste, die edelste Seele zu einem Entschluß der Verzweiflung gebracht; ich bin die Ursache des Verderbens meines angebeteten Fräuleins von Sternheim. Kein Mensch kann mir was von ihrem Schicksal sagen; aber mein Herz sagt mir, daß sie unglücklich ist. Dieser Gedanke frißt das Herz, in welchem er sich ernährt. Aber ich sage Ihnen unbegreifliche Dinge; ich muß mich verständlich machen; Sie wissen, wie mißvergnügt ich von dem Feste des Grafen F. zurückkam, und daß ich von diesem Augenblick mich aller Gesellschaft entäußerte. Meine Liebe war verwundet, aber nicht getötet; ich dachte, sie würde durch Verachtung und Fliehen geheilt werden; ich wollte sogar nichts von dem Fräulein reden hören; als endlich mein Oheim meine Leidenschaften auf einmal zu löschen glaubte, da er mir die Nachricht gab: daß auf das Geburtsfest des Fürsten ein Maskenball angestellt wäre; daß der Fürst die Maske des Fräuleins tragen würde und sie Kleidung und Schmuck von ihm bekomme. Ich könnte also schließen, daß sie sich aufgeopfert habe; sie hätte schon vorher Gnaden von ihm erbeten und alles erhalten, was sie verlangt habe; der Fürst käme abends in den Garten des Grafen Löbau, allein von seinem Liebling begleitet usw. – Mein Oheim erreichte seinen Zweck; die Sorge meiner Liebe verlor sich mit meiner Hochachtung und mit der Hoffnung, die ich immer blindlings behalten hatte. Aber gleichgültig war ich noch nicht; meine Seele war durch das Andenken ihres Geistes und ihrer[173] Tugend gekränkt. Wie glücklich, o Gott, wie glücklich hätte sie mich machen können (rief ich), wenn sie ihrer Erziehung und ihrer ersten Anlage getreu geblieben wäre! Ohne Erinnerung und Bestrafung wollt' ich sie nicht lassen, und der Maskenball dünkte mich ganz bequem zu meinem Vorhaben. Ich machte eine doppelte Maske. In der ersten wollt' ich mich noch von allem überzeugen, was mir von der Vergessenheit ihres Werts und ihrer Pflichten gesagt worden war. Sie kam von allen Grazien begleitet in den Saal; sie trug den Schmuck, welchen der Hofjuwelierer dem Lord gewiesen hatte. Sie war so niederträchtig gefällig, ihre schöne Stimme hören zu lassen und ihn nebst der Gesellschaft zur Freude aufzumuntern. Hätte ich Kräfte gehabt, sie ihrer reizenden Gestalt und aller ihrer Talenten zu berauben, ich würd' es in diesem Augenblick getan haben. Leichter wär' es mir gewesen, sie elend, häßlich, ja gar tot zu sehen, als ein Zeuge ihrer moralischen Zernichtung zu sein. Der tiefste Schmerz war in meiner Seele, als ich sie singen hörte und mit dem Fürsten und mit andern Menuette tanzen sah. Aber als er sie um den Leib faßte, an seine Brust drückte und den sittenlosen, frechen Wirbeltanz der Deutschen mit einer aller Wohlstandsbande zerreißenden Vertraulichkeit an ihrer Seite daherhüpfte – da wurde meine stille Betrübnis in brennenden Zorn verwandelt; ich eilte in meine zwote Maske, näherte mich ihrer darin und machte ihr bittere und heftige Vorwürfe über ihre Frechheit, sich mit so vieler Lustigkeit in ihrem schändlichen Putz zu zeigen. Ich setzte hinzu: daß alle Welt sie verachtete, sie, die man angebetet habe. – Meine erste Anrede brachte das vollkommenste Erstaunen in ihr hervor; sie konnte nichts sagen, als ihre Hand gegen die Brust heben – »ich – ich –« stotterte sie – mit der andern wollte sie mich haschen. Aber ich Elender entfloh, ohne auf die Wirkung achten zu wollen, die meine Rede machen würde. Nach Hause eilte ich, ließ mir sechs Postpferde vor meine Chaise geben, nahm meinen alten Dik mit und fuhr sechs Tage ohne zu wissen, wohin; bis ich endlich in einem Dorfe liegenbleiben mußte, wo ich Diken auf das äußerste verbot, jemanden Nachricht von mir zu geben. Mein Gemütszustand ist nicht zu beschreiben; gefühllos, geistlos war ich, mißvergnügt, unruhig, und dennoch versagt'[174] ich mir die einzige Hülfe, die meine Leiden erforderten – Nachrichten von D. zu haben. Dieser unselige Eigensinn legte den Grund zu der tiefen Traurigkeit, die mich bis an mein Ende begleiten wird. Denn während ich das stumme Wüten meiner unüberwindlichen Liebe in dem äußersten Winkel eines einsamen Dorfes verbarg, um die ersten Triumphtage des Fürsten vorbeirauschen zu lassen, hatte das Fräulein den edelsten Widerstand gemacht, hatte aus Kummer beinahe das Leben verloren und war endlich aus dem Hause ihres Oheims entwichen, weil man sie nicht auf ihre Güter gehen lassen wollte. Einen Monat nach diesem Vorgang kam ich abgezehrt und finster zurück; Mylord empfing mich mit väterlicher Zuneigung; er sagte mir alle Sorgen, die ich ihm verursacht hätte, auch daß er auf den Gedanken geraten sei, ich möchte das Fräulein entführt haben.

»Wollte Gott, Sie hätten mir's erlaubt,« rief ich; »ich wäre nicht so elend. Aber reden Sie mir nicht mehr von ihr.«

Er umarmte mich und sagte:

»Lieber Carl, du mußt doch hören was geschehen ist. Sie war doch edel, tugendhaft, alles, was uns zu ihrem Nachtheil gesagt wurde, war Betrug, und sie ist entflohen.«

Meine Begierde, alles zu wissen, war nun so groß, als vorher meine Sorge darüber gewesen war.

Das Fräulein soll geglaubt haben, ihre Tante hätte ihren Schmuck neu fassen lassen und lehnte ihn ihr zum Ball; die Kleider habe sie ihrem Kaufmann schuldig zu sein geglaubt; ihr Singen wäre eine gezwungene Gefälligkeit gewesen, und sie hätte in einem Brief an den Fürsten eine weiße Maske gesegnet, die ihr alle Bosheiten entdeckt habe, welche ihren Ruhm zernichtet hätten.

»O Mylord«, rief ich; »diese weiße Maske war ich; ich habe mit ihr gesprochen und ihr Vorwürfe gemacht; aber gleich nach dieser Unterhaltung eilt' ich fort.« Er fuhr fort, mir zu erzählen: das Fräulein hätte noch auf dem Ball dem Fürsten seinen Schmuck vor die Füße geworfen und wäre in der äußersten Beängstigung nach Haus gefahren; sie wäre aber acht Tage sehr krank gelegen und hätte keinen Menschen vor sich gelassen. Bei ihrer Wiederherstellung hätte sie auf ihre Güter zu gehen verlangt, ihr Oncle aber hätte sie nicht gehen lassen,[175] und acht Tage darauf, als man dem Prinzen von P. zu Ehren bei Hofe Lustbarkeiten angestellt, sei sie mit ihrer Kammerjungfer verschwunden. Der Graf und die Gräfin Löbau, die bis morgens bei dem Ball gewesen, und ihre Leute, welche auch nicht früh munter geworden, hätten nicht an das Fräulein gedacht, bis nachmittags, da man die Tafel für den Grafen gedeckt hatte, man erst angefangen, das Fräulein und ihr Mädchen zu vermissen; aber als man ihre Zimmer aufgesprengt, an ihrer Statt bloß Briefe gefunden habe, einen an den Fürsten, einen an Mylord C. und einen an ihren Oheim, dem sie noch ein Verzeichnis angeschlossen von den Kleidern, die sie an den Pfarrer geschickt habe, um sie zu verkaufen und das Geld den Armen des Kirchspiels zu geben. Ihrem Oheim hätte sie kurz, aber mit vieler Würde und Rührung, von den Klagen gesprochen, die sie über ihn und seine Frau zu führen habe, und von den Ursachen, warum sie sich von ihnen entferne und sich in den Schutz eines Gemahls begebe, den sie sich gewählt hätte und mit welchem sie als seine vermählte Frau aus ihrem Hause gehe, um sich nach Florenz zum Grafen R. zu begeben, woher sie wieder Nachricht von ihr erhalten sollten; indessen überlasse sie ihm auch drei Jahre den Genuß aller Einkünfte ihrer Güter, um damit die Beendigung seines Rechtshandels zu betreiben, die er auf eine niederträchtige Art durch die Aufopferung ihrer Ehre zu erhalten gesucht hätte; es wäre ein Geschenk, welches sie seinen zweenen Söhnen machte und wodurch sie mehr Segen erhalten würden, als durch den Entwurf ihres Untergangs. Dem Fürsten hätte sie geschrieben: sie fliehe an der Hand eines edelmütigen und würdigen Gemahls vor den Verfolgungen seiner verhaßten und entehrenden Leidenschaft; sie habe inzwischen ihrem Oncle die Einkünfte von ihren Gütern auf drei Jahre überlassen, hoffe aber, nach Verfluß dieser Zeit sie von der Gerechtigkeit des Landesfürsten wieder zurückzuerlangen; gegen Mylord aber hätte sie sich erklärt: daß sie seinen Geist und seinen Gemütscharakter jederzeit verehrt und gewünscht habe, einigen Anteil an seiner Achtung zu haben; es wäre sehr wahrscheinlich, daß die Umstände, in welche man sie gestellt, ihre Gemütsart mit einem so starken Nebel umhüllet hätten, daß er sich keinen richtigen Begriff[176] davon habe machen können; sie versichere ihn aber, daß sie seiner Hochachtung niemals unwürdig gewesen und seine harte nachteilige Beurteilung nicht verdient habe; und dieses möchte er auch seinen Neffen Seymour lesen lassen; Löbau sei nach dieser Entdeckung zum Fürsten geeilt, der darüber ins größte Erstaunen geraten und aller Orten habe nachschicken wollen, aber Graf F. hätte es mißraten, und es wäre allein ein Kurier an den Grafen R. nach Florenz abgeschickt worden, von wannen man aber bis itzt keine Nachricht von dem Fräulein erhalten habe.

Solange die Erzählung von Mylord dauerte, schienen alle Triebfedern meiner Seele zurückgehalten zu sein; aber als er aufhörte, kamen sie in volle Bewegung. Er mußte meine bittersten Klagen über seine Politik hören, durch die er mich verhindert hatte, mich mit dem edelsten Herzen zu Verbinden. Ihre großmütige Wohltätigkeit an ihrem Oncle, diese edle Rache für seine abscheuliche Beleidigung, ihr Andenken an die Arme; und an mich, bei dem sie gerechtfertigt zu sein suchte; wie viele Risse in mein Herz! Wie verhaßt wurde mir D., wie viele Mühe hatte ich, die Ausdrücke meines Zorns zu verbergen, wenn ich ihre Feinde sah, oder wenn mir jemand von ihr reden wollte! Denn der herzhafte Schritt, welchen sie zu ihrer Rettung gemacht, wurde von jedermann getadelt, alle ihre vortrefflichen Eigenschaften verkleinert und ihr Fehler und Lächerlichkeiten angedichtet, deren sie gänzlich unfähig war. Wie elend, aber auch wie allgemein ist das Vergnügen, Fehler am Verdienst aufzuspähen! Tausend Herzen sind eher bereit, sich zu der Bosheit zu erniedrigen, an einer vortrefflichen Person die Gebrechen der Menschheit zu entdecken, als eines zu finden ist, das die edle Billigkeit hat, einem andern den größten Anteil an Kenntnissen und Tugend einzugestehen und ihn aufrichtig zu verehren.

Ich schickte einen Kurier nach Florenz und schrieb dem Grafen R. die Geschichte seiner würdigen Nichte. Aus der Antwort, so ich von ihm erhielt, erfuhr ich, daß er nicht das geringste von ihrem Aufenthalte wisse. Alle Bemühungen, welche er bis jetzt angewandt, sie auszuspähen, sind vergeblich gewesen; – und alles dies vergrößert die Vorwürfe, die ich mir[177] wegen meiner übereilten Abreise von D. mache. Warum wartete ich nicht auf die Folge meiner Unterredung? – wenn man bessern will, ist es genug, bittere Verweise zu geben? – Mein ganzes Herz würde sich empören, wenn ich einen Kranken schlagen oder mißhandeln sähe: und ich gab einer Person, die ich liebte, die ich für verblendet hielt, Streiche, die ihre Seele verwunden mußten! Aber ich sah sie als eine freiwillig weggeworfene, meiner Achtung unwürdige Kreatur an und dünkte mich berechtiget, ihr auch so zu begegnen. Wie grausam war meine Eigenliebe gegen das liebenswerte Mädchen! erst wollte ich nicht von meiner Liebe reden, bis sie sich ganz nach meinen Begriffen in dem vollen Glanz einer triumphierenden Tugend gezeigt haben würde. Sie ging ihren eigenen schönen Weg, und weil sie meinen idealischen Plan nicht befolgte, eignete ich mir die Gewalt zu, sie darüber auf das empfindlichste zu bestrafen. Wir beurteilten und verdammten sie alle; aber sie – wie edel, wie groß wird sie in dem Augenblick, da ich sie für erniedrigt hielt! sie segnete in der weißen Maske mich wütenden Menschen, da sie an den Rand eines frühen Grabes gestoßen hatte. – O, was kann sie itzt von dem Geschöpfe sagen, durch dessen Unbesonnenheit sie in eine übereilte und gewiß unglückliche Ehe gestürzt wurde, die sie schon bereut und nicht wieder brechen kann. Sie schrieb meinen Namen noch, sie wollte, daß ich Gutes von ihr glauben soll! O Sternheim, selbst in deinem von mir verursachten Elende würde deine großmütige, unschuldige Seele die Marter meines Herzens beweinen, wenn du darin das Bild meiner ersten Hoffnungen mit allen Schmerzen der Selbstberaubung vereinigt sehen würdest!

Derby ist nach einer Abwesenheit von acht Wochen wieder von einer Reise nach H. zurückgekommen und bewies mir eine ganz besondere Achtsamkeit; ich goß allen meinen zärtlichen Kummer bei ihm aus; er belachte mich und behauptete, daß er mit dem Ruf seiner Bosheit Viel weniger schädlich sei, als ich es durch diesen Tugendeifer gewesen; seine Bosheit führe eine Art von Verwarnung bei sich, die alle Menschen vorsichtig machen könne. Die Strenge meiner Grundsätze hätte mir eine Grausamkeit gegen die anscheinenden und unvermeidlichen[178] Fehler der Menschen gegeben, welche die Widerspenstigkeit der Bösen vermehre und die guten Leute zur Verzweiflung bringe. Wie kömmt Derby zu diesem Anspruch der Wahrheit? ich fühlte, ja ich fühlte, daß er recht hatte, daß ich grausam war, daß ich es war, ich – Elender! der die Beste ihres Geschlechts unglücklich gemacht!

O mein Freund, mein Lehrer, das Maß meines Verdrusses ist voll; alle Stunden meines Lebens sind vergiftet. John, unser Sekretär, ist zwei Tage vor der Flucht des Fräuleins abgereiset und seitdem nicht mehr gekommen. Die Kammerjungfer des Fräuleins war einmal bei ihm, und unter seinen Papieren hat man ein zerrissenes Blatt gefunden, wo mit der Hand meiner Sternheim geschrieben stund, – »ich gehe in alle Ursachen ein, die Sie wegen der Verborgenheit unserer Verbindung angeben; sorgen Sie nur für unsere Trauung; denn ohnvermählt werd' ich nicht fortgehen, ob ich gleich die Verbindung mit einem Engländer allen andern vorziehe.«

So ist sie also das Eigentum eines der verwerflichsten Menschen aller Nationen geworden! O – ich verfluche den Tag, wo ich sie sah, wo ich die sympathetische Seele in ihr fand! – und, ewig verdamme Gott den Bösewicht, dem sie sich in die Arme warf! Was für Ränke muß der Kerl gebraucht haben! es ist nicht anders möglich, der Kummer hat ihren Verstand zerrüttet. Aber die Briefe, die sie zurückließ, sind in einem so wohltätigen, so edlem Ton und mit so vielem Geiste geschrieben! – doch dünkt mich, einst gelesen zu haben, daß just in einer Zerrüttung der künstlichen und gelernten Bewegung des Verstandes die Triebfedern an den Tag kämen, durch welche er von unsern natürlichen und vorzüglichen Neigungen gebraucht wird. Urteilen Sie also von dem edlen Grund des Charakters unsers Fräuleins. –


Fräulein von Sternheim an Emilia

Hier in einem einsamen Dorfe, allen, die mich sehen, unbekannt, denen, die mich kannten, verborgen, hier fand ich mich wieder, nachdem ich durch meine Eigenliebe und Empfindlichkeit[179] so weit von mir selbst geführt worden, daß ich mit hastigen Schritten einen Weg betrat, vor welchem ich in gelassenen denkenden Tagen mit Schauer und Eifer geflohen wäre. O wenn ich mir nicht sagen könnte, wenn meine Rosine, wenn Mylord Derby selbst nicht zeugen müßten, daß alle Kräfte meiner Seele durch Unmut und Krankheit geschwächt und unterdrückt waren; wo, meine Emilia, wo nähme ich einen Augenblick Ruhe und Zufriedenheit bei dem Gedanken, daß ich heimliche Veranstaltungen getroffen – ein heimliches Bündnis gemacht und aus dem Hause entflohen bin, in welches ich selbst durch meinen Vater gegeben wurde.

Es ist wahr, ich wurde in diesem Hause grausam gemißhandelt; es war ohnmöglich, daß ich mit Vertrauen und Vergnügen darin bleiben konnte; gewiß war meine Verbitterung nicht ungerecht; denn wie konnte ich ohne den äußersten Unmut denken, daß mein Oncle und meine Tante mich auf eine so niederträchtige Weise ihrem Eigennutze aufopferten und Fallstricke für meine Ehre flechten und legen halfen?

Ich hatte sonst keinen Freund in D., mein Herz empörte sich bei der geringsten Vorstellung, die ich nach wiedererlangter Gesundheit, Verwandte, die mich meines Ruhms beraubt, und diejenigen wiedersehen müßte, die über meinen Widerstand und Kummer gespottet hatten und alle schon lange zuvor die Absichten wußten, welche man durch meine Vorstellung bei Hofe erreichen wollte. Ja, alle wußten es, sogar mein Fräulein C., und keines von allem war edel und menschlich genug, mir, nachdem man doch meinen Charakter kannte, nur den geringsten Fingerzeig zu geben, mir, die ich keine Seele beleidigte, mich bemühte, meine Gesinnungen zu verbergen, sobald sie die ihrige zu tadeln oder zu verdrießen schienen! Wie bereit war ich, alles, was mir Fehler deuchte, zu entschuldigen! Aber sie dachten, es wäre nicht viel an einem Mädchen, aus einer ungleichen Ehe, verloren. Konnte ich bei diesem vollen Übermaße von Beleidigungen, die über meinen Charakter, meine Geburt und meinen Ruhm ausgegossen wurden, den Trost von mir werfen, den mir die Achtung und Liebe des Mylord Derby anbot? Die Entfernung des Grafen und der Gräfin R., ihr Stillschweigen auf meine letzten Briefe, die Unart, mit welcher mir[180] die Zuflucht auf meine Güter versagt wurde; und, meine Emilia, ich berge es Ihnen nicht, meine Liebe zu England, der angesehene Stand, zu welchem mich Mylord Derby durch seine Hand und seine Edelmütigkeit erhob; auch diese zwo Vorstellungen hatten große Reize für meine verlassene und betäubte Seele. Ich war vorsichtig genug, nicht unvermählt aus meinem Hause zu gehen, ich schrieb es dem Fürsten, dem Mylord Crafton und meinem Oheim. Ich nannte meinen Gemahl nicht; wiewohl er so großmütig war, mir die volle Freiheit dazu zu lassen, ohngeachtet er damit die Gnade des Gesandten und seines Hofes verwürkt hätte, weil man den Gedanken fassen konnte, Mylord Crafton hätte dazu geholfen, und dieser Argwohn widrige Folgen hätte haben können; sollte ich da nicht auch großmütig sein und denjenigen, der mich liebte und rettete, durch mein Stillschweigen vor Verdruß und Verantwortung bewahren? Es war genug, daß er den Gesandtschaftsprediger gewann, dem ich die ganze Geschichte meiner geheimen Trauung schrieb, und welchem Mylord eine Pension gibt, wovon er wird leben können, wenn er auch die Stelle bei dem Gesandten verliert. Durch alles dieses unterstützt, reiste ich mit frohem Herzen von D. ab, von einem der getreuesten Leute des Lords begleitet; mein Gemahl mußte, um allem Verdacht auszuweichen, zurückbleiben, und den Festen beiwohnen, welche zween fremden Prinzen zu Ehren angestellt wurden. Dieser Umstand war mir angenehm, denn ich würde an seiner Seite gezittert und gelitten haben, da ich hingegen mit unserer Rosine glücklich und ruhig meinen Weg fortsetzte, bis ich in diesem kleinen Dorfe meinen Aufenthalt nahm, wo ich vier Wochen war, ehe Mylord den schicklichen Augenblick finden konnte, ohne Besorgnis zu mir zu eilen. Mein erster Gedanke war immer, meine Reise nach Florenz zu verfolgen und Mylorden da zu erwarten; aber ich konnte seine Einwilligung dazu nicht erlangen, und auch itzt will er sich vorher völlig von Mylord Crafton losmachen und erst alsdann mit mir zum Grafen R., nach diesem aber gerade in sein Vaterland gehen.

In diesen vier Wochen, da ich allein war, hielt ich mich eingesperrt und hatte keine andere Bücher als etliche englische Schriften von Mylord, die ich nicht lesen mochte, weil sie übergebliebene[181] Zeugnisse seiner durch Beispiel und Verführung verderbten Sitten waren. Ich warf sie auch alle an dem ersten kalten Herbsttag, der mich nötigte Feuer zu machen, in den Ofen, weil ich nicht vertragen konnte, daß diese Bücher und ich einen gemeinsamen Herrn und Wohnplatz haben sollten. Die Tage wurden mir lang, meine Rosina nahm sich Näharbeit von unsrer Wirtin, und ich Eng an, mit dem zunehmenden Gefühl der sich wieder erholten Kräfte meines Geistes Betrachtungen über mich und mein Schicksal anzustellen.

Sie sind traurig, diese Betrachtungen, durch den Widerspruch, der seit dem Tod meines geliebten ehrwürdigen Vaters, noch mehr aber seit dem Augenblick meines Eintritts in die große Welt, zwischen meinen Neigungen und meinen Umständen herrschet.

O hätte ich meinen Vater nur behalten, bis meine Hand unter seinem Segen an einen würdigen Mann gegeben gewesen wäre! Meine Glücksumstände sind vorteilhaft genug, und da ich nebst meinem Gemahl den Spuren der edlen Wohltätigkeit meiner Eltern gefolgt wäre, so würde die selige Empfindung eines wohlangewandten Lebens und die Freude über das Wohl meiner Untergebenen alle meine Tage gekrönt haben. Warum hörte ich die Stimme nicht, die mich in P. zurückhalten wollte, als meine Seele, ganz mit Bangigkeit erfüllt, sich der Zuredungen meines Oheims und Ihres Vaters widersetzte? Aber ich selbst dachte endlich, daß Vorurteil und Eigensinn in meiner Abneigung sein könnte, und willigte ein, daß der arme Faden meines Lebens, der bis dahin so rein und gleichförmig fortgeloffen war, nun mit dem verworrnen, ungleichen Schicksal meiner Tante verwebt wurde, woraus ich durch nichts als ein gewaltsames Abreißen aller Nebenverbindungen loskommen konnte. Mit diesem vereinigte sich die Verschwörung wider meine Ehre und meine von Jugend auf genährte Empfindsamkeit, die nur ganz allein für meine beleidigte Eigenliebe arbeitete. O, wie sehr hab' ich den Unterschied der Würkungen der Empfindsamkeit für andere und der für uns allein kennengelernt!

Die zwote ist billig und allen Menschen natürlich! aber die erste allein ist edel; sie allein unterhält die Wahrscheinlichkeit[182] des Ausdrucks, daß wir nach dem Ebenbild unsers Urhebers geschaffen sein, weil diese Empfindsamkeit für das Wohl und Elend unsers Nebenmenschen die Triebfeder der Wohltätigkeit ist, der einzigen Eigenschaft, welche ein zwar unvollkommnes, aber gewiß echtes Gepräge dieses göttlichen Ebenbildes mit sich führt; ein Gepräge, so der Schöpfer allen Kreaturen der Körperwelt eindrückte, als in welcher das geringste Grashälmchen durch seinen Beitrag zur Nahrung der Tiere ebenso wohltätig ist, als der starke Baum es auf so mancherlei Weise für uns wird. Das kleinste Sandkörnchen erfüllt seine Bestimmung, wohltätig zu sein, und die Erde durch Lockernheit fruchtbar zu erhalten, so wie die großen Felsen, die uns staunen machen, unsern allgemeinen Wohnplatz befestigen helfen. Ist nicht das ganze Pflanzen- und Tierreich mit lauter Gaben der Wohltätigkeit für unser Leben erfüllt? Die ganze physikalische Welt bleibt diesen Pflichten getreu; durch jedes Frühjahr werden sie erneuert; nur die Menschen arten aus und löschen dieses Gepräge aus, welches in uns viel stärker und in größerer Schönheit glänzen würde, da wir es auf so vielerlei Weise zeigen könnten.

Sie erkennen hier, meine Emilia, die Grundsätze meines Vaters; meine Melancholie rief sie mir sehr lebhaft zurück, da ich in der Ruhe der Einsamkeit mich umwandte und den Weg abmaß, durch welchen mich meine Empfindlichkeit gejagt und so weit von dem Orte meiner Bestimmung verschlagen hatte. O, ich bin den Pflichten der Wohltätigkeit des Beispiels entgangen!14 Niemand wird sagen, daß Kummer und Verzweiflung Anteil an meinem Entschluß hatten; aber jede Mutter wird ihre Tochter durch die Vorstellung meiner Fehler warnen; und jedes bildet sich ein, es würde ein edlers und tugendhafters Hülfsmittel gefunden haben. Ich selbst weiß, daß es solche gibt; aber mein Geist sah sie damals nicht, und es war niemand gütig genug, mir eines dieser Mittel zu sagen. Wie unglücklich ist man, meine Emilia, wenn man Entschuldigungen[183] suchen muß, und wie traurig ist es, sie zu leicht und unzulänglich zu finden! So lang ich für andere unempfindlich war, fehlte ich nur gegen die Vorurteile der fühllosen Seelen, und wenn es auch schien, daß meine Begriffe von Wohltätigkeit übertrieben wären, so bleiben sie doch durch das Gepräge des göttlichen Ebenbildes verehrungs- und nachahmungswürdig. Aber itzt, da ich nur für mich empfand, fehlte ich gegen den Wohlstand und gegen alle gesellschaftliche Tugenden eines guten Mädchens. – Wie dunkel, o wie dunkel ist dieser Teil meines vergangenen Lebens: was bleibt mir übrig, als meine Augen auf den Weg zu heften, den ich nun vor mir habe, und darin einen geraden Schritt, bei klarem Lichte fortzugehen?

Meine ersten Erquickungsstunden hab' ich in der Beschäftigung gefunden, zwo arme Nichten meiner Wirtin arbeiten und denken zu lehren. Sie wissen, Emilia, daß ich gerne beschäftiget bin. Mein Nachdenken und meine Feder machten mich traurig; ich konnte am Geschehenen nichts mehr ändern, mußte den Tadel, der über mich erging, als eine gerechte Folge meiner irregegangenen Eigenliebe ansehen und meine Ermunterung außer mir suchen, teils in dem Vorsatze, Mylord Derby zu einem glücklichen Gemahl zu machen, teils in der Bestrebung, meinen übrigen Nebenmenschen alles mögliche Gute zu tun. Ich erkundigte mich nach den Armen des Orts und suchte ihnen Erleichterung zu schaffen. Bei dieser Gelegenheit sagte mir die gute Rosina von zwoen Nichten der Wirtin, armen verwaisten Mädchen, die der Wirt haßte, und auch seiner Frau, deren Schwester-Töchter sie sind, wegen dem wenigen, so sie genießen, sehr übel begegnete. Ich ließ sie zu mir kommen, forschte ihre Neigungen aus und was jede schon gelernt hätte oder noch lernen möchte; beide wollten die Künste der Jungfer Rosine wissen; ich teilte mich also mit ihr in dem Unterricht der guten Kinder; ich ließ auch beide kleiden, und sie kamen gleich den andern Tag, um meinem Anziehen zuzusehen. Vierzehn Tage darauf bedienten sie mich wechselsweise. Ich redete ihnen von den Pflichten des Standes, in welchen Gott sie, und von denen, in welchen er mich gesetzt habe, und brachte es so weit, daß sie sich viel glücklicher achteten, Kammerjungfern als Damen zu sein, weil ich ihnen sehr[184] von der großen Verantwortung sagte, die uns wegen dem Gebrauch unsrer Vorzüge und unsrer Gewalt über andere aufgelegt sei. Ihre Begriffe von Glück und ihre Wünsche waren ohnehin begrenzt, und die kleinen Prophezeiungen, die ich jeder nach ihrer Gemütsart machen kann, vergnügen sie ungemein; sie glauben, ich wisse ihre Gedanken zu lesen. Ich zahle dem Wirt ein Kostgeld für sie und kaufe alles, was sie zu ihren Lehrarbeiten nötig haben. Ich halte ihnen Schreibe- und Rechnungsstunden und suche auch, ihnen einen Geschmack im Putz einer Dame zu geben, besonders lehre ich sie, alle Gattung von Charakter zu kennen und mit guter Art zu ertragen. Die Wirtin und ihre Nichten sehen mich als ihren Engel an und würden alle Augenblicke vor mir knien und mir danken, wenn ich es dulden wollte. Süße glückliche Stunden, die ich mit diesen Kindern hinbringe! Wie oft erinnere ich mich an den Ausspruch eines neuern Weisen, welcher sagte: »Bist du melancholisch, siehst du nichts zu deinem Trost um dich her – lies in der Bibel; befreie dich von einem anklebenden Fehler oder suche deinem Nebenmenschen Gutes zu tun: so wird gewiß die Traurigkeit von dir weichen –«

Edles unfehlbares Hülfsmittel! wie höchst vergnügt gehe ich mit meinen Lehrmädchen spazieren und rede ihnen von der Güte unsers gemeinsamen Schöpfers! Mit welchem innigen Vergnügen erfüllt sich mein Herz, wenn ich beide, über meine Reden bewegt, ihre Augen mit Ehrfurcht und Dankbarkeit gen Himmel wenden seh' und sie mir dann meine Hände küssen und drücken: in diesen Augenblicken, Emilia, bin ich sogar mit meiner Flucht zufrieden, weil ich ohne sie diese Kinder nicht gefunden hätte.


Fräulein von Sternheim an Emilien

O – noch einmal so lieb sind mir meine Mädchen geworden, seitdem Mylord da war; denn durch die Freude an den unschuldigen Kreaturen hat sich mein Geist und mein Herz gestärkt. Mylord liebt das Ernsthafte meiner Gemütsart nicht; er will nur meinen Witz genährt haben; meine schüchterne und sanfte[185] Zärtlichkeit ist auch die rechte Antwort nicht, die ich seiner raschen und heftigen Liebe entgegensetze, und über das Verbrennen seiner Bücher hat er einen männlichen Hauszorn geäußert. Er war drei Wochen da. Ich durfte meine Mädchen nicht sehen; seine Gemütsverfassung schien mir ungleich; bald äußerst munter und voller Leidenschaft! bald wieder düster und trocken; seine Blicke oft mit Lächeln, oft mit denkendem Mißvergnügen auf mich geheftet. Ich mußte ihm die Ursachen meines anfänglichen Widerwillens gegen ihn und meine Ändrung erzählen; sodann fragte er mich über meine Gesinnungen für Lord Seymour. Mein Erröten bei diesem Namen gab seinem Gesicht einen mir entsetzlichen Ausdruck, den ich Ihnen nicht beschreiben kann, und in einer noch viel empfindlichern Gelegenheit merkte ich, daß er eifersüchtig über Mylord Seymour ist; ich werde also beständig wegen anderer zu leiden haben. Mylord liebt die Pracht und hat mir viel kostbare Putzsachen gegeben, ich werde in seine Gesinnung eingehen, ungeachtet ich mich lieber in Bescheidenheit als in Pracht hervortun möchte. Gott gebe, daß dieses der einzige Punkt sein möge, in welchem wir verschieden sein; aber ich fürchte mehrere. – O Emilie, beten Sie für mich! – Mein Herz hat Ahndungen; ich will keine Gefälligkeit, keine Bemühung versäumen, meinem Gemahl angenehm zu sein; aber ich werde oft ausweichen müssen; wenn ich nur meinen Charakter und meine Grundsätze nicht aufopfern muß! – –

Ich wählte ihn, ich übergab ihm mein Wohl, meinen Ruhm, mein Leben; ich bin ihm mehr Ergebenheit und mehr Dank schuldig, als ich meinem Gemahl unter andern Umständen schuldig wäre.

O wenn ich einst in England in meinem eignen Hause bin und Mylord in Geschäften sein wird, die dem Stolz seines Geistes angemessen sind: dann wird, hoffe ich, sein wallendes Blut im ruhigen Schoße seiner Familie sanfter fließen lernen, sein Stolz in edle Würde sich verwandeln und seine Hastigkeit tugendhafter Eifer für rühmliche Taten werden. Diesen Mut werd' ich unterhalten, und, da ich nicht so glücklich war, eine Griechin der alten Zeiten zu sein, mich bemühen, wenigstens eine der besten Engländerinnen zu werden.[186]


Mylord Derby an seinen Freund

Verwünscht seist du mit deinen Vorhersagungen; was hattest du sie in meine Liebesgeschichte zu mengen? Meine Bezauberung würde nicht lange dauern, sagtest du! Wie, zum Henker, konnte dein Dummkopf dieses in Paris sehen und ich hier so ganz verblendet sein? – Aber Kerl, du hast doch nicht ganz recht! Du sprachst von Sättigung; diese hab' ich nicht und kann sie nicht haben, weil mir noch viel von der Idee des Genusses fehlt; und dennoch kann ich sie nicht mehr sehen! – Meine Sternheim, meine eigene Lady nicht mehr sehen! Sie, die ich fünf Monate lang bis zum Unsinn liebte! Aber ihr Verhängnis hat mein Vergnügen und ihre Gesinnungen gegeneinander gestellt; mein Herz wankte zwischen beiden; sie hat die Macht der Gewohnheit mißkannt; sie hat die feurigen Umarmungen ihres Liebhabers bloß mit der matten Zärtlichkeit einer frostigen Ehefrau erwidert; kalte – mit Seufzen unterbrochene Küsse gab sie mir, sie, die so lebhaft mitleidend, sie, die so geschäftig, so brennend eifrig für Ideen, für Hirngespenster sein kann! Wie süß, wie anfesselnd hab' ich mir ihre Liebe und ihren Besitz vorgestellt! wie begierig war ich auf die Stunde, die mich zu ihr führte! Pferde, Postknechte und Bedienten hätte ich der Geschwindigkeit meiner Reise aufopfern wollen. Stolz auf ihre Eroberung, sah ich den Fürsten und seine Helfer mit Verachtung an. Mein Herz, mein Puls klopften vor Freude, als ich das Dorf erblickte, wo sie war, und beinah hätt' ich aus Ungeduld meine Pistole auf den Kerl losgefeuert, der meine Chaise nicht gleich aufmachen konnte. In fünf Schritten war ich die Treppe hinauf. Sie stund oben in englischer Kleidung, weiß, schön, majestätisch sah sie aus; mit Entzückung schloß ich sie in meine Arme. Sie bewillkommte mich stammelnd; wurde bald rot, bald blaß. Ihre Niedergeschlagenheit hätte mich glücklich gemacht, wenn sie nur einmal die Miene des Schmachtens der Liebe gehabt hatte; aber alle ihre Züge waren allein mit Angst und Zwang bezeichnet. Ich ging mich umzukleiden, kam bald wieder und sah durch eine Türe sie auf der Bank sitzen, ihre beiden Arme um den Vorhang des Fensters geschlungen,[187] alle Muskeln angestrengt, ihre Augen in die Höhe gehoben, ihre schöne Brust von starkem tiefen Atemholen langsam bewegt; kurz, das Bild der stummen Verzweiflung! Sage, was für Eindrücke mußte das auf mich machen? Was sollt' ich davon denken? Meine Ankunft konnte ihr neue, unbekannte Erwartungen geben; etwas bange mochte ihr werden; aber wenn sie Liebe für mich gehabt hätte, war wohl dieser starke Kampf natürlich? Schmerz und Zorn bemächtigten sich meiner; ich trat hinein; sie fuhr zusammen und ließ ihre Arme und ihren Kopf sinken; ich warf mich zu ihren Füßen und faßte ihre Knie mit starren bebenden Händen.

»Lächeln Sie, Lady Sophie, lächeln Sie, wenn Sie mich nicht unsinnig machen wollen« – schrie ich ihr zu.

Ein Strom von Tränen floß aus ihren Augen. Meine Wut vergrößerte sich, aber sie legte ihre Arme um meinen Hals und lehnte ihren schönen Kopf auf meine Stirne.

»Teurer Lord, o sein Sie nicht böse, wenn Sie mich noch empfindlich für meine unglückliche Umstände sehen; ich hoffe, durch Ihre Güte alles zu vergessen.«

Ihr Hauch, die Bewegung ihrer Lippen, die ich, indem ich redte, auf meiner Wange fühlte, einige Zähren, die auf mein Gesicht fielen, löschten meinen Zorn und gaben mir die zärtlichste, die glücklichste Empfindung, die ich in dreien Wochen mit ihr genoß. Ich umarmte, ich beruhigte sie, und sie gab sich Mühe, den übrigen Abend und beim Speisen zu lächeln. Manchmal deckte sie mir mit allem Zauber der jungfräulichen Schamhaftigkeit die Augen zu, wenn ihr meine Blicke zu glühend schienen.

Reizende Kreatur, warum bliebst du nicht so gesinnt? warum zeigtest du mir deine sympathetische Neigung zu Seymour?

Die übrigen Tage suchte ich munter zu sein. Ich hatte ihr eine Laute mitgebracht, und sie war gefällig genug, mir ein artiges welsches Liedchen zu singen, welches sie selbst gemacht hatte und worin sie die Venus um ihren Gürtel bat, um das Herz, so sie liebte, auf ewig damit an sich zu ziehen. Die Gedanken waren schön und fein ausgedrückt, die Melodie rührend und ihre Stimme so voll Affekt, daß ich ihr mit der süßesten[188] und stärksten Leidenschaft zuhörte. Aber mein schöner Traum verflog durch die Beobachtung, daß sie bei den zärtlichsten Stellen, die sie am besten sang, nicht mich, sondern mit hängendem Kopfe die Erde ansah und Seufzer ausstieß, welche gewiß nicht mich zum Gegenstande hatten. Ich fragte sie am Ende, ob sie dieses Lied heute zum ersten Male gesungen? Nein, sagte sie errötend; dieses veranlaßte noch einige Fragen über die Zeit, da sie angefangen hätte, gut für mich zu denken, und über ihre Gesinnungen für Seymour. Aber verdammt sei die Freimütigkeit, mit welcher sie mir antwortete; denn damit hat sie alle Knoten losgemacht, die mich an sie banden. Hundert Kleinigkeiten, und selbst die Mühe, die es sie kostete, zärtlich und fröhlich zu sein, überzeugten mich, daß sie mich nicht liebte. Ein wenig Achtung für meinen Witz und für meine Freigebigkeit, die Freude, nach England zu kommen und kalter Dank, daß ich sie von ihren Verwandten und dem Fürsten befreit hatte: dies war alles, was sie für mich empfand, alles, was sie in meine Arme brachte! Ja, sie war unvorsichtig genug, mir auf meine verliebte Bitte, die Eigenschaften zu nennen, die sie am meisten an mir lieben würde – nichts anders als ein Gemälde von Seymour vorzuzeichnen; und immer betrieb sie unsere Reise nach Florenz; deutliches Anzeigen, daß sie nicht für das Glück meiner Liebe, sondern für die Befriedigung ihres Ehrgeizes bedacht war! denn sie vergiftete alle Tage ihres Besitzes durch diese Erinnerung, welcher sie alle mögliche Wendungen gab, sogar, daß sie mich versicherte, sie würde mich erst in Florenz lieben können. Sie vergiftete, sagt' ich dir, mein Glück, aber auch zugleich mein Herz, welches närrisch genug war, sich zuweilen meine falsche Heurat gereuen zu lassen, und sehr oft ihre Partie wider mich ergriff. In der dritten Woche fraß das Übel um sich. Ich hatte ihr englische Schriften gegeben, die mit den feurigsten und lebendigsten Gemälden der Wollust angefüllt waren. Ich hoffte, daß einige Funken davon die entzündbare Seite ihrer Einbildungskraft treffen sollten; aber ihre widersinnige Tugend verbrannte meine Bücher, ohne ihr mehr zu erlauben, als sie durchzublättern und zu verdammen. Der Verlust der Bücher und meiner Hoffnung brachte einen kleinen Ausfall von Unmut[189] hervor, den sie mit gelassener Tapferkeit aushielt. Zween Tage hernach kam ich an ihren Nachttisch, just wie ihre schönen Haare gekämmt wurden; ihre Kleidung war von weißem Musselin mit rotem Taft, nett an den Leib angepaßt, dessen ganze Bildung das vollkommenste Ebenmaß der griechischen Schönheit ist; wie reizend sie aussah! Ich nahm ihre Locken und wand sie unter ihrem rechten Arme um ihre Hüften. Miltons Bild der Eva kam mir in den Sinn. Ich schickte ihr Kammermensch weg und bat sie, sich auf einen Augenblick zu entkleiden, um mich so glücklich zu machen, in ihr den Abdruck des ersten Meisterstücks der Natur zu bewundern.15 Schamröte überzog ihr ganzes Gesicht; aber sie versagte mir meine Bitte geradezu; ich drang in sie, und sie sträubte sich so lange, bis Ungeduld und Begierde mir eingaben, ihre Kleidung vom Hals an durchzureißen, um auch wider ihren Willen zu meinem Endzweck zu gelangen. Solltest du glauben, wie sie sich bei einer in unsern Umständen so wenig bedeutenden Freiheit gebärdete? – »Mylord«, rief sie aus, »Sie zerreißen mein Herz und meine Liebe für Sie; niemals werd' ich Ihnen diesen Mangel feiner Empfindungen vergeben! O Gott, wie verblendet war ich!« – Bittere Tränen und heftiges Zurückstoßen meiner Arme begleiteten diese Ausrufungen. Ich sagte ihr trocken: ich wäre sicher, daß sie dem Lord Seymour diese Unempfindlichkeit für sein Vergnügen nicht gezeigt haben würde. »Und ich bin sicher«, sagte sie im hohen tragischen Ton, »daß Mylord Seymour mich einer edlern und feinern Liebe wert gehalten hätte.«

Hast du jemals die Narrenkappe einer sonderbaren Tugend mit wunderlichern Schell behangen gesehen, als daß ein Weib ihre vollkommenste Reize nicht gesehen, nicht bewundert haben will? Und wie albern eigensinnig war der Unterschied, den sie zwischen meinen Augen und meinem Gefühl machte?

Ich wollt' es nachmittags von ihr selbst erklärt wissen, aber sie konnte mit allem Nachsinnen nichts anders sagen, als daß sie bei Entdeckung der besten moralischen Eigenschaften ihrer[190] Seele die nämliche Widerstrebung äußern würde, ungeachtet sie mir gestund, daß sie mit Vergnügen bemerkte, wenn man von ihrem Geist und von ihrer Figur vorteilhaft urteile; dennoch wolle sie lieber dieses Vergnügen entbehren, als es durch ihre eigene Bemühung erlangen.16 Denkst du wohl, daß ich mit diesem verkehrten Kopfe vergnügt sollte leben können? Dieses Gemische von Verstand und Narrheit hat ihr ganzes Wesen durchdrungen und gießt Trägheit und Unlust über alle Bewegungen meiner muntern Fibern aus. Sie ist nicht mehr die Kreatur, die ich liebte; ich bin also auch nicht mehr verbunden, das zu bleiben, was ich ihr damals zu sein schien. – Sie selbst hat mir den Weg gebahnt, auf welchem ich ihren Fesseln entfliehen werde. Der Tod meines Bruders stimmt ohnehin die Saiten meiner Leier auf einen andern Ton; ich muß vielleicht bald nach England zurücke, und dann kann Seymour sein Glücke bei meiner Witwe versuchen; denn ich denke, sie wird's bald sein; und bloß ihrem eigenen Betragen wird sie dies zu danken haben. Da sie sich für meine Ehefrau hält, war es nicht ihre Pflicht, sich in allem nach meinem Sinne zu schicken? Hat sie diese Pflicht nicht gänzlich aus den Augen gesetzt? Liebt sie nicht sogar einen andern? Und ist es also nicht billig und recht, daß der Betrug, den ihr Ehrgeiz an mir begangen, auch durch mich an ihrem Ehrgeiz gerächet werde? Freudig seh ich um mich her, wenn ich bedenke, daß ich das auserwählte Werkzeug war, durch welches die Niederträchtigkeit ihres Oheims, die Lüsternheit des Fürsten und die Dummheit der übrigen Helfer gestraft wurde! Es ist ja ein angenommener Lehrsatz, daß die Vorsicht sich der Bösewichter bediene, um die Vergehungen der Frommen zu ahnden. Ich war also nichts als die Maschine, durch welche das Weglaufen der Sternheim gebüßt[191] werden sollte; dazu wurde mir auch das nötige Pfund von Gaben und Geschicklichkeit gegeben. Meine Belohnung hab' ich genossen. Sie mögen sich nun samt und sonders ihre erhaltne Züchtigung zunutz machen!

Wisse übrigens, daß ich wirklich der Vertraute von Seymourn geworden bin. Auf einem Dorfe saß er und beheulte den Verlust der Tugend des Mädchens, während, daß ich es in aller Stille auf der andern Seite unter Dach brachte und ihn belachte. Er wollte von mir wissen, wer wohl der Gemahl, mit dem sie, nach ihrem Briefe, entflohen wäre, sein könnte? Er hat Kuriere nach Florenz abgeschickt; aber ich hab' ein Mittel gefunden, seinen Nachspürungen Einhalt zu tun, da ich in dem letzten Billett, das mir die Sternheim nach D. geschrieben hatte, alle Worte abriß, die mich hätten verraten können, und das übrige Stück unter die Papiere des Sekretärs John warf, über dessen Ausbleiben man stutzig wurde und sein Zimmer auf mein Anraten aussuchte. Bei diesem Stück Papier wurden dann die Vermutungen auf ihn festgesetzt und er für den Erlöser erklärt, den sich das feine Mädchen erwählt habe. Eine Sache, die man als den Beweis ansah, daß lauter bürgerliche Begriffe und Neigungen in ihrer Seele herrschen; und ein Text, worüber nun die adeligen Mütter ihren Töchtern gegen die Heuraten außer Stand Jahre lang predigen werden. Seymours Liebe versinkt in Unmut und Verachtung; er nennt ihren Namen nicht mehr und schickt keine Kuriere mehr fort, – ich aber erwarte einen aus England, und dann wirst du erfahren, ob ich zu dir komme oder nicht.


Rosina an ihre Schwester Emilia

O meine Schwester, wie soll ich dir den entsetzlichen Jammer beschreiben, der über unser geliebtes Fräulein gekommen ist! – Lord Derby! Gott wird ihn strafen und muß ihn strafen! der abscheuliche Mann! er hat sie verlassen und ist allein nach England gereist. Seine Heurat war falsch; ein gottloser Bedienter, wie sein Herr, in einen Geistlichen verkleidet, verrichtete die Trauung. Ach, meine Hände zittern, es zu schreiben; der[192] schändliche Bösewicht kam selbst mit dem Abschiedsbriefe, damit uns sein Gesicht keinen Zweifel an unserm Unglück übriglassen sollte. Der Lord sagt: die Dame hätte ihn nicht geliebt, sondern nur immer Mylord Seymourn im Herzen gehabt; dieses hätte seine Liebe ausgelöscht, sonst wäre er unverändert geblieben. Der ruchlose Mensch! Ewiger Gott! Ich, ich habe auch zu der Heurat geholfen! Wär' ich nur zum Lord Seymour gegangen! ach wir waren beide verblendet – ich darf unsere Dame nicht ansehen; das Herz bricht mir; sie ißt nichts; sie ist den ganzen Tag auf den Knien vor einem Stuhl, da hat sie ihren Kopf liegen; unbeweglich, außer daß sie manchmal ihre Arme gen Himmel streckt und mit einer sterbenden Stimme ruft: »ach Gott, ach mein Gott!«

Sie weint wenig und nur seit heute; die ersten zween Tage fürchtete ich, wir würden beide den Verstand verlieren, und es ist ein Wunder von Gott, daß es nicht geschehen ist.

Zwo Wochen hörten wir nichts vom Lord; sein Kerl reiste weg, und fünf Tage darnach kam der Brief, der uns so unglücklich machte. Der verfluchte Bösewicht gab ihn ihr selbst. Blaß und starr wurde sie; endlich, ohne ein Wort zu sagen, zerriß sie mit der größten Heftigkeit seinen Brief, und noch ein Papier, warf die Stücke zu Boden, deutete mit einer Hand darauf, und mit einem erbärmlichen Ausdruck von Schmerzen sagte sie dem Kerl: »geh, geh«; zugleich aber fiel sie auf ihre Knie, faltete ihre Hände und blieb über zwo Stunden stumm und wie halb tot liegen. Was ich ausstund, kann ich dir nicht sagen; Gott weiß es allein! Ich kniete neben sie hin, faßte sie in meine Arme und bat sie so lange mit tausend Tränen, bis sie mir mit gebrochener matter Stimme und stotternd sagte: Derby verlasse sie – ihre Heurat wäre falsch, und sie hätte nichts mehr zu wünschen als den Tod. – Sie will sich nicht rächen; bei dir, liebste Schwester, will sie sich verbergen. Übermorgen reisen wir ab; ach, Gott sei uns gnädig auf unserer Reise! Du mußt sie aufnehmen; dein Mann wird es auch tun und ihr raten. Wir nehmen nichts mit, was vom Lord da ist. Seinen Wechselbrief von sechshundert Carolinen hat sie zerrissen. All ihr Geld beläuft sich auf dreihundert; davon gibt sie den zwoen Mädchen noch funfzig und den andern Armen noch funfzig. Ihr[193] Schmuck und ein Coffre mit Kleidern ist alles, was wir mitbringen. Du wirst uns nicht mehr kennen, so elend sehen wir aus. Sie spricht mit niemand mehr, der Bruder von den zwoen Mädchen führt uns den halben Weg zu dir. Wir suchen Trost bei dir, liebe Schwester! Sie möchte dir selbst schreiben und kann kaum die lieben wohltätigen Hände bewegen. Ich darf nicht nachdenken, wie gut sie gegen alle Menschen war, und nun muß sie so unglücklich sein! Aber Gott muß und wird sich ihrer annehmen.


Fräulein von Sternheim an Emilien

O meine Emilia, wenn aus diesem Abgrunde von Elend die Stimme Ihrer Jugendfreundin noch zu Ihrem Herzen dringt, so reichen Sie mir Ihre liebreiche Hand; lassen Sie mich an Ihrer Brust meinen Kummer und mein Leben ausweinen. O wie hart, wie grausam werde ich für den Schritt meiner Entweichung bestraft! O Vorsicht –

Ach! ich will nicht mit meinem Schicksal rechten. Das erstemal in meinem Leben erlaube ich mir einen Gedanken von Rache, von heimlicher List; muß ich es nicht als eine billige Bestrafung annehmen, daß ich in die Hände der Bosheit und des Betrugs gefallen bin? Warum glaubte ich dem Schein? – aber, o Gott! wo, wo soll ein Herz wie dies, das du mir gabst, wo soll es den Gedanken hernehmen, bei einer edeln, bei einer guten Handlung böse Grundsätze zu argwohnen!

Eigenliebe, du machtest mich elend; du hießest mich glauben, Derby würde durch mich die Tugend lieben lernen! – Er sagt: er hätte nur meine Hand, ich aber sein Herz betrogen. Grausamer, grausamer Mann! was für einen Gebrauch machst du von der Aufrichtigkeit meines Herzens, das so redlich bemüht war, dir die zärtlichste Liebe und Achtung zu zeigen! du glaubst nicht an die Tugend, sonst würdest du sie in meiner Seele gesucht und gefunden haben.

Wahr ist es, meine Emilia, ich hatte Augenblicke, wo ich meine Befreiung von den Händen des Mylord Seymour zu erhalten gewünscht hätte; aber ich riß den Wunsch aus meinem[194] Herzen; Dankbarkeit und Hochachtung erfüllten es für den Mann, den ich zu meinem Gemahl nahm – tötender Name, wie konnte ich dich schreiben – aber mein Kopf, meine Empfindungen sind verwüstet, wie es mein Glück, mein Ruhm und meine Freude sind. Ich bin in den Staub erniedriget; auf der Erde liege ich und bitte Gott, mich nur so lange zu erhalten, bis ich bei Ihnen bin und den Trost genieße, daß Sie die Unschuld meines Herzens sehen und eine mitleidige Träne über mich weinen. Alsdann, o Schicksal, dann nimm es, dieses Leben, welches mit keinem Laster beschmutzt, aber seit vier Tagen durch deine Zulassung so elend ist, daß es ohne die Hoffnung eines baldigen Endes unerträglich wäre.


Derby an seinen Freund

Ich reise nach England und komme vorher zu dir. Sage mir nichts von meiner letzten Liebe; ich will nicht mehr daran denken; es ist genug an der unruhigen Erinnerung, die sich mir wider meinen Willen aufdringt. Meine halbe Lady ist fort aus dem Dorfe, wo ihrem abenteuerlichen Charakter ein abenteuerliches Schicksal zugemessen wurde; mit stolzem Zorn ist sie fort; meinen Wechselbrief zerriß sie in tausend Stücke und alle meine Geschenke hat sie zurückgelassen. Ich hätte sie bald deswegen wieder eingeholt, aber wenn sie mir meine Streiche vergeben könnte, so würde ich sie verachten. Lieben kann sie mich nach allem diesem unmöglich, und ich hätte nicht mehr glücklich mit ihr sein können; wozu würde also die Verlängerung meiner Rolle gedient haben? Sie muß doch immer meine Wahrheitsliebe verehren und meine Kenntnisse der geheimsten Triebfedern unsrer Seele bewundern. Ich verließ sie, unschlüssig, was ich mit ihr und meinem Bündnis machen sollte; aber ihre unaufhörliche Anfoderung, sie nach Florenz zu führen, und die Drohung, auch ohne mich abzureisen, brachte mich dahin, ihr ganz trocken zu schreiben:

Ich sehe wohl, daß sie sich meiner Liebe nur bedient habe, um ihren Oheim Löbau zu entgehen und ihren Ehrgeiz in Sicherheit zu setzen, daß sie das Glück meiner Liebe und meines Herzens niemals in Betrachtung gezogen, indem sie mir nicht[195] den geringsten Zug meines eigenen Charakters zugut gehalten und mich nur dann geachtet habe, wenn ich mich nach ihren Phantasien gebogen und meine Begriffe mit ihren Grillen geputzt; es sei mir unmöglich, dem Gemälde gleich zu werden, welches sie mir von den beliebten Eigenschaften ihre Mannes vorgezeichnet, indem ich nicht Seymour wäre, für welchen allein sie die zärtliche Leidenschaft nährte, die ich von ihr zu verdienen gewünscht hätte; ihre Bestürzung, wenn ich ihn genennt, ihre Sorgsamkeit, nicht von ihm zu reden, ja selbst die Liebkosungen, die sie mir zu Vertilgung meines Argwohns gemacht – wären lauter Bekräftigungen der Fortdauer ihrer Neigung zu Seymour. Sie wäre die erste, welche mich zu dem Entschlusse mich zu vermählen gebracht hätte; dennoch aber hatt' ich noch so viel Vorsichtigkeit übrig behalten, mich zuvor ihrer ganzen Gesinnungen versichern zu wollen; hierzu hätte mir die Maske des Priesterrocks, den einer meiner Leute angezogen, die Gelegenheit verschafft. Meine Liebe und Ehre würde dadurch ebenso fest gebunden gewesen sein als durch die Trauung, und wenn sie der Primas von England oder der Papst selbst verrichtet hatte; aber da die Vereinigung unserer Gemüter als das erste Hauptstück fehlte, so wäre es gut, daß wir uns ohne Zeugen und Gepränge trennten, wie wir uns verbunden hätten, weil ich nicht niederträchtig genug sei, mich mit dem bloßen Besitz ihrer reizenden Person zu vergnügen, ohne Anteil an ihrem Herzen zu haben, und nicht einfältig genug, um sie für den Lord Seymour nach England zu führen; sie hätte nicht Ursache, über mich zu klagen, denn ich wäre es, der sie den Verfolgungen des Fürsten und der Gewalt ihres Oncles entrissen; ich hätte nur ihre Hand, sie aber, weil sie die Liebe nicht für mich gefühlt habe, welcher sie mich versichert, hatte mein Herz betrogen; und nun schenke ich ihr ihre volle Freiheit wieder.

Ich schickte den Kerl ab und ging nach B., bei meiner Tänzerin ein ohnfehlbares Mittel gegen alle Gattungen von unruhigen Gedanken zu suchen; auch gab sie mir einen guten Teil meiner Munterkeit wieder.

Mein Bruder könnte zu keiner gelegnern Zeit gestorben sein als itzt. Meine Gelder wurden seltner geschickt, und dieser närrische[196] Roman war ein wenig kostbar; doch, sie verdiente alles. Hätte sie mich nur geliebt und ihre Schwärmerei abgeschworen! – Ich war närrisch genug, mich meinen Brief gereuen zu lassen, und ließ vor zween Tagen nach ihr fragen; aber weg war sie; und alles wohl erwogen, hat sie recht daran getan; wir können und sollen uns nicht mehr sehen. Ihre Briefe, ihr Bildnis hab' ich zerrissen, wie sie meinen Wechsel; aber D., wo alles von ihr spricht, wo mich alles an sie erinnert, ist mir unerträglich. Halte mir eine lustige Bekanntschaft zurechte, wie sie für einen englischen Erben gehört, um meine wiedererhaltene Portion Freiheit mit ihr zu verzehren. Denn mein Vater wird mir das Joch über den Hals werfen, sobald ich ihm nahe genug dazu sein werde. Er kann mir geben, welche er will; keine Liebe bring ich ihr nicht zu. Das wenige, was von meinem Herzen noch übrig war, hat mein deutsches Landmädchen aufgezehrt; – der Platz ist nun völlig leer, ich fühle es; hier und da schwärmen noch einige verirrte Lebensgeister herum, und wenn ich ihnen glaube, so flüsterten sie mir was von dem Bilde meiner vierzigtägigen Gemahlin zu, deren Schatten noch darin herumwandern soll; aber ich achte nicht auf dieses Gesumse. Meine Vernunft und die Umstände reden meinem ausgeführten Plan das Wort; und am Ende ist es doch nichts anders als die Gewohnheit, die mir ihr Bild in D. zurückruft, wo ich sie in allen Gesellschaften zu sehen pflegte und immer von ihr reden höre. – Aber bei dem allen schwör' ich dir, nimmermehr soll eine Metaphysikerin, noch eine Moralistin meine Geliebte werden. Ehrgeiz und Wollust allein haben Leute in ihren Diensten, die Unternehmungen wagen und ausführen helfen! auch sind dieses die einzigen Gottheiten, die ich künftig verehren will; jener, weil ich von ihm so viel Ansehen und Gewalt zu erlangen hoffe, um alle Gattungen des Vergnügens in meinen Schutz zu nehmen und zu verteidigen, bis ich einst die liebenswürdigste davon bei einer Parlamentswahl ersaufe oder bei einem Pferderennen den Kopf zerquetsche. Ha, siehst du, wie schön die gewöhnlichen Lordseigenschaften in mir erwacht sind; erst durch alle seine Ranke ein artiges Mädchen an mich gezogen und sie denen entrissen, durch welche sie glücklich geworden wäre; unsinnige Verschwendungen gemacht, und wenn man alles[197] dessen satt ist, den Ton eines Patrioten bei Wetterennen und Wahlen angenommen und der Zeit überlassen, was nach diesen verschiedenen Aufgärungen in dem Faß Nützliches übrig bleiben mag. –


*


Hier, meine Freundin, muß ich selbst wieder das Wort nehmen und Ihnen von dem, was auf die unglückliche Veränderung in dem Schicksal meiner geliebten Dame gefolget ist, eine zusammenhangende Geschichte zu liefern.

Das Haus meiner Schwester war itzt der einzige Ort, wohin wir in diesen Umständen Zuflucht nehmen konnten. Man durfte ihr weder von Rache, noch von Behauptung ihrer Rechte sprechen; und der Gedanke, auf ihre Güter zu gehen, war in diesen Umständen auch nicht zu fassen. Ihr Kummer war so groß, daß sie hoffte, er würde sie töten; ich glaube auch, daß es geschehen wäre, wenn wir uns langer in dem Hause aufgehalten hätten, wo die unglückliche Heurat vollzogen worden war. Da ich bei den Zurüstungen auf unsre Abreise ein paarmal die Türe des Wohnzimmers von Lord Derby öffnete und sie einen Blick hinwarf, glaubte ich, ihr Schmerz würde sie auf der Stelle ersticken. Sie blieb mit dem äußersten Jammer beladen in meinem Zimmer, während daß ich einpacken mußte. Aber alle Geschenke von Lord Derby, welche sehr schön und in großer Menge da waren, mußte ich der Wirtin übergeben. Wir nahmen nichts als das wenige zusammen, so wir von unsrer Flucht aus D. mitgebracht hatten. Die Wirtin, welche auf einen Monat vorausbezahlt war, wollte uns noch behalten; aber wir reisten den zweiten Tag, von ihrem Segen für uns und Flüchen über den gottlosen Lord begleitet, morgens um vier Uhr ab.

Still und blaß wie der Tod, die Augen zur Erde geschlagen, saß meine liebe Dame bei mir; kein Wort, keine Träne erleichterte ihr beklemmtes Herz; zween Tage reisten wir durch herrliche Landschaften, ohne daß sie auf etwas achtete; nur manchmal umfaßte sie mich mit einer heftigen gichterischen Bewegung und legte ihren Kopf einige Augenblicke auf meine Brust. Ich wurde immer ängstiger und weinte mit lauter Stimme; darüber[198] sah sie mich rührend an und sagte mit ihrem himmlischen Ton, indem sie mich an sich drückte:

»O meine Rosina, dein Kummer zeigt mir erst den ganzen Umfang meines Elends. Sonst lächeltest du, wenn du mich sahst, und nun betrübt mein Anblick dein Herz! O, laß mich nicht denken, daß ich auch dich unglücklich gemacht habe! sei ruhig, du siehst ja mich ganz gelassen.«

Ich war froh, sie wieder so viel reden zu hören und einige Zähren aus ihren erstorbnen Augen fallen zu sehen. Ich antwortete:

»Ich wollte gerne ruhig sein, wenn ich Sie nicht so niedergeschlagen sähe, und wenn ich nur noch einige Funken der Zufriedenheit bei Ihnen bemerkte, die Sie sonst bei dem Anblick einer schönen Gegend fühlten.«

Sie schwieg einige Minuten und betrachtete den Himmel um uns her; dann sagte sie unter zärtlichem Weinen:

»Es ist wahr, liebe Rosina, ich lebe, als ob mein Unglück alles Gute und Angenehme auf Erden verschlungen hätte; und dennoch liegt die Ursache meines Jammers weder in den Geschöpfen noch in ihrem wohltätigen Urheber. Warum bin ich von der vorgeschriebenen Bahn abgewichen?« –

Sie fing darauf eine Wiederholung ihres Lebens und der merkwürdigsten Umstände ihres Schicksals an. Ich suchte sie mit sich selbst und den Beweggründen ihrer Handlungen, besonders mit den Ursachen ihrer heimlichen Heurat und Flucht aus D., zufriedenzustellen und gewann doch so viel, daß sie bei dem Anblick der vollen Scheuren und dem Gewühle der Herbstgeschäfte in den Dörfern, die wir durchfuhren, vergnügt aussah und sich über das Wohl der Landleute freute. Aber der Anblick junger Mädchen, besonders die in einerlei Alter mit ihr zu sein schienen, brachte sie in ihre vorige Traurigkeit, und sie bat Gott mit gefalteten Händen, daß er ja jede reine wohldenkende Seele ihres Geschlechts vor dem Kummer bewahren möge, der ihr zärtliches Herz durchnage.

Unter diesen Abwechslungen kamen wir glücklich in Vaels an. Mein Schwager und meine Schwester empfingen uns mit allem Trost der tugendhaften Freundschaft und suchten meine liebe Dame zu beruhigen; aber am fünften Tage wurde sie[199] krank, und zwölf Tage lang dachten wir nichts anders, als daß sie sterben würde. Sie schrieb auch einen kleinen Auszug ihres Verhängnisses und ein Testament. Aber sie erholte sich wider ihr Wünschen; und als sie wieder aufsein konnte, setzte sie sich in die Kinderstube meiner Emilia und lehrte ihr kleines Patchen lesen; diese Beschäftigung und der Umgang mit meinem Schwager und meiner Schwester beruhigten sie augenscheinlich; so daß mein Schwager es einmal wagte, sie über ihre Entschließungen und Entwürfe für die Zukunft zu befragen. Sie sagte:

Sie hätte noch nichts bedacht, als daß sie auf ihren Gütern ihr Leben beschließen wollte; aber bis zu Ende der drei Jahre, für welche sie dem Graf Löbau ihre Einkünfte versichert hätte, wollte sie nichts von sich wissen lassen; – und wir mußten ihrem eifrigen Anhalten hierin nachgeben. Sie nahm eine fremde Benennung an; sie wollte in Beziehung auf ihr Schicksal Madam Leidens heißen und als eine junge Offizierswitwe bei uns wohnen. Sie verkaufte die schönen Brillanten, welche die Bildnisse ihres Herrn Vaters und ihrer Frau Mutter umfasseten, und entschloß sich, auch den übrigen Teil ihres Schmucks zu Geld zu machen und von den Zinsen zu leben; daneben aber wollte sie Gutes tun und einige arme Mädchen im Arbeiten unterrichten.

Dieser Gedanke wurde nachher die Grundlage zu dem übrigen Teil ihres Schicksals. Denn eines dieser Mädchen, welches von einer der reichsten Frauen in der Gegend aus der Taufe gehoben worden, ging zu ihrer Pate, um ihr etwas von der erlernten Arbeit zu weisen. Diese Frau fragte nach der Lehrmeisterin und drang hernach in meinen Schwager, daß er die Madam Leidens zu ihr bringen möchte, um eine wohltätige Schule in ihrem Hause zu errichten und als Gesellschafterin bei ihr zu leben. Meine Dame wollte es anfangs nicht eingehen, indem sie fürchtete, zuviel bekannt zu werden; aber mein Schwager stellte ihr so eifrig vor, daß sie eine Gelegenheit versäume, viel Gutes zu tun, daß er sie endlich überredte, zumal da sie dadurch das Haus ihrer Emilia zu erleichtern glaubte, wo sie befürchtete, Beschwerden zu machen, ohngeachtet sie Kostgeld bezahlte.[200]

Sie kleidete sich bloß in streifige Leinwand, zu Leibkleidern gemacht, mit großen weißen Schürzen und Halstüchern, weil ihr noch immer etwas Engländisches im Sinne lag; ihre schöne Haare und Gesichtsbildung versteckte sie in außerordentliche große Hauben; sie wollte sich damit verstellen, aber ihre schöne Augen, das Lächeln der edlen Güte, so unter den Zügen des innerlichen Grams hervorleuchtete, ihre feine Gestalt und Stellung und der artigste Gang zogen alle Augen nach sich, und Madam Hills war stolz auf ihre Gesellschaft. Ihre Abreise schmerzte uns, denn der Wohnort von Madam Hills war drei Stunden entfernt; aber ihre Briefe trösteten uns wieder. Auch Sie werden sie gewiß lieber lesen als mein Geschmier.


Fräulein von Sternheim als Madam Leidens an Emilia

Erst den zehnten Tag meines Hierseins schreibe ich Ihnen, meine schwesterliche Freundin! bisher konnte ich nicht; meine Empfindungen waren zu stark und zu wallend, um den langsamen Gang meiner Feder zu ertragen. Nun haben mir Gewohnheit und zween heitere Morgen, und die Aussicht in die schönste und freieste Gegend, das Maß von Ruhe wiedergegeben, das nötig war, um mich ohne Schwindel und Beängstigung die Stufen betrachten zu lassen, durch welche mein Schicksal mich von der Höhe des Ansehens und Vorzugs heruntergeführt hat. Meine zärtlichsten Tränen flossen bei der Erinnerung meiner Jugend und Erziehung; Schauer überfiel mich bei dem Gedanken an den Tag, der mich nach D. brachte, und ich eilte mit geschlossenen Augen bei der folgenden Szene vorüber. Nur bei dem Zeitpunkte meiner Ankunft in Ihrem Hause verweilte ich mit Rührung; denn nachdem mir das Verhängnis alles geraubt hatte, so war ich um so viel aufmerksamer auf den Zufluchtsort, den ich mir gewählt hatte, und auf die Aufnahme, die ich da fand. Zärtliches Mitleiden war in dem Gesichte meiner treuen Emilia, Ehrfurcht und Freundschaft in dem von ihrem Manne gezeichnet; ich sah, daß sie mich unschuldig glaubten und mein Herz bedauerten. Ich konnte sie als Zeugen[201] meiner Unschuld und Tugend ansehen. O, wie erquickend war dieser Gedanke für meine gekränkte Seele! Meine Tränen des ersten Abends waren der Ausdruck des Danks für den Trost, den mich Gott in der treuen Freundschaft meiner Emilia hatte finden lassen. Der zweite Morgen war hart durch die wiederholte Erzählung aller Umstände meiner jammervollen Geschichte. Die Betrachtungen und Vorstellungen Ihres Mannes trösteten mich, noch mehr aber meine Spaziergänge in Ihrem Hause, der armen übelgebauten Hütte, worin mit Ihnen alle Tugenden unsers Geschlechts und mit Ihrem Manne alle Weisheit und Verdienste des seinigen wohnen. Ich aß mit Ihnen, ich sah Sie bei Ihren Kindern; sah die edle Genügsamkeit mit Ihrem kleinen Einkommen, Ihre zärtliche mütterliche Sorgen, die vortreffliche Art, mit der Ihr Mann seine arme Pfarrkinder behandelt. Dieses, meine Emilia, goß den ersten Tropfen des Balsams der Beruhigung in meine Seele. Ich sah Sie, die in ihrem ganzen Leben alle Pflichten der Klugheit und Tugend erfüllet hatten, mit Ihrem Hochachtungswürdigen Manne und fünf Kindern unter der Last eines eisernen Schicksals, ohne daß Ihnen das Glück jemals zugelächelt hätte; Sie ertrugen es mit der rühmlichsten Unterwerfung; und ich! ich sollte fortfahren, über mein selbstgewebtes Elend gegen das Verhängnis zu murren? Eigensinn und Unvorsichtigkeit hatten mich, ungeachtet meiner redlichen Tugendliebe, dem Kummer und der Verächtlichkeit entgegengeführt; ich hatte vieles verloren, vieles gelitten; aber sollte ich deswegen das genossene Glück meiner ersten Jahre vergessen und die vor mir liegende Gelegenheit, Gutes zu tun, mit gleichgültigem Auge betrachten, um mich allein der Empfindlichkeit meiner Eigenliebe zu überlassen? Ich kannte den ganzen Wert alles dessen, was ich verloren hatte; aber meine Krankheit und Betrachtungen zeigten mir, daß ich noch in dem wahren Besitz der wahren Güter unsers Lebens geblieben sei.

Mein Herz ist unschuldig und rein.

Die Kenntnisse meines Geistes sind unvermindert.

Die Kräfte meiner Seele und meine guten Neigungen haben ihr Maß behalten; und ich habe noch das Vermögen, Gutes zu tun.[202]

Meine Erziehung hat mich gelehrt, daß Tugend und Geschicklichkeiten das einzige wahre Glück, und Gutes tun, die einzige wahre Freude eines edlen Herzens sei; das Schicksal aber hat mir den Beweis davon in der Erfahrung gegeben.

Ich war in dem Kreise, der von großen und glänzenden Menschen durchloffen wird; nun bin ich in den versetzt, den mittelmäßiges Ansehen und Vermögen durchwandelt, und grenze ganz nahe an den, wo Niedrigkeit und Armut die Hände sich reichen. Aber so sehr ich nach den gemeinen Begriffen von Glück gesunken bin, so viel Gutes kann ich diesen zween Kreisen ausstreuen.

Meine reiche Frau Hills lass' ich durch meinen Umgang und meine Unterredungen das Glück der Freundschaft und der Kenntnisse genießen. Meinen armen Mädchen gebe ich das Vergnügen, geschickt und wohl unterrichtet zu werden, und zeige ihnen eine angenehme Aussicht in ihre künftigen Tage.

Madam Hills hat mir ein artiges Zimmer, wovon zwei Fenster ins Feld gehen, eingeräumt; von da geh' ich in ihren Saal, der für die Unterrichtsstunden meiner dreizehn Mädchen bestimmt ist. Sie ernährt und kleidet sie, schafft Bücher und Arbeitsvorrat an; nicht eine Stunde versäumt sie und hört meinen Unterricht mit vieler Zufriedenheit; manchmal vergießt sie Tränen oder drückt mir die Hände, und wohl zwanzigmal nickt sie mir den freundlichsten Beifall zu. Sooft es geschieht, fällt ein Strahl von Freude in mein Herz. Es ist angenehm, um sein selbst willen geliebt zu werden! Und nun hab' ich einen Gedanken, Emilia; aber Ihr Mann muß mir ihn ausarbeiten helfen.

Madam Hills hat eine Art von Stolz, aber er ist edel und wohltätig. Sie möchte ihr großes Vermögen zu einer ewig dauernden Stiftung verwenden; aber sie sagt, es müßte eine Stiftung sein, die ganz neu wäre und die ihr Ehre und Segen brächte; und sie will, daß ich auf etwas sinne. – – Könnte itzt nicht meine kleine Mädchenschule der Anlaß dazu werden, ein Gesindhaus zu stiften, worin arme Mädchen zu guten und geschickten Dienstmädchen gezogen würden? Ich wollte an meinen dreizehn Schülerinnen die Probe machen und teilte sie nach der Anlage von Geist und Herzen in Klassen.[203]

1. Sanfte, gutherzige Geschöpfe bildete ich zu Kinderwärterinnen;

2. Die Anlage zu Witz und geschickte Finger zur Kammerjungfer;

3. Nachdenkende und fleißige Mädchen zu Köchinnen und Haushälterinnen; und

4. die letzte Klasse von Dienstfähigen zu Haus-, Küchen- und Gartenmägden.

Dazu muß ich nun ein schickliches Haus mit einem Garten haben; einen vernünftigen Geistlichen, der sie die Pflichten ihres Standes kennen und lieben lehrte; und dann wackere und wohldenkende arme Witwen oder betagte ledige Personen, die den verschiedenen Unterricht in Arbeiten besorgten.

Diese Idee beschäftiget mich genug, um dem vergangenen schmerzhaften Teil meines Lebens das meiste meines Nachdenkens zu entziehen und über meinen bittern Kummer den süßen Trost zu streuen, daß ich die Ursache so vieler künftigen Wohltaten werden könnte. Aber hierbei fällt mir ein Gleichnis ein, so ich mit der Eigenliebe machen möchte – daß sie von Polypen – Art sei; man kann ihr alle Zweige und Arme nehmen, ja sogar den Hauptstamm verwunden; sie wird doch Mittel finden, sich in neue Auswüchse zu verbreiten. Wie verwundet, wie gedemütiget war meine Seele! und nun – lesen Sie nur die Blätter meiner Betrachtungen durch und beobachten Sie es, was für schöne Stützen meine schwankende Selbstzufriedenheit gefunden hat und wie ich allmählich zu der Höhe eines großen Entwurfs emporgestiegen bin – o, wenn die wohltätige Nächstenliebe nicht so tiefe Wurzeln in meinem Herzen gefasset hätte, daß sie mit meiner Eigenliebe ganz verwachsen wäre, was würde aus mir geworden sein?


Zweiter Brief von Madam Leidens

Sie sind, liebste Freundin, mit dem Ton meines letzten Briefs besser zufrieden, als Sie es seit meiner Abreise aus D. niemals waren. Darf ich wohl meine Emilia einer Ungerechtigkeit anklagen, weil sie mir von der Veränderung meiner Ideen und[204] Ausdrücke spricht. Ich fühle diese Verschiedenheit selbst; aber ich Ende auch, daß sie eine ganz natürliche Wirkung der großen Abänderung meines Schicksals ist. Zu D. war ich angesehen, mit Glücksaussichten umgeben, und mit mir selbst zufrieden, daher auch geschickter, muntere Beobachtungen über fremde Gegenstände zu machen. Mein Witz spielte frei mit kleinen Beschreibungen und mit Lob und Tadel alles dessen, was mit meinen Ideen stimmte oder nicht. Nach dem wurde ich von Glück und Selbstzufriedenheit entfernt; Tränen und Jammer sind mein Anteil worden. War es da möglich, daß sich die Schwingen meiner Einbildungskraft unbeschränkt und freudig hätten bewegen können, da das Beste, was alle Kräfte meiner Seele tun konnten, gelassene Ertragung meines Schicksals war – eine Tugend, wobei der Geist wenig Geschäftigkeit äußern kann. Ihr Mann kannte mich; er sah, daß er mich gleichsam aus mir selbst herausführen und mir beweisen mußte, daß es noch in meiner Gewalt stehe, Gutes zu tun. Dieser Gedanke allein konnte mich ins tätige Leben zurückführen.

Haben Sie Dank, beste Freunde, daß Sie meinen Entwurf zu einem Gesindhaus so sehr billigen und erheben; es dünkt mich, als ob jemand meiner gebeugten Seele die Hand reiche und sie liebreich ermuntere, sich wieder zu erheben und mit einem edlen Schritte vorwärts zu gehen, da sie von dem kleinen dornichten Pfad, auf welchen sie durch einen blendenden Schein geraten war, nun auf einen ebnen Weg geleitet worden ist, dessen Seiten freilich mit keinen glänzenden Palästen und prächtigen Auftritten der großen Welt umfaßt sind, aber dagegen jedem ihrer Blicke die reinen Reize der unverdorbenen Natur in ihren physischen und moralischen Wirkungen zeiget.

Diese Ermunterung hatte ich nötig, meine Freunde, weil ich schon so lange dachte, daß ich an dem edlen Stolz eines fehlerfreien Lebens keinen Anspruch mehr zu machen habe, indem ich die Hälfte meines widrigen Schicksals meiner eignen Unbedachtsamkeit zuzuschreiben hätte; und die Frucht dieser Betrachtung war Unterwerfung und Geduld. Hätte ich nach den Regeln der Klugheit gehandelt und durch mein heimliches Verbindnis und Fliehn keine Gesetze beleidiget, so hätte ich in der Idee einer übenden Standhaftigkeit und Großmut schon eine[205] Stütze des edlen Stolzes gefunden, welche der Schuldlose ergreift, wenn er durch Bosheit anderer und unvorgesehenes Unglück in dem Genuß seines Vergnügens gestört wird. Er kann seine Beleidiger mit Herzhaftigkeit ansehen oder seinen Blick mit ruhiger Verachtung von ihnen wenden. Er sieht sich nicht nach Freunden, die ihn bedauern, sondern nach Zeugen seines bewundernswürdigen Betragens um; unter diesen Beschäftigungen seines Geistes stärkt sich seine Seele und sammelt ihre Kräfte, um den Berg der Ehre und des Wohlergehens auf einer andern Seite zu ersteigen. Ich aber mußte mich durch die Erinnerung meiner Unvorsichtigkeit in den Schleier der Verborgenheit hüllen, ehe ich mich der neuern Führung meines Geschickes überließ. Dennoch sehe ich blühende Blumen, welche die Hoffnung eines guten Erfolgs, zum Besten vieler Nachkommenden, auf meine nun betretenen Wege ausstreuet; Ruhe und Zufriedenheit lächeln mir zu; die Tugend, hoffe ich, wird mein Flehen erhören und meine beständige Begleiterin sein. Das Glück meines Herzens wird größer und edler, da es Anteil an dem Wohlergehen so vieler anderer nimmt, seine angenehmsten Gewohnheiten und Wünsche vergißt und sein Leben und seine Talente zum Besten seines Nächsten verwendet. Aber bei jedem Schritte meines itzigen Lebens vergrößert sich das Glück meiner genossenen Erziehung, worin mir alles in den richtigen moralischen Gesichtspunkt gestellet wurde. Nach diesem bildete man meine Empfindungen, währenddem mein Verstand zu Beobachtungen über verkehrte Begriffe und dadurch eingewurzelte Gewohnheiten geleitet wurde.

Wie glücklich ist es für mein Herz, daß mir die Wahrheit: daß vor Gott kein anderer als der moralische Unterschied unserer Seelen stattfinde, so tief eingeprägt wurde! Was hätte ich in meinen itzigen Umständen zu leiden, wenn ich mit den gewöhnlichen Vorurteilen meiner Geburt behaftet wäre! Wie verehrungswürdig, wie verdienstvoll ist der kluge Gebrauch, den meine geliebte Eltern von der uns allen angebornen Eigenliebe bei meiner Erziehung machten! Wären kostbare Kleider und Putz jemals ein Teil meiner Glückseligkeit gewesen, wie schmerzhaft wäre mir der Anzug meiner gestreiften Leinwand? Reinlichkeit und wohlausgesuchte Form meiner Kleider lassen[206] meine ganze Weiblichkeit zufrieden vom Spiegel gehen; und was bleibt meiner höchsten Einbildung noch zu wünschen übrig, da ich mich in dieser geringen Kleidung mit Liebe und Ehrfurcht betrachtet sehe und diese Gesinnungen allein dem Ausdruck meines moralischen Charakters zu danken habe?

Ich stehe früh auf, ich lege mich an mein Fenster und sehe, wie getreu die Natur die Pflichten des ihr aufgelegten ewigen Gesetzes der Nutzbarkeit in allen Zeiten und Witterungen des Jahres erfüllt. Der Winter nähert sich; die Blumen sind verschwunden, und auch bei den Strahlen der Sonne hat die Erde kein glänzendes Ansehen mehr; aber einem empfindsamen Herzen gibt auch das leere Feld ein Bild des Vergnügens. Hier wuchs Korn, denkt es, und hebt ein dankbares Auge gen Himmel; der Gemüsgarten, die Obstbäume stehen beraubt da, und der Gedanke des Vorrats von Nahrung, den sie gegeben, mischet unter den Schauer des anfangenden Nordwindes ein warmes Gefühl von Freude. Die Blätter der Obstbäume sind abgefallen, die Wiesen verwelkt, trübe Wolken gießen Regen aus; die Erde wird locker und zu Spaziergängen unbrauchbar; das gedankenlose Geschöpf murret darüber; aber die nachdenkende Seele sieht die erweichende Oberfläche unsers Wohnplatzes mit Rührung an. Dürre Blätter und gelbes Gras werden durch Herbstregen zu einer Nahrung der Fruchtbarkeit unsrer Erde bereitet; diese Betrachtung läßt uns gewiß nicht ohne eine frohe Empfindung über die Vorsorge unsers Schöpfers und gibt uns eine Aussicht auf den nachkommenden Frühling. Mitten unter dem Verlust aller äußerlichen Annehmlichkeiten, ja selbst dem Widerwillen ihrer genährten und ergötzten Kinder ausgesetzt, fängt unsere mütterliche Erde an, in ihrem Innern für das künftige Wohl derselben zu arbeiten. Warum, sag' ich dann, warum ist die moralische Welt ihrer Bestimmung nicht ebenso getreu als die physikalische? Die Frucht der Eiche brachte niemals was anders als einen Eichbaum hervor; der Weinstock allezeit Trauben; warum ein großer Mann kleindenkende Söhne? – warum der nützliche Gelehrte und Künstler unwissende elende Nachkömmlinge? – tugendhafte Eltern Bösewichter? – Ich denke über diese Ungleichheit, und der Zufall zeigt mir eine unzählige Menge Hindernisse, die in der moralischen Welt[207] (so wie es auch öfters in der physikalischen begegnet) Ursache sind, daß der beste Weinstock aus Mangel guter Witterung saure, unbrauchbare Trauben trägt – und vortreffliche Eltern schlechte Kinder erwachsen sehen. Etliche Schritte weiter in meiner Vorstellung stehe ich still, kehre in mich selbst zurück und sage: ist nicht die helle Aussicht meiner glücklichen Tage auch trübe geworden und der äußerliche Schimmer wie vertrocknetes Laub von mir abgefallen? vielleicht hat unser Schicksal auch Jahreszeiten? Ist es, so will ich die Früchte meiner Erziehung und Erfahrung während dem traurigen Winter meines Verhängnisses zu meiner moralischen Nahrung anwenden; und da die Ernte davon so reich war, dem Armen, dessen kleiner, ungebesserter Boden wenig trug, davon mitteilen, was ich kann. Wirklich hab' ich einen Teil guter Samenkörner in eine dritte Hand gelegt, um einen magern, dürren Boden anzubauen. Der sanften Freundschaft ist die Pflege anvertraut, und ich werde acht Tage lang die Oberaufsicht haben. Leben Sie wohl!


Madam Hills an Herrn Prediger Br**

Erschrecken Sie nicht, lieber Herr Prediger, daß Sie anstatt eines Briefes von Madam Leidens einen von mir bekommen. Sie ist nicht krank, gewiß nicht; aber die liebe Frau hat mich auf vierzehn Tage verlassen und wohnt in einem ganz fremden Hause, wo sie viel arbeitet, und – was mir leid tut – auch gar schlecht ißt; hören Sie nur, wie dies zuging! O, ein solcher Engel ist noch nie in eines Reichen, noch in eines Armen Hause gewesen! Ich kann das nicht so sagen, was ich denke, und schreiben kann ich gar nicht. Doch sehen Sie: Ihre Frau weiß, wie arm der Herr G. nach Verlust seines Amts mit Frau und Kindern gewesen ist. Nun, ich gab immer was; aber ich konnte die Leute nicht dulden; jedermann sagte auch, daß er hochmütig und sie nachlässig wäre, und daß alles Gute an ihnen verloren sei. Dies machte mich böse, und ich redte davon mit der Jungfer Lene, der ich auch Hülfe gebe; sie arbeitet aber auch; Madam Leidens war dabei und fragte die Jungfer nach den[208] Leuten; und sie erzählte ihr den ganzen Lebenslauf, weil sie von Kind auf beisammen gewesen waren. Den andern Tag besuchte Madam Leidens die Frau G. und kam sehr gerührt nach Hause. Beim Nachtessen sagte sie mir von den Leuten so viel Bewegliches, daß ich über sie weinte und ihnen so gut wurde, daß ich gleich sagte: ich wollte Eltern und Kinder versorgen. Aber dies wollte sie nicht haben. Den folgenden Morgen aber brachte sie mir dies Papier. Sie müssen mir's wiedergeben, es soll bei meinem Testamente liegen mit meiner Unterschrift und ein Lob auf Madam Leidens von meiner eigenen Hand und noch etwas für Madam Leidens, das ich itzt nicht sage. Sie ging zu ihren Mädchen und ließ mir das Papier. Ich habe mein Tage nichts klüger ausgedacht gesehen. Zween Fische mit einer Angel zu fangen und die Leute klug und geschickt zu machen, nun dies versteht sie recht schön. Ich verwunderte mich und weinte zweimal, weil ich es zweimal durchlesen mußte, um es recht zu fassen. Ich schrieb darunter: alles, alles bewilligt, und gleich auf morgen – aber dies sagte ich ihr mündlich, und ich schrieb es auch auf das Papier, wenn ich's zum Testament lege, daß sie mich nicht ihre Wohltäterin nennen soll. Was gab ich ihr dann? – ein bißchen Essen und ein Zimmerchen. – Aber warten Sie nur, ich will schon was aussinnen; sie soll nicht aus meinem Hause kommen, wie sie meint. Wenn ich nur noch den Bau meines Gesindhauses erlebe; da laß ich ihren Namen zu dem meinigen in Stein hauen, und da heiße ich sie meine angenommene Tochter, und da wird sich jeder wundern, daß sie mein Geld nicht für sich behalten und einen andern hübschen Mann genommen habe, und da lobt man mich und sie zusammen, und dies gönn' ich ihr recht wohl. Sie muß mir auch arme Kinder aus der Taufe heben, damit es Kinder mit ihrem Namen hier gibt, und diese sollen, wie meine Ännchens, vorzüglich in mein Gesindhaus kommen.

Meine Brille machte mich müde; ich konnte heute früh nicht weiterschreiben, und da mir die Zeit nach Madam Leidens lang war, so ging ich schnurgerad hin ins Haus der Frau G. Es reute mich, weil mir die Leute so viel dankten und vielleicht geglaubt haben, ich wäre deswegen gekommen; und es geschah doch bloß, um meine Tochter zu sehen; denn ich[209] sag' Ihnen, wenn sie zurückkömmt, muß sie mich ihre Mutter nennen.

Ich ließ mein Aufwartmädchen die Türe ein wenig aufmachen, und es war gewiß schön in dem Zimmer durch die Leute darin, nicht durch die Möbeln, denn es sind keine schöne da Strohstühlchen und ein Paar Tische. In einer Ecke war der Vater mit dem ältesten Sohne, der bei ihm schrieb und rechnete; im halben Zimmer der andre Tisch; Frau G. strickte; Jungfer Lene saß zwischen den zwo kleinen Mädchen und lehrte sie nähen; Madam Leidens hatte ein Bouquet italienischer Blumen vor sich, die sie für Stühle zum Verkauf abzeichnet. Der jüngere Sohn und die älteste Tochter sahen ihr auf die Finger, und sie redte recht süß und freundlich mit ihnen. Ich mußte über sie weinen und auch über die Kinder, die sie so lieb haben und mir so dankten. Der wilde Mann wurde rot, wie er mir dankte, und die Frau lachte ganz leichtsinnig dabei; das tut aber nichts, ich will ihnen, wie es Madam Leidens veranstaltete, aufhelfen, bis sie ganz auf den Beinen sind; und Jungfer Lene soll den ersten Platz der Lehrmeisterinnen für Kammerjungfern haben. Ich ließ zartes Abendbrot und gutes Obst holen. Sie können nicht glauben, wie die Kinder Freude daran hatten; aber Madam Leidens war nicht damit zufrieden. Sie fürchtet, die geringen Speisen, welche das wenige Vermögen zuläßt, möchten itzt den Kindern nicht mehr so lieb sein; sie sagt: sie wolle sie nicht durch den Magen belohnen, und itzt gebe ich nichts wieder. Sie aß auch nur einen Apfel und ein Stück Hausbrot. Ich fragte sie darum, und sie sagte zu der Tochter: solche Äpfel können wir in unserm Garten ziehen, aber dies Brot kann nur eine Madam Hills backen lassen. Da hatte ich's! Aber ich wurde nicht böse; sie hatte recht. Sie will nicht, daß man gewöhnliches Brot essen für Unglück halte. – Nun sind acht Tage vorbei, daß sie bei den Leuten ist; künftige Woche kömmt sie wieder zu mir, und da wird sie Ihnen schreiben. Beten Sie für das liebe Kind und für mein Leben. – O, niemals werde ich vergessen, daß Sie mir diese Person anvertrauten; ich war mein Tage nicht so fröhlich mit allem meinem Gelde, als ich es bin, seit ich sie bei mir habe! –


*[210]


Plan der Hülfe für die Familie G. und die Jungfer Lene

Meine liebe Wohltäterin hat mir aufgetragen, meine Gedanken der Hülfe für die Familie G. aufzuschreiben. Ich möchte mit diesen aus eigner Schuld elend gewordenen Leuten gerne umgehen wie der Arzt mit einem Kranken, der seine Gesundheit mutwillig verdorben hat; er tut alles, was zur Hülfe nötig ist, aber er verbindet seine Verordnungen zugleich mit Ausübung einer Diät, die er ihm durch Vorstellung der künftigen Gefahr und der vergangenen Leiden augenscheinlich notwendig macht; durch eine langsame, aber anhaltende Kur hilft er ihm zu neuen Kräften, so daß er endlich wieder ohne Arzt leben kann. Zu sehr stärkende Mittel gleich anfangs gebraucht, würden das Übel in dem Körper befestigen und also für die Zukunft schädlich sein. Der Familie G. würde es mit großen Geschenken auch so ergehen; wir wollen ihr also mit Vorsicht zu Hülfe kommen und die Wurzel des Übels zu heilen suchen.

Die wohltätige Güte der Madam Hills gibt anfangs die nötigen Kleider, Leinen und Hausgeräte. Von den ersten wurden nur die allerunentbehrlichsten Stücke schon verfertigt gegeben; das übrige aber im Ganzen, damit die Frau und ihre Töchter es mit eigner Handarbeit zurechte machen; und wenn sie damit fertig sind, so bekommen sie einen Vorrat an Flachs und Baumwolle, um selbige zu verarbeiten und in Zukunft das Abgehende an Leinen – und baumwollenen Zeuge ersetzen zu können, und dieses ist die Sache der Mütter und Töchter.

Die Talente und den Stolz des Herrn G. will ich dahin zu bringen suchen, seinen zerfallenen Ruhm durch die Bemühung einer guten Kinderzucht wieder aufzubauen. Erziehung ist er seinen Kindern schuldig; das Vermögen hat er nicht, Lehrmeister zu bezahlen; wie edel wär' es, wenn er mit Fleiß und Vatertreue den Schaden des verschwendeten Vermögens ersetzte und seinen Kindern Schreib und Rechnungsunterricht gäbe! Für das Latein der Söhne erhalten Madam Hills zween Plätze, welche armen Schülern bestimmt sind; Herr G. hält aber die Lehr- und Wiederholungsstunden selbst mit ihnen; und gewiß würde man einem Mann, der seine väterliche Pflichten so getreu[211] erfüllte, mit der Zeit ein Amt des Vaterlandes anvertrauen. Nun kömmt die Betrachtung, daß die beschuldigte Nachlässigkeit der Frau G. alles wieder zugrunde richten würde; diesem Übel hoffe ich durch die Jungfer Lene zuvorzukommen.

Sie war die Jugendfreundin der Frau G. und hat von ihren Eltern Gutes genossen. Ich denke, sie würde es der Tochter gerne vergelten, wenn sie nicht selbst arm wäre; da sie aber einen vorzüglichen Reichtum an Geschicklichkeit besitzt, so könnte sie dadurch eine Wohltäterin ihrer Freundin werden, wenn sie das Amt einer Aufseherin über den Gebrauch der Wohltaten und der Lehrmeisterin bei den Töchtern der Frau G. verwalten wollte.

Madam Hills tun der Jungfer Lene Gutes, ich weiß, daß sie dankbar sein möchte, und wie kann sie es auf eine rühmlichere Art werden, als wenn sie ihrer eignen Beschützerin die Hände reicht, um ihre unglückliche Freundin aus dem Verderben zu ziehen? Und mit wie vieler Achtung wird sie von den besten Einwohnern angesehen werden, wenn sie durch die Güte ihres Herzens die Grundlage der Wohlfahrt von drei unschuldigen Kindern befestigen und bauen hilft?

Wenn meine teure Frau Hills mit diesen Gedanken zufrieden sind, so will ich sie dem Herrn und der Frau G. wie auch der Jungfer Lene vortragen; und dann bitte ich, mir zu erlauben, auf zwo Wochen in dem Hause des Herrn G. zu wohnen, um ihnen zu zeigen, daß diese Vorschriften zu der Verwendung ihres Lebens nicht hart und nicht unangenehm sind. Denn ich will durch gute Worte und Achtung den Mann an sein Haus und an seine Familie gewöhnen und dann einige Tage die Stelle der Mutter und wieder einige die Stelle der Jungfer Lene bekleiden und daneben die Herzen der Kinder zu guten Neigungen zu lenken und ihre Fähigkeiten ausfindig zu machen suchen, um sie mit der Zeit nach ihrem besten Geschick anzubauen. Aber in Kleidung, Essen, Hausgeräte sollen sie noch den Mangel fühlen und durch dieses Gefühl zu Erkenntnis und Aufmerksamkeit kommen; bis sie durch Genügsamkeit, Fleiß und gute Gesinnungen wieder in die Klasse eintreten können, aus der sie durch Verschwendung und Sorglosigkeit gefallen sind. Vorwürfe werde ich ihnen nicht machen; aber ich werde[212] ihnen durch Erzählung einiger Umstände meines Lebens die Zufälligkeit des Glücks beweisen und den Kindern sagen, daß mir nichts als meine Erziehung übriggeblieben sei, welche mir die Freundschaft von Madam Hills und die Gelegenheit gegeben hätte, ihnen Dienste zu leisten. Dann werde ich auch von dem Stolze reden können, der uns bloß führen soll, einen edlen Gebrauch von Glück und Unglück zu machen. Denn ich möchte nicht bloß ihren Körper ernährt und gekleidet sehen, sondern auch die schlechten Gesinnungen ihrer Seele gebessert und ihren Verstand mit schicklichen Begriffen erfüllet wissen.


Madam Leidens an Emilien

Nun bin ich wieder zu Haus und wollte Ihnen von der Aussaat reden, wovon mein letzter Brief sagte, daß ich sie einer dritten Hand anvertrauen würde; aber Madam Hills erzählt mir, daß sie Ihnen alles geschrieben habe. O meine Freundin! wie schön wäre der moralische Teil unsers Erdkreises, wenn alle Reichen so dächten wie Madam Hills, die sich freut, wenn man ihr Gelegenheit gibt, ihre Glücksgüter wohl anzuwenden! Sie, meine Emilia, sollen die Beweggründe sehen, die mich dazu brachten, der Jungfer Lene das Verwaltungsamt zu geben. Sie wissen, wie ich die arme Familie kennenlernte: eben diese Person redte bei Frau Hills von ihren Umständen. Ich bemerkte in ihrem halb mitleidigen, halb anklagenden Ton eine Art von Neid über die Wohltaten, welche jene genossen, und die Begierde, sie allein an sich zu ziehen. Sie sprach zugleich viel davon, wie sie es an der Stelle von Frau G. machen würde. Ich ärgerte mich, so kalte und übeltätige Überbleibsel einer so stark gewesenen Jugendfreundschaft anzutreffen, und hatte Mut genug, den Plan zu fassen, dieses halb vermoderte Herz zu dem Nutzen seiner ersten Freundin brauchbar zu machen. Ich ließ sie nichts von meinen Betrachtungen über sie merken und sagte ihr nur, daß sie mich in das Haus führen sollte. Der Anblick des Elends und die Zärtlichkeit, welche ihr die Frau bewies, rührte sie, und in dieser Bewegung nahm ich sie in mein Zimmer, las ihr meinen Plan vor und malte mit den lebhaftesten Farben die[213] Schönheit der Rolle, die ich ihr auftrüge, worin sie sich das Wohlgefallen Gottes und die Achtung und die Segnungen aller Rechtschaffenen zu versprechen hätte. Ich überzeugte sie, daß sie mehr Gutes tue als Frau Hills, welche bei ihren Geldgaben nur das Vergnügen genösse, von ihrem Überflusse von Zeit zu Zeit etwas abzugeben; da hingegen ihre tägliche Bemühungen und ihre Geduld die Tugenden des edelsten Herzens sein würden. Ich gewann sie um desto leichter, weil ich ihr das Lob der Madam Hills dadurch zuzog, daß ich sagte: der Einfall wäre ihr selbst gekommen. Mein Plan wurde bewilligt, und ich führte ihn die ersten zwo Wochen selbst aus.

Die Annahme einer Verwalterin schien beschwerlich, aber ich erhielt doch die Einwilligung, besonders da ich sagte, daß ich selbst vierzehn Tage bei ihnen wohnen würde.

Den ersten Tag legte ich ihnen die Geschenke von Madam Hills vor, teilte jedem das seinige, mit Ermahnung zur Sorgfalt, zu und sagte ihnen: daß sie durch Schonen und sparsamen Gebrauch der Wohltaten teils ihre Dankbarkeit, teils ein edles Herz zeigen würden, welches die Güte, die man ihm beweist, nicht mißbrauchen möchte. Hierauf sagte ich, wie ich ihre Umstände ansähe und was ich für einen Plan ihres Lebens und ihrer Beschäftigungen daraus gezogen hätte, bat aber jedes, mir seine Wünsche und Einwendungen zu sagen.

Ehe ich diese beantwortete, machte ich ihnen einen kurzen und nützlichen Auszug meiner eigenen Geschichte. Ich blieb besonders bei dem Artikel des Ansehens und Reichtums stehen, worin ich geboren und erzogen worden; sagte ihnen meine ehemaligen Wünsche und Neigungen, auch wie ich mir sie itzt versagen müsse, und schloß diese Erzählung mit freundlichen Anwendungen und Zusprüchen für sie. Durch dieses öffnete sich ihr Herz zum Vertrauen und zur Bereitwilligkeit, meinem Rate zu folgen. Die besten Sachen, so eine reiche und glückliche Person gesagt hätte, würden wenig Eindruck gemacht haben; aber der Gedanke, daß auch ich arm sei und andern unterworfen leben müsse, brachte Biegsamkeit in ihre Gemüter. Ich fragte: was sie an meiner Stelle würden getan haben? Sie fanden aber meine Moral gut und wünschten auch so zu denken. Darauf ging ich in den Vorschlag ein, was ich an ihrem[214] Platze tun würde; und sie waren es herzlich zufrieden. O, dacht ich, wenn man bei Beweggründen zum Guten allezeit in die Umstände und Neigungen der Leute einginge und der uns allen gegebenen Eigenliebe nicht schnurstracks Gewalt antun wollte, sondern sie mit eben der Klugheit zum Hülfsmittel verwände, wodurch der schmeichelnde Verführer sie zu seinem Endzweck zu lenken weiß: so würde die Moral schon langst die Grenzen ihres Reichs und die Zahl ihrer Ergebenen vergrößert haben.

Eigenliebe! angenehmes Band, welches die liebreiche Hand unsers gütigen Schöpfers dem freien Willen anlegte, um uns damit zu unsrer wahren Glückseligkeit zu ziehen; wie sehr hat dich Unwissenheit und Härte verunstaltet und die Menschen zu einem unseligen Mißbrauch der besten Wohltat gebracht! Lassen Sie mich zurückkommen.

Am zweiten Tag stellte ich die Frau G. vor, und in ihrer Person sprach ich mit Jungfer Lene von unsrer alten Liebe und wie gern ich ihr die Stelle gönnte, die sie in meinem Hause zu vertreten hätte, da ich glaubte, sie würde den Gebrauch eines guten Herzens davon machen. Ich sagte, was ich (nach dem Willen der Frau G., mit der ich allein vorher gesprochen hatte) von ihr wünschte, wies die Töchter an sie an und setzte hinzu: daß wir allezeit alles gemeinschaftlich überlegen und vornehmen wollten. Sodann war ich zween Tage Jungfer Lene – und die folgenden drei in der Stelle der drei Töchter.

Unter dem Arbeiten machte ich sie durch Hülfe der Religion mit dem beruhigenden Vergnügen bekannt, welches die Betrachtung der Natur in verschiedenem Maße in unser Herz gießt. Frau Hills schaffte Bücher an, die ich ausgesucht hatte, und die beiden Söhne mußten wechselsweise etwas daraus vorlesen, wobei ich die Kinder immer Betrachtungen und Anwendungen machen lehrte. Die zwo ältesten Mädchen haben viel Geschicke und Verstand. Ich lehrte sie meine Tapetenarbeit und die Älteste Zeichnungen dazu zu machen. Ich ermunterte ihren Fleiß durch den Stolz, indem ich ihnen sagte: daß sie diese Arbeit entweder ganz an Kaufleute verhandeln oder sich um die Hälfte wieder neue Wolle schaffen und für die andre etwas eintauschen könnten, so ihnen nötig wäre; ich versprach[215] ihnen auch, diese Arbeit sonst niemanden zu lehren. Nun sitzen des Tags die zwo Mädchen und die Mutter daran, weil die Vorstellung vom Verhandeln ihrer Eitelkeit schmeichelt.

Jungfer Lene sagt, daß alles gut fortgehe und ist daselbst ungemein vergnügt, da sie wegen ihrer Aufsicht und Probe einer wahren Freundschaft so sehr gelobt wird.

Ich habe das Haus mit Tränen verlassen und werde alle Wochen zween halbe Tage hingehen. Die vierzehn Tage, die ich da zubrachte, flossen voll Unschuld und Friede dahin; eine jede Minute davon war mit einer übenden Tugend erfüllt, da ich Gutes tat und Gutes lehrte. Nun bitten Sie Gott, liebste Emilia, daß er diese kleine Saat meiner verarmten Hand zur reichen Ernte für das Wohl dieser Familie werden lasse. Niemals, nein niemals haben mir die Einkünfte meiner Güter, welche mich instand setzten, dem Armen durch Geldgaben zu Hülfe zu kommen, soviel wahre Freude gegeben als der Gedanke, daß mein Herz ohne Gold, allein durch Mitteilung meiner Talente, meiner Gesinnungen und etlicher Tage meines Lebens, das Beste für diese Familie getan hat.

Meine kleinen Zeichnungen sind Ursache, daß der zweite Sohn zu einem Mignatürmaler kömmt, weil der junge Knabe sie mit der größten Pünktlichkeit und außerordentlich fein nachahmte.

Die ganze Familie liebt und segnet mich. Madam Hills läßt bereits die Steine zum Gesindhaus führen und behauen. Denken Sie nicht, beste Freundin, daß sich zu gleicher Zeit dauerhafte Grundteile eines neuen moralischen Glücksbaues in meiner Seele sammlen, worin meine Empfindungen Schutz und Nahrung finden werden, bis der Sturm von sinnlichem Unglück vorüber sein wird, der den Wohnplatz meines äußerlichen Wohlergehens zerstörte?


Madam Leidens an Emilien

Emilia! fragen Sie den metaphysischen Kopf Ihres Mannes, woher der Widerspruch käme, der sich zwischen meinen stärksten immerwährenden Empfindungen und meinen Ideen zeigte,[216] als ich von Frau Hills gebeten wurde, ihre liebste Freundin, die schöne, anmutsvolle Witwe von C-, zu einem gütigen Entschluß für einen ihrer Verehrer bereden zu helfen? Woher kam es, daß ich der Liebe und dem aus ihr kommenden Glück irgendeines Mannes das Wort reden konnte, da die Fortdauer meiner durch die Liebe erfahrnen Leiden mich eher zur Unterstützung der Kaltsinnigkeit der schönen Witwe hätte dringen sollen? Ich kann nicht denken, daß allein der Geist des Widerspruchs, durch welchen es uns natürlich ist, anders zu denken als andre Leute, daran Ursache sei. Oder wäre es möglich, daß in einem Stücke meines durch die Hände der Liebe zerrissenen Herzens noch ein Abdruck der wohltätigen Gestalt geblieben wäre, worunter ich mir einst in den heitern Tagen meiner lächelnden Jugend ihr Bild vormalte? Oder konnte wohl der lange Gram meine junge Vernunft zu dem Grade der Reife gebracht haben, welcher nötig ist, mich über die Umstände einer andern Person ohne alle Einmischung meiner eignen Empfindungen nachdenken und urteilen zu lassen? Sie sehen, daß ich über mich zweifelhaft bin; helfen Sie mir zurechte.

Hier ist mein Gespräch mit der Witwe.

»Vier rechtschaffene Männer bewerben sich um Ihre Gunst, woher kömmt es, teuerste Frau von C-, daß Sie so lange wählen?«

»Ich wähle nicht; ich will meine Freiheit genießen, die ich durch so viele Bitterkeit erkaufen mußte.«

»Sie haben nicht unrecht, Ihre Freiheit zu lieben und auf alle Weise zu genießen, der edelste Gebrauch davon wäre aber doch derjenige: aus freiem Willen jemanden glücklich zu machen.«

»O, das Glück, wovon Sie reden, ist meistens nur in der feurigen Phantasie eines itzt brennenden Liebhabers und verschwindet, sobald die erloschene Flamme ihr Zeit gibt, sich wieder abzukühlen.«

»Dieses, meine geliebte Frau von C-, kann wahr sein, wenn die Liebe eines jungen Mannes allein durch die Augen entstanden ist und an der Seite des blühenden Mädchens lodert, deren unausgebildeter Charakter diesem Feuer keine dauerhafte Nahrung geben kann. Aber Sie, die wegen Ihrem Geist, wegen[217] Ihrem edlen Herzen geliebet werden, Sie sind sicher, es unauslöschlich zu machen.«

»Meine Verdienste hätten also die Eigenschaft des persischen Naphtha; aber in welchem meiner Liebhaber liegt das Herz, welches ein gleichdauerndes Feuer aushalten könnte?«

»In jedem; denn Liebe und Glückseligkeit sind der unverzehrbare Stoff, woraus unsere Herzen gebauet sind.«17

»Jeder hat aber auch eine eigene Idee von der Glückseligkeit; ich könnte also bei meiner zwoten Wahl wieder just das Herz treffen, dessen Begriffe von Glückseligkeit nicht mit meinem Charakter übereinstimmten, und da verlören wir beide.«

»Ihre Ausflucht ist fein, aber nicht richtig. Zehn Jahre, welche zwischen der ersten und letzten Wahl stehen, haben durch viele Erfahrungen Ihren Einsichten die Kraft gegeben, die Verschiedenheit der Personen und Umstände zu beurteilen und besonders die Gewalt zu bemerken, mit welcher die letztere Sie in Ihre erste Verbindung hineingezogen.«

»Wie genau Sie alles hervorsuchen. Aber sagen Sie, liebe Madam Leidens, wen würden Sie wählen, wenn Sie an meiner Stelle wären?«

»Den, von dem ich hoffte, ihn am meisten glücklich machen zu können.«

»Und dies wäre in Ihren Augen –«

»Der liebenswürdige Gelehrte, dessen schöner und aufgeklärter Geist Ihnen das Vergnügen gewährte, daß nicht die geringste Schattierung Ihrer Verdienste ungefühlt und ungeliebt blieben, in dessen Umgang der edelste Teil Ihres Wesens unendliche Vorteile genießen könnte, indem er Sie an der Hand der Zärtlichkeit durch das weite Gebiet seiner Wissenschaft führen würde, wo sich Ihr Geist so angenehm unterhalten und stärken könnte. Wie glücklich würde sein gefühlvolles Herz durch das Vergnügen, durch die Verdienste und die Liebe seiner schätzbaren Gattin werden; und wie glücklich würde Ihre[218] empfindsame Seele durch das von Ihnen geschaffene Glück dieses würdigen Mannes sein; wie süß wäre Ihr Anteil an seinem Ruhm und an seinen Freunden!«

»O Madam Leidens! wie stark malen Sie die schöne Seite! Soll ich nicht sehen, daß alle Stärke dieser schätzbaren Empfindlichkeit sich auch bei meinen wahren und zufälligen Fehlern zeigen würde, und wohin neigt sich da die Waagschale der Glückseligkeit?«

»Dahin, wo Ihre angeborne Sanftmut und Gefälligkeit sie festhalten wird.«

»Gefährliche Frau, wie viele Blumen Sie auf die versteckte Kette streuen!«

»Sie tun mir unrecht, ich zeige nur den Vorrat von Blumen, deren Wert ich kenne und die Ihnen die Liebe anbietet, um eine Kette von Zufriedenheit daraus zu binden –«

»Und übersehen die Menge von Dornen, welche unter diesen Rosen verborgen sind –«

»Darauf antworte ich nicht, ich würde Ihre Klugheit und Billigkeit beleidigen.«

»Werden Sie nicht böse, und weisen Sie mir noch die schönen Farben der übrigen Bänder, wovon Sie mir Schleifen knüpfen wollen.«

»Kommen Sie, vielleicht wird der artige Übermut, den Ihnen Ihre vorzügliche Liebenswürdigkeit gibt, durch die Eigenschaften der Geburt und Person eines der edelsten Söhne des preußischen Kriegesgotts leichter gezähmt als durch die sanfte Hand der Musen: dies Band ist schön, ein glänzender Name, Edelmütigkeit der Seele, wahre' Liebe und Verehrung Ihres Charakters ist darin verwebt; goldene Streifen des angesehenen Rangs, des neuen schönen Kreises, in den Sie dadurch versetzt werden, liegen im Grunde, Blicke in angenehme Gegenden, wo Ihnen die Briefe der hochachtungswürdigen Frau von *** zeigen, daß seine Liebe Ihnen schon Freundinnen und Verehrer bereitet hat; und verdiente nicht schon die großmütige Aufopferung aller Vorrechte des alten Adels das Gegenopfer Ihrer Unschlüssigkeit und Ihres Mißtrauens?«

»Zauberin! wie künstlich mischen Sie Ihre Farben!«

»Warum Zauberin, liebste Frau von C-, fühlen sie den starken[219] Reiz der strahlenden Fäden, womit der Zufall dies Band umwunden hat?«

»Ja, aber dem Himmel sei Dank, Sie schrecken mich just deswegen, weil Sie mich blenden.«

»Liebenswürdige Schüchternheit, o könnte ich dich in die Seele jedes gefühlvollen Geschöpfs legen, welches von den schönen Farben eines Kunstfeuers angelockt, verblendet und auf einmal in der grausamen Finsternis eines traurigen Schicksals verlassen wird!«

»Liebe Frau! wie rührend loben Sie mich; wie sehr erwecken Sie die mütterliche Sorgen für meine anwachsende Tochter!«

Zärtlich umarmte ich sie für diese edle Bewegung ihres von wahrer Güte belebten Herzens; »gönnen Sie mir (sagte ich) in diesem der Empfindung geweiheten Augenblicke Ihre Aufmerksamkeit für die in Wahrheit wenig schimmernde, aber fest gegründete Zufriedenheit, die Sie in dem artigen Landhause des Herrn T. erwartet, worin Sie durch einen edelmütigen Entschluß zugleich drei der heiligsten Pflichten erfüllen könnten: die sehnlichen Wünsche eines verdienstvollen, angenehmen Mannes zu krönen, der Sie nicht um der Reize Ihrer Person willen (denn diese kennt er nicht), sondern wegen dem reizenden Bilde liebt, so ihm von Ihrer Seele gemacht wurde; der, nachdem er allen Ausdruck seiner Empfindungen für Sie erschöpft hatte, mit der edelsten Bewegung, die jemals das Herz eines Reichen erschütterte, hinzusetzte: Ihre Tochter sollte das Kind ihres Herzens werden und alles sein Vermögen ihr zugewandt sein. Würden Sie nicht dadurch zugleich der mütterlichen Pflicht, auch für die äußerliche Glückseligkeit ihres Kindes zu sorgen, genugtun? Und konnte die gehorsame Ergebung des Willens Ihrer jugendlichen Jahre dem Herzen Ihres ehrwürdigen Vaters jemals so viele Freude machen, als Sie ihm in den letzten Jahren Ihrer Freiheit machen würden, wenn Sie seinen Rat, seine zärtlichen Wünsche für eine Verbindung befolgten, wodurch Sie ihm genähert und in den Stand gesetzt würden, sein väterliches Herz in dem letzten Teile seines Lebens für alle Mühe der Erziehung seiner Kinder zu belohnen? Bedenken Sie sich, liebreiche und gegen alle Menschen[220] leutselige und wohltätige Frau! Ich will Ihnen nichts von der hochachtungswürdigen Hand sagen, die in einer unsrer schönsten Residenzstädte auf den gütigen Wink der Ihrigen wartet, wo eine Anzahl verdienstvoller Personen Ihnen Bürge für die Tugend des Herzens, für die Kenntnisse des Geistes und für die zärtliche Neigung sind, die einer der schönsten und besten Männer für Sie ernährt und der darum der Glücklichste wurde, weil er in Ihnen die beste würdigste Mutter für seine zwei Kinder zu erhalten hoffte. Sie wissen, daß er ein edler Besitzer eines schönen Vermögens ist, und kennen alle gesellschaftlichen Annehmlichkeiten, die in dieser Stadt auf Sie warten. – – Aber tun Sie, liebenswürdige Frau von C., was Sie wollen, ich habe Ihnen die Beweggründe meines Herzens gesagt; ich weiß wohl, daß wir alle einen verschiedenen Gesichtspunkt über den nämlichen Gegenstand haben und unser Gefühl darnach richten, doch ist eine Seite, die wir alle betrachten müssen – die Glückseligkeit unsers Nächsten ebensosehr als die unsrige zu lieben und sie nicht aus kleinen Beweggründen verzögern.«

»Sie haben mein Herz in die äußerste Verlegenheit gebracht (sagte sie mir mit Tränen), aber meine traurige Erfahrung empört sich wider jede Idee von Verbindung; ich wünsche diesen Männern würdigere Gattinnen, als Sie sich mich abschildern; aber mein Nacken ist von dem ersten Joche so verwundet worden, daß mich das leichteste Seidenband drücken würde.«

»Ich habe die Bitte Ihrer Freundin erfüllt und nichts anders bei Ihrem Entschlusse zu sagen, als daß Sie immer glücklich sein mögen.«

Sie umarmte mich, und ich bat Madam Hills, bei meiner Zurückkunft die liebe Frau ruhig zu lassen; wunderte mich aber in meinem Zimmer über den Eifer, womit ich mich in diese Sache gemischt hatte.

Klaren Sie mir das Dunkle in meiner Seele darüber auf; es dünkt mich, daß ich lauter unrechte Ursachen hasche.


Lord Seymour an Doktor T.

Bester Freund, geben Sie mir Ihren Rat, um mich in dem Kummer zu erhalten, in welchen ich aufs neue, und gewiß auf ewig[221] gefallen bin! Sie wissen, daß ich meine Leidenschaft für das Fräulein von Sternheim ganz unterdrückt hatte, weil die Versicherung ihres niederträchtigen Bündnisses mit John ihren Geist und Charakter aller meiner Hochachtung beraubte. Ich Eng auch an, eine ruhige und reizende Liebe zu kosten, indem ich meine ganze Zärtlichkeit dem Fräulein von C- widmete und der ihrigen völlig versichert war: als mein Oheim unversehens den Befehl vom Hofe erhielt, eine Reise nach W. zu machen. Die Empfindlichkeit des liebenswürdigen Fräuleins von C- hatte vieles bei unserer Trennung zu leiden, und ich war ebenso traurig als sie. Mißvergnügt und murrend über die Fesseln, welche mir der Ehrgeiz meiner Familie und die Zuneigung von Mylord Crafton anlegten, saß ich stumm und finster neben dem liebreichsten Manne, dessen feste Ruhe des Geistes meinen empörten Empfindungen ärgerlich war, so daß ich der Geduld nicht achtete, mit welcher er meine Unart ertrug. Aber, mein Freund, stellen Sie sich, wenn es möglich ist, die Bewegung vor, in die ich geriet, als wir den zweiten Tag abends bei sehr schlimmen Wetter, durch Versehen des Postillions, auf ein Dorf kamen, wo wir übernachten mußten, am Wirtshause anfuhren und eben aussteigen wollten, als die Wirtin auf einmal anfing: »Was, Sie sind Engländer? fahren Sie fort, ich lasse Sie nicht in mein Haus; Sie können meinetwegen im Walde bleiben, aber meine Schwelle soll kein Engländer mehr betreten.« – Wahrend dem letztem Worte zog sie ihren Sohn, der wie ein wackerer Mensch aussah und ihr immer zuredete, beim Arme gegen die Türe des Hauses, so sie zuschließen wollte. Der schreiende Unwille dieser Frau war seltsam genug, um mich aufmerksam zu machen; unsere Kerls schrien und zankten wieder, die Postillions auch. Mylord befahl unsern Leuten zu schweigen und sagte zu mir: »Hier muß etwas Ernsthaftes vorgegangen sein, da es wichtig genug ist, die gewöhnliche Gewinnbegierde dieser Leute zu unterdrücken.«

Er rief der Frau freundlich zu: sie möchte ihm die Ursache sagen, warum sie uns nicht aufnehmen wollte?

»Weil die Engländer gewissenlose Leute sind, die sich nichts aus dem Unglücke der besten Menschen machen und ich meine Tage keinen mehr beherbergen will; fahren Sie mit Ihren schönen[222] Worten nur fort, Sie können alle so schöne Worte geben.« Sie wandte sich von uns weg und sagte zu ihrem Sohne, der ihr vermutlich wegen dem Gewinn zuredete: »Nein, und wenn sie meine Stube voll Gold steckten, so brech' ich mein Gelübde nicht, das ich der lieben Dame wegen tat –«

Ich kochte vor Ungeduld; aber Mylord, der von seiner Parlamentsstelle her gewohnt war, den wütenden Aufwallungen des Pöbels nachzugeben, winkte ganz ruhig dem Sohne und fragte ihn um die Ursache der Abneigung und der Vorwürfe seiner Mutter.

»Vor einem halben Jahre«, antwortete dieser, »führte ein Engländer seine Frau, eine schöne gütige Dame zu uns; er ging weg und kam wieder, nachdem er viele Wochen weggewesen, indessen hatte – die junge Frau, die – immer sehr traurig war, meine Basen gekleidet, sie viele hübsche Sachen gelehret und den Armen viel Gutes getan; o, sie war so sanft als ein Lamm! sogar mein Vater wurde sanft, seit sie in unserm Hause war; wir mußten sie alle lieben. Aber einen Tag, da der böse Lord lange weggewesen, kam einer seiner Leute geritten und sagte, er hätte Briefe an die Dame; wir fragten: ob sein Herr bald käme? nein – sagt' er, er kömmt nicht wieder; hier ist noch Geld für den übrigen Monat; und dies sagte er wild und trotzig, wie ein böser Hund. Meiner Mutter ahndete nichts Gutes, und sie schlich sich in eine Nebenkammer, um auf den Brief zu horchen; da sah sie unsre liebe schöne Dame auf der Erde knien und weinen und ihrem Kammermädchen erzählen, in dem Briefe stünde: ihre Heurat wäre falsch gewesen: der Bote, der ihn gebracht, wäre in einen Geistlichen verkleidet gewesen und hätte sie eingesegnet; sie könne hin, wo sie wolle; da ist sie auch zwei Tage darauf fort; aber sie muß unterwegs gestorben sein, so krank und betrübt war sie; da will nun meine Mutter keinen Engländer mehr ins Haus aufnehmen.«

Mylord sah mich gerührt an:

»Carl, was sagt dein Herz zu dieser Erzählung?«

»O Mylord, es ist mein Fräulein Sternheim« – schrie ich »aber der Bösewicht soll es bezahlen! Aufsuchen will ich ihn; es ist Derby; kein andrer ist dieser Grausamkeit fähig.«

»Junger Freund«, sagte Mylord dem Sohne der Wirtin;[223] »sag' Er seiner Mutter: sie hätte recht, den bösen Engländer zu hassen: auch soll er vom König nach der Schärfe abgestraft werden. Aber mach' Er, daß ich ins Haus komme.«

»Steigen Sie aus, ich will meine Mutter befriedigen.«

Er lief hinein, und bald darauf kam uns die Frau selbst entgegen. »Wenn Sie den abscheulichen Mann recht strafen wollen, wie Sie sagen, so kommen Sie, ich will Ihnen alles erzählen, wie es war; Sie sind ein alter Herr, gnädiger Lord, Sie können das Unrecht junger Leute gut einsehen, machen Sie ein Exempel aus dem bösen Mann, er könnte noch viele Streiche anfangen.«

Still und langsam folgte ich ihr und Mylorden die Treppe hinauf. »Hier«, sagte sie oben, »hier ist der liebe Engel gestanden, wie ihr Herr das erstemal kam, sie zu besuchen, nun, er herzte sie recht schön, und sie hatte ihre lieben Hände so hübsch nach ihm ausgestreckt, daß mich ihre Einigkeit freute; aber sie redete so sanft und wenig und er so laut, seine Augen waren so groß und beschauten sie so geschwind, er rufte auch gleich so viel nach seinen Kerls, daß man wohl daraus hätte etwas vermuten können. Mein Mann war wild, doch hat er im Anfange allezeit leise und freundlich geredt und geblinzelt; aber man denkt, jeder Mensch hat seine Weise, und wie sollte einem einfallen, daß man ein schönes frommes Tugendbild betrügen könne?«

Nun waren wir im Zimmer, wo ihre Kammerfrau gewohnt hatte; hernach wies sie uns das von der Dame; sie rufte Gretchen, die sich hinsetzen und zeigen mußte, wo die Dame gesessen, wie sie die Mädchen gelehrt hätte; hernach nahm sie ein Bild von der Wand und sagte: »Da, mein Gärtchen, meine Bienengestelle und das Stück Matte, wo meine Kühe auf der Weide gingen, zeichnete sie.« – Indem sie es Mylorden hingab, küßte sie das Stück und sagte mit Weinen: »Du liebe, liebe Dame, Gott habe dich selig, denn du lebst gewiß nicht mehr.«

Ein einziger Blick überzeugte mich völlig, daß es die Sternheim gemacht hatte; die richtigen Umrisse, die feinen Schattierungen erkannte ich; mein Herz wurde beklemmt; ich mußte mich setzen; Tränen füllten meine Augen; das Schicksal des edlen Mädchens, die rauhe, aber herzliche Liebe dieser Frau[224] rührte mich; es gefiel ihr, sie klopfte mich auf die Achsel: »Das ist recht, daß Sie betrübt sind, bitten Sie Gott um ein gutes Herz, daß Sie niemanden verführen; denn Sie sind auch ein Engländer und ein hübscher Mensch; Sie können einem in die Augen gehen.«

Nun mußte das Mädchen und der Sohn und die übrigen Leute erzählen, wie gut die Dame gewesen und was sie gemacht hatte; dann wies sie uns das Schlafzimmer. »Seit dem Brief«, fuhr sie fort, »ist sie nicht mehr hineingegangen, sondern schlief im Bette ihrer Jungfer; ich denke es wohl, wer möchte noch unter der Decke eines Spitzbuben schlafen? Hier ist der Schrank, worein sie alle Kostbarkeiten von Gold, von Geschmeide, o, gar viele Sachen legte, die er ihr mitgebracht hatte und die ich ihm zurückgeben sollte; denn sie nahm nichts davon mit; zween Tage nachdem sie weg war, kam wieder ein Brief; er wolle kommen, sagte der Mensch; aber ich gab ihm seinen Pack Sachen und schaffte ihn aus dem Hause.«

Mylord fragte sie noch genauer um alles, was geschehen war; halb hörte ich's, halb nicht; ich war außer mir; und da die Frau nicht sagen konnte, wo die Dame hingereiset wäre, so war mir am übrigen nichts gelegen. Ich hatte genug gehöret, um in Mitleiden zu zerschmelzen und das geliebte Bild der leidenden Tugend mit erneuerter Zärtlichkeit in meine Seele zu fassen. Ich nahm das Zimmer ihrer Jungfer, weil ich darin den Platz bemerket hatte, wo sie gekniet, wo sie den unaussprechlichen Schmerzen gefühlt hatte, betrogen und verlassen zu sein. Derbys Schlafzimmer gab mir den nämlichen Abscheu wie ihr selbst, und ich warf mich unausgekleidet mit halb zerrütteten Sinnen auf das Bette, worin Sternheim so kummervolle Nächte zugebracht hatte. Trostlose Zärtlichkeit und ein Gemische von bitterm Vergnügen bemächtigten sich meiner mit der Empfindung, welche mir sagte: hier lag das liebenswürdige Geschöpfe, in dessen Armen ich alle meine Glückseligkeit gefunden hatte; hier beweinte ihr blutendes Herz die Treulosigkeit des verruchtesten Bösewichts! Und ich – O Sternheim, ich beweine dein Schicksal, deinen Verlust, und meine verdammte Saumseligkeit, deine Liebe für mich zu gewinnen! – Vergnügen, ja ein[225] schmerzhaftes Vergnügen genoß ich bei dem Gedanken, daß meine verzweiflungsvolle Tränen noch die Spuren der ihrigen antreffen und sich mit ihnen vereinigen würden. Ich stund auf, ich kniete auf den nämlichen Platz, wo der stumme, zerreißende Jammer über ihre Erniedrigung sie hingeworfen hatte; wo sie sich Vorwürfe über das blinde Vertrauen machte, womit sie sich dem grausamsten Manne ergab, und wo – ich ihrem Andenken schwur: sie zu rächen.

O mein Freund, warum, warum konnte Ihre Weisheit meinen Mut nicht stählen? – Wie elend, wie beklagenswert war ich, da ich mit ihr jeden Augenblick verfluchte, worin sie das Eigentum von Derby war! alle ihre Schönheit, alle ihre Reize sein Eigentum waren! Sie liebte ihn; sie empfing ihn mit offenen Armen an der Treppe. – Wie war es möglich, daß die edle reine Güte ihres Herzens den gefühllosen, boshaften Menschen lieben konnte? –

Ich habe das kleine Hauptküssen vom Sohn der Wirtin gekauft; ihr Kopf hatte sich mit der nämlichen Bedrängnis darauf gewälzt wie meiner; ihre und meine Tränen haben es benetzt; ihr Unglück hat meine Seele auf ewig an sie gefesselt; von ihr getrennt, vielleicht auf immer getrennt, mußten sich in dieser armen Hütte die sympathetischen Bande ganz in meine Seele verwinden, welche mich stärker zu ihr, als zu allem, was ich jemals geliebt habe, zogen.

Mylord fand mich am Morgen in einem Fieber; sein Wundarzt mußte mir eine Ader öffnen, und eine Stunde hernach folgte ich ihm in den Wagen, nachdem ich die kleine Zeichnung des Gärtchens geraubt und dem Mädchen, welches die Schülerin meiner Sternheim gewesen, einige Guineen zugeworfen hatte.

Die Kälte, welche die Politik unvermerkt bald in größerem, bald in kleinerem Maße auch in das wärmste Herz zu gießen pflegt und es über einzelne Übel hinausgehen heißt, gab Mylorden eine Menge Vernunftgründe ein, womit er mich zu zerstreuen und gegen meinen Kummer und Zorn zu bewaffnen suchte. Ich mußte ihn anhören und schweigen; aber nachts hielt mich mein Küssen schadlos; ich zehrte mich ab und erschöpfte mich. Mein Schmerz ist ruhiger, und meine Kräfte erholen[226] sich in dem Vorsatze, das Unglück des Fräuleins an Derby zu rächen, wenn er auch den ersten Rang des Königreichs besitzen sollte. Beobachten Sie ihn, wenn Sie nach London kommen, ob Sie nicht Spuren von Unruhe und quälender Reue an ihm sehen. Ewigkeiten durch möchte ich ihm die Marter der Reue empfinden lassen, dem ewig hassenswürdigen Mann!

Ich gebe mir alle mögliche Mühe, die Folgen des Schicksals des Fräuleins zu erfahren, aber bis itzt war alles vergeblich; so wie Ihre Bemühungen vergeblich sein werden, wenn Sie ihr Andenken in mir auslöschen wollten; – mein Kummer um sie ist meine Freude und mein einziges Vergnügen geworden.


Graf R** an Lord Seymour

Sie geben mir Nachricht von meiner teuren unglücklichen Nichte. Aber, o Gott, was für Nachrichten, Mylord! das edelste, beste Mädchen der Raub eines teuflischen Bösewichts! Ich dachte wohl, als Sie mir den Sekretär Ihres Oheims nannten, daß ein gemeiner schlecht denkender Mensch ihre Hand niemals hätte erhalten können. Ein Heuchler, ein die Klugheit und Tugend lebhaft spielender Heuchler mußte es sein, der ihren Geist blendete und sie aus den Schranken zu führen wußte. Ich flehe den Lord Crafton um seine Beihülfe an, den nichtswürdigen Mann auch unter dem Schutze der ganzen Nation zur Verantwortung zu ziehen.

Nichts als die schlechten Gesundheitsumstände meiner Gemahlin und meines einzigen Sohns hindern meine Abreise von hier; aber ich habe für das Andenken dieser liebenswürdigen Person doch dieses getan: von dem Fürsten zu begehren, daß er ihre Güter durch einen fürstlichen Rat besorgen lasse. Die Einkünfte sollen ihrer Gesinnung gemäß für die Kinder des Grafen Löbau gesammlet werden; aber der Vater und die Mutter sollen nichts davon genießen, sie, die zuerst das Herz des guten Kindes zerrissen haben und allein die Ursache sind, daß sie von Angst betäubt ihrem Verderben zulief.

Käme ich nur bald nach D. und hätten wir nur einiges Licht von ihrem Aufenthalt! Aber es geschehe das eine und das andere,[227] wenn es will: so soll der Elende, der ihren Wert nicht zu schätzen wußte, Rechenschaft von ihrer Entführung und Verlassung geben.

Ich bedaure Sie, Mylord, wegen der Leiden Ihres Gemüts, die nun durch die wiederkehrende Liebe vergrößert sind. Aber wie konnte ein Mann, dem die weibliche Welt bekannt sein muß, dieses auserlesene Mädchen mißkennen und den allgemeinen Maßstab vornehmen, um ihre Verdienste zu prüfen? Unterschied sie sich nicht in allem? Verzeihen Sie, Mylord, es ist unbillig, Ihren Kummer zu vermehren! die Zärtlichkeit meiner nahen Verwandtschaft übertrieb meinen Unmut und machte mich das Geschehene und Ungeschehene mit gleichem Haß verfolgen.

Fliehen Sie keinen Aufwand, um den Aufenthalt des geliebten Kindes zu erfahren; ich fürchte, o, ich fürchte, daß wir sie nur tot wiederfinden werden!

Wehe dem Lord Derby; – wehe Ihnen, wenn Sie nicht Ihre Hand mit der meinigen vereinigen, um sie zu rächen! Aber alles, was Sie tun werden, um Ihre edelmütige Liebe, obwohl zu spät, zu beweisen, soll Sie in dem Oheim des edelsten Mädchens den besten Freund und Diener finden lassen. Allen Aufwand teile ich mit Ihnen, wie ich alle Ihre Sorgen und Schmerzen teile. – Hier halte ich alles geheim, weil ich meiner Gemahlin zärtliches Herz nicht mit unmäßigem Jammer beladen will.


Madam Leidens an Emilien

Meine liebenswürdige Witwe, Frau von C-, hat eine schöne Seele voll zärtlicher Empfindungen. Sie bemerkte letzthin das kurz abgebrochene Ende meiner Vorstellungen sehr genau und kam etliche Tage nachher zu mir, um mit freundlicher Sorgsamkeit nach der Ursache davon zu fragen. Ich hatte die stutzige Art meines schnellen Stillschweigens selbst empfunden, aber da meine Beweggründe so stark in mir arbeiteten und ich ihren Empfindungen nicht zu nahe treten wollte, so sah ich keinen andern Weg, als abzubrechen und nach Hause zu gehen, wo ich den Unmut recht deutlich fühlte, den ich[228] bloß deswegen über sie hatte, weil sie den Aussichten von Wohltätigkeit nicht so eifrig zueilte, als ich an ihrer Stelle würde getan haben. Es freut mich auch, daß der Mann meiner Emilie den warmen Ton meiner Fürsprache zum Besten der Liebe allein in meiner Neigung zum Wohltun suchte, ob er mich schon einer Schwärmerei in dieser Tugend beschuldigt.

(O! möchte doch dieses Übermaß einer guten Leidenschaft der einzige Fehler meiner künftigen Jahre sein!) –

Ich antwortete der lieben Frau von C- ganz aufrichtig:

Daß es mich sehr befremdet hätte, eine Seele voller Empfindlichkeit so frostige Blicke in das Gebiete der Wohltätigkeit werfen zu sehen – Sie antwortete:

»Ich erkenne ganz wohl, daß Ihr tätiger Geist mißvergnügt über meine Unentschlossenheit werden mußte; Sie wußten nicht, daß die Idee des Wohltuns meine erste Wahl bestimmte; aber ich habe so sehr erfahren, daß man andere glücklich machen kann, ohne es selbst zu werden; daß ich nicht Herz genug habe, mich noch einmal auf diesen ungewissen Boden zu wagen, wo die Blumen des Vergnügens so bald unter dem Nebel der Sorgen verblühen.«

Der äußerste Grad der Rührung war in allen Zügen der reizenden Bildung dieser sanften Blondine ausgedrückt; ihr Ton stimmte mit ein und rief in mir die Erinnerung des jähen Verderbens zurück, welches meine kaum ausgesäete Hoffnung betroffen hatte. Meine eignen Leiden haben die Empfindung der Menschlichkeit in mir erhöhet, und ich fühlte nun ihre Sorgen so stark, als ich die Vorstellung der Glückseligkeit der andern empfunden hatte.

»Vergeben Sie mir, liebe Madam C-! (sagte ich), ich erkenne, daß ich gegen Sie die beinahe allgemeine Unbilligkeit ausübte, zu fodern; daß Sie in alle Gründe meiner Denkensart eingehen sollten; und ich foderte es um so viel eifriger, als ich von der innerlichen Güte meiner Bewegursachen überzeugt war. Warum hab' ich mich nicht früher an Ihren Platz gestellet; die Seite, welche Sie von meinen Vorschlagen sehen, hat in Wahrheit viel Abschreckendes, und ich werde, ohne Ihnen unrecht zu geben, nichts mehr von allem diesem reden.«

»Es freut mich, daß Sie mit mir zufrieden scheinen; aber Sie[229] haben mir viele Unruhe und Mißvergnügen über mich selbst gegeben.«

Ich fragte sie eilig, wie und worin?

»Durch die Vorstellung aller dieser Gelegenheiten glückliche Personen zu machen. Mein Widerwille und Ausweichen schmerzt mich; ich möchte es in irgend etwas anders ersetzen. Können Sie mir nichts bei Ihrem Gesindhause zu tun geben?«

Sie bekam ein freimütiges Nein zur Antwort. »Aber«, sagte ich lächelnd, da ich sie bei der Hand nahm, »ich möchte mir bald das Gefühl Ihrer Reue und die Begierde des Ersatzes zunutze machen und Sie verbinden, daß, da Sie durch Ihr eigen Herz keinen Mann mehr glücklich machen wollen, Sie die liebreiche Mühe nähmen, durch Ihren Umgang und gefällten Unterricht den Töchtern Ihrer Verwandten und Freunde Ihre edle Denkungsart mitzuteilen und dadurch Ihrem Wohnorte liebenswürdige Frauenzimmer zu bilden und für der Madam Hills gute Mädchen auf Ihrer Seite gute Frauen zu ziehen.«

Dieser Vorschlag gefiel ihr; aber gleich wollte sie von mir einen Plan dazu haben.

»Das werde ich nicht tun, Madam C-, ich kann mich nicht von meinem Selbst so losmachen, daß der Plan zu Ihrer Absicht und Ihrem Vergnügen zugleich paßte. Sie haben Klugheit, Erfahrung, Kenntnis der Gewohnheiten des Orts und ein Herz voll Freundlichkeit. Diese vereinigte Stücke werden Ihnen alles anweisen, was zu diesem Plan das Beste sein kann.«

»Daran zweifle ich sehr; sagen Sie mir nur ein Buch, darin ich eine Ordnung für meinen Unterricht finden würde.«

»Nach der Ordnung eines Buchs zu verfahren, würde Sie und Ihre junge Freundinnen bald müde machen. Diese sind nach verschiedener Art erzogen; die Umstände der meisten Eltern leiden keine methodische Erziehung, auch funfzehnjährige Mädchen, wie die Gespielinnen Ihrer Tochter, gewöhnen sich nicht gerne mehr daran. Sie sollen auch keine Schule halten; nur einen zufälligen abwechselnden Unterricht in dem Umgange mit dem jungen Frauenzimmer ausstreuen. Zum Beispiel: es klagte eine über den Schnee, der während der Zeit fiel, da sie bei Ihnen zum Besuch wäre, und sie wegen ihres Zurückgehens ungeduldig über die Beschwerde machte; – so[230] würden Sie fragen: ob sie nicht wissen möchte, woher der Schnee kömmt? – es kurz und deutlich erzählen, die Nutzbarkeit davon nach der weisen Absicht des Schöpfers anführen, sanft von der Unbilligkeit ihrer Klagen reden und ihr mit einem muntern liebreichen Ton in dem heut unangenehmen Schnee nach etlichen Tagen das Vergnügen einer Schlittenfahrt zeigen. Dieses wird Ihre jungen Zuhörerinnen auf die Unterredungen von schöner Winterkleidung, schöner Gattung Schlitten usw. führen. Unterbrechen Sie selbige ja nicht durch irgendeine ernste oder mißvergnügte Miene; sondern zeigen Sie, daß Sie gerne ihre verschiedenen Gedanken anhörten. Sagen Sie etwas vom guten Geschmack in Putz, in Verzierungen und wie Sie ein Fest anstellen und halten würden; lassen Sie Ihren Witz; alles dieses mit der Farbe der heitersten Freude malen. Gestehen Sie Ihren jungen Leuten das Recht ein, diese Freude zu genießen, und setzen Sie mit einem zärtlichen rührenden Ton dazu, daß Sie aber Sorge haben würden, den Schauplatz dieser Ergötzlichkeit durch die Fackeln der Tugend und des feinen Wohlstandes zu beleuchten.

Bei dieser ersten Probe können Sie die Herzen und Köpfe Ihrer Mädchen ausspähen; aber ich müßte mich sehr betrügen, wenn sie nicht gerne wiederkämen, Sie von etwas reden zu hören.«

»Das denke ich sicher; aber erlauben Sie mir einen Zweifell Sie führen das Mädchen zur physikalischen Kenntnis des Schnees und zum moralischen Gedanken der Wohltätigkeit Gottes darüber; aber wird nicht die Schlittenfahrt das Andenken des erstern auslöschen und also den Nutzen des ernsten Unterrichts verlieren machen?«

»Dies glaube ich nicht; denn wir vergessen nur die Sachen gerne, die mit keinem Vergnügen verbunden sind; und die lächelnde, zu der Schwachheit der Menschen sich herablassende Weisheit will daher, daß man die Pfade der Wahrheit mit Blumen bestreue. Die Tugend braucht nicht mit ernsten Farben geschildert zu werden, um Verehrung zu erhalten; ihr inneres Wesen, jede Handlung von ihr ist lauter Würde. Würde ist ein unzertrennbarer Teil von ihr, auch wenn sie in der Kleidung der Freude und des Glücks erscheint. In dieser Kleidung allein[231] erhält sie Vertrauen und Ehrfurcht zugleich. Lassen Sie sie die Hand ja niemals zu strengem Drohen, sondern allein zu freundlichem Winken erheben! Denn, solange wir in dieser Körperwelt sind, wird unsere Seele allein durch unsere Sinnen handeln; wenn diese auf eine widerwärtige Weise und zu unrechter Zeit zurückgestoßen werden, so kommen aus dem Kontrast des Zwanges der Lehre und der Stärke der durch die Natur in uns gelegten Liebe zum Vergnügen lauter schlimme Folgen für den Wachstum unsers moralischen Lebens hervor. Umsonst hat der Schöpfer die süßen Empfindungen der Freude nicht in uns gelegt; umsonst uns nicht die Fähigkeit gegeben, tausenderlei Arten des Vergnügens zu genießen. Mischen Sie nur eine fröhliche Tugend unter den Reihen der Ergötzlichkeiten, und sehen Sie, ob die junge Munterkeit noch vor ihr fliehen und in entlegenen Orten, mit Unmäßigkeit und wilder Lust vereinigt, sich über versagten Freuden schadlos halten wird. Gibt nicht die göttliche Sittenlehre selbst reizende Aussichten in ewige, himmlische Glückseligkeiten, wenn sie uns auf die Wege der Tugend und Weisheit leitet?«

Das schöne Auge der Madam C- war mit einem staunenden Vergnügen auf mich geheftet. Ich bat sie um Verzeihung, so viel geredet zu haben; sie versicherte mich aber ihrer Zufriedenheit und wollte wissen: warum ich nicht lieber gesucht hatte, als Hofmeisterin junger Frauenzimmer zu erscheinen, als eine Lehrerin von angehenden Dienstmädchen abzugeben?

Ich sagte ihr: weil ich in Vergleichung des Anteils von Glückseligkeit, so jedem Stande zugemessen wurde, den von der niedrigen Gattung so klein und unvollständig gefunden, daß ich mich freute, etwas dazuzusetzen. »Die Großen und Mittlern haben mündlichen und schriftlichen Unterricht neben allen Vorteilen des Reichtums und Ansehens; und die geringe, so nützliche Klasse bekömmt kaum den Abfall des Überflusses von Kenntnissen und Wohlergehen.«

»Sie reden von Kenntnissen; soll ich suchen meine junge Frauenzimmer gelehrt zu machen?«

»Gott bewahre Sie vor diesem Gedanken, der unter tausend Frauenzimmern des Privatstandes kaum bei einer mit ihren Umständen paßt! Nein, liebe Madam C-, halten Sie sie zur[232] Übung jeder häuslichen Tugend an; aber lassen Sie sie daneben eine einfache Kenntnis von der Luft, die sie atmen, von der Erde, die sie betreten, der Pflanzen und Tiere, von welchen sie ernähret und gekleidet werden, erlangen; einen Auszug der Historie, damit sie nicht ganz fremde dasitzen und Langeweile haben, wenn Männer sich in ihrer Gegenwart davon unterhalten, und damit sie sehen, daß Tugend und Laster beständig einen Kreislauf durch das ganze menschliche Geschlecht gemacht haben; lassen Sie sie jedes Wort, so eine Wissenschaft bezeichnet, verstehen. Zum Ex. was Philosophie, was Mathematik sei – aber von der Bedeutung des Ausdrucks edle Seele, von jeder wohltätigen Tugend geben Sie ihnen den vollkommensten Begriff, teils durch Beschreibung, teils und am meisten durch Beispiele von Personen, welche diese oder jene Tugend auf eine vorzügliche Art ausgeübt haben.«

»Soll ich sie auch Romane lesen lassen?«

»Ja, zumal da Sie es ohnehin nicht werden verhindern können. Aber suchen Sie, soviel Sie können, nur solche, worin die Personen nach edlen Grundsätzen handeln und wo wahre Szenen des Lebens beschrieben sind. Wenn man das Romanenlesen verbieten wollte, so müßte man auch in Gesellschaft vermeiden, vor jungen Personen bald einen kurzen, bald weitläufigen Auszug von einer Liebesgeschichte zu erzählen, die in der nämlichen Stadt oder Straße, wo man wohnt, vorging; unsere Vater, Männer und Brüder müßten nicht so viel von ihren artigen Begebenheiten und Beobachtungen auf Reisen usw. sprechen; sonst machte auch dieses Verbot und die Gegenübung wieder einen schädlichen Kontrast. Ein vortrefflicher Mann und Kenner des Menschen wünscht, – daß man jungen Personen beiderlei Geschlechts zur Stillung der Neugierde die meisten großen Reisebeschreibungen gäbe, wo von der Naturhistorie und den Sitten des Landes viel vorkömmt, weil dadurch viele nützliche Wissenschaft in ihnen ausgebreitet würde. – Moralische Gemälde von Tugenden aller Stände, besonders von unsrem Geschlechte, möchte ich gesammlet haben; und darin sind die Französinnen glücklicher als wir. Das weibliche Verdienst erhält unter ihnen öffentliche und dauernde Ehrenbezeigungen.«[233]

»Vielleicht aber verdienen wir mehr als sie, weil wir uns auch ohne Belohnung um Verdienste bemühen.«

»Dies ist wahr, aber nur für die kleine Anzahl von Seelen, die sich über alle Schwierigkeiten erheben, die sie antreffen, und worüber andre durch nichts als Ermunterungen siegen. Ich möchte daher in jeder Standesklasse Beispiele aufstellen, die aus ihrem Mittel gezogen waren, damit man sagen könnte: ihre Geburt, ihre Umstände waren wie die eurige; der Eifer der Tugend und die gute Verwendung ihres Verstandes haben sie verehrungswert gemacht. Ein vorzüglicher Platz in einer öffentlichen Versammlung, ein besonderes Stück Kleidung könnte den Wert der Belohnung erhalten, wie es die alten großen Kenner der menschlichen Herzen gemacht haben. Aber wir sind nicht mit dem Auftrag beladen, diese Einrichtung anzuordnen, sondern allein mit der Pflicht, so viel Gutes zu tun, als wir können. Ich stehe wirklich in dem Kreise armer und dienender Personen; also achte ich mich verbunden, diese durch Unterricht und Beispiel zu ihrem Maß von Tugend und Glück zu führen; wobei ich aber sehr vermeiden werde, ihnen Begriffe oder Gesinnungen einzuflößen, die meinen glänzenden und angesehenen Umständen gemäß waren, weil ich fürchten würde, daß aus der vermischten Denkensart vermischte Begierden und Wünsche mit allen ihren Fehlern entstehen möchten. Sie sind eine Witwe von erstem Range Ihres Orts. Ihre Leutseligkeit, Ihr vernünftiger angenehmer Umgang macht, daß Sie von allen Personen Ihres Standes gesucht werden. Sie haben eine Tochter zu erziehen. Sie würden also an allen Mädchen ihres Alters und Standes Edelmütigkeit ausüben, wenn diejenigen unter denselben mit bei den Lehrstunden Ihrer Tochter wären, deren Mütter durch Haussorgen oder kleinere Kinder verhindert sind, mit ihren Töchtern viel zu lesen oder zu reden. Machen Sie sie denken und handeln, wie Frauenzimmer vom Privatstande es sollen, um in ihrer Klasse vortrefflich zu werden. Dieses wird das einzige Mittel sein, womit Sie den Schaden ersetzen können, welchen Sie durch den Vorsatz verursachen, unverheiratet zu bleiben.« – Sie lächelte über dieses und über meine Abbitte, ihr eine Vorschrift gemacht zu haben, und gab mir alle Merkmale von Freundschaft und Zufriedenheit.[234]


Madam Leidens an Emilien

Ungern, sehr ungern, meine Emilia, begleite ich die Madam Hills ins Bad. Es ist wahr, meine Gesundheit zerfällt, und ich erkenne, daß ich die Hülfe brauche, die mir die Wasserkur verspricht: denn mein stillschweigender Gram benagt die Kräfte meines Körpers, und der jastige Eifer, den ich diese Zeit über in mein moralisches Leben legte, hat auch vieles zu der Schwächlichkeit beigetragen, über welche Sie, liebe Freundin, so jammerten, als ich die letzten zehn glücklichen Tage bei Ihnen zubrachte. Ihr Mann hat gestern meinen Widerwillen überwältigt, aber allein damit, daß er die erste Woche bei uns bleiben wird; bis dahin, hofft er, werde mein Haß gegen große und fremde Gesellschaft gemindert sein. Er behauptet auch, daß mein Herz diesen Winter über alle Kräfte meines Geistes in Dienstbarkeit gehalten und ermüdet hatte und daß dieser sich allein in freier Luft und durch Umgang erholen würde. Ich bin so hager und blaß, meine Augen, denen man Anzüglichkeit zuschrieb, erheben sich so selten, und meine Kleidung ist so einfach, daß ich keine Verfolgungen von Mannsleuten zu befürchten habe. Also auf zwei Monate adieu, liebste Freundin; morgen früh reisen wir mit Ihrem Manne, einem Aufwartmädchen und einem Bedienten ab.


Madam Leidens an Emilien aus Spaa

Sagen Sie mir, meine Freundin, woher kommt die Gewalt, mit welcher Ihr Mann über meine Seele herrschet? Erst führte er mich in den geschäftigen Kreis, den ich bei Madam Hills durchlief; dann brachte er mich, ungeachtet meines Widerstandes, nach Spaa, macht mich den vierten Tag mit Lady Summers bekannt, und nun, meine Liebe, bin ich durch seine Hände an die Lady gebunden, und ich werde mit ihr nach England gehen. Sie wissen von ihm, daß unsere Reise glücklich war, daß der Reichtum der Madam Hills uns vier sehr bequeme Zimmer verschaffte und uns ein Ansehen gibt, so wir nicht einmal[235] suchten. – Er ging gleich den ersten Abend zur Lady; den zweiten Tag wies er mir sie auf dem Spaziergang. Ihre Gestalt ist edel, obgleich sehr schwächlich; ihre Gesichtsbildung lauter Leutseligkeit; ihr schönes großes Auge voller Empfindung und alle ihre Bewegungen Würde voller Anmut. Sie grüßte und betrachtete uns zwei Frauenzimmer mit Aufmerksamkeit, ohne uns etwas zu sagen, ob sie schon den Herrn B. von uns wegrief. Den folgenden Tag nahm sie ihn auch von unsrer Seite weg zum Mittagsessen und sagte nur auf englisch zu mir: »Diesen Abend sollen Sie meine Gesellschaft sein.« – Als ich mich verbeugt hatte und antworten wollte, war sie schon weit weg. Aber ich würde auch gestottert haben, denn Sie können nicht glauben, was für einen Schmerzen der Seele ich bei dem wahren Akzent der englischen Sprache fühlte; schnell wie die Wirkung des Blitzes fühlte ich ihn und ebenso schnell drangen sich traurige Erinnerungen und Bilder in meine Seele. Gut war es, Emilia, daß die Lady mich nicht gleich mit sich begehrte, meine Verlegenheit war zu sichtbar. Abends speisete Madam Hills und Herr B. mit mir bei der Lady; sie war sehr gütig, aber mit untersuchenden Blicken war ihr Auge bei allem, was ich vornahm und redete. Sie lobte Madam Hills wegen der Stiftung des Gesindhauses und setzte hinzu, daß sie ihrem Beispiel folgen und auch eins in England errichten wollte. Herr B., welcher der Madam Hills dieses übersetzte, machte der guten Frau viele Freude damit, und ihr redliches Herz lächelte durch tränende Augen, da sie schnell meine Hand nahm und zu Herrn B. sagte: er möchte die Lady unterrichten, daß sie nur ein überflüssiges Geld, ich aber die Erfindung dazu gegeben hätte. Ich errötete außerordentlich dabei, und die Lady streichelte meine Wangen, indem sie sagte: »Das ist gut, meine Tochter, wahre Tugend muß bescheiden sein.«

Die Achtsamkeit, welche ich hatte, Madam Hills zu unterhalten und ihr alles zu übersetzen, wovon die Lady mit mir oder Herrn B. in gleichgültigen Dingen redte, erhielt auch den ganzen Beifall der Lady.

»Sie muß noch gute Tage erleben,« sagte sie, »weil ihre Tugend das Alter glücklich zu machen sucht.«

Diese Anweisung auf meine künftige Tage bewegte mein[236] Innerstes, und unmöglich war's, meine Augen trocken zu erhalten. Die Lady sah es und neigte sich gegen mich mit festem, zärtlichem Blick.

»Arme, gute Jugend,« sagte sie, »ich weiß eine Hand, die alle deine künftige Zähren abwischen wird.«

Ich verbeugte mich und sah Herrn B. an; er antwortete mir mit muntern Nicken; die Lady winkte ihm. »Heute nichts«, sagte sie; »aber morgen sollen Sie alles versichern.«

Und dieser Morgen war vor sechs Tagen, wo mein Herz zwischen Vorschlägen und Entschließungen wankte und endlich auf dem Gedanken befestigt wurde, dieses Jahr bei der Lady auf ihrem Landhause zuzubringen und künftige Wasserszeit wieder mit ihr zurückzukommen.

Nach London würde ich nicht gegangen sein; Gott bewahre mich vor der Gelegenheit, Engländer, die ich schon kenne, zu sehen! Aber keiner von diesen wird eine alte Frau in ihrem einsamen Wohnorte suchen, und ich kann ruhig meine lange Begierde stillen, dieses Land zu sehen und nach der Familie Watson mich zu erkundigen. Herr B. hat der Madam Hills eine Pflicht daraus gemacht, mich nicht aufzuhalten, weil ich ein Gesindhaus einrichten solle, und hat sie am meisten durch den Gedanken beruhiget, daß es in England heißen werde, es sei nach dem Plan des ihrigen und durch ihr edles Beispiel erbauet worden.

Meine Lady, Emilia, – o! diese ist ein Engel, der lange Jahre unter den Menschen wandelte, um den süßen Balsam der edelsten Freundschaft in fühlbare Seelen zu gießen. Meine Seele lebt wieder ganz auf.


Madam Leidens an Emilia aus Summerhall

Mein erster Brief hat Ihnen schon gesagt, daß ich glücklich, sehr glücklich mit der gütigen Lady angelangt bin. Ich hoffe auch, meine Rosine und Herr B. sind ebenso wohl zurückgekommen. Es war mir leid, daß Rosina nicht über die See wollte; Übelkeit macht sie, aber es ist leicht zu überstehen.

Gewiß haben Sie schon Beschreibungen von englischen[237] Landhäusern gelesen. Denken Sie sich das schönste im alten Geschmacke davon und nennen es Summerhall; legen Sie aber an die Seite des Parks ein großes, hübsches Dorf, und stellen Sie sich meine Lady und mich vor, wie wir, einander im Arme, die Gassen durchgehen, mit Kindern oder Arbeitern reden, einen Kranken besuchen und den Bedürftigen Hülfe reichen. Dies ist nachmittags und abends das Geschäfte meiner Lady; morgens lese ich ihr vor und besorge ihr Haus; Besuche, die sie von der wenigen Nachbarschaft erhält, und der Umgang mit dem vortrefflichen Pfarrherrn des Orts füllen das übrige der Zeit so aus, daß mir wenig zu meinem besondern Lesen übrig bleibt. Die Bücher, welche sich meine Lady ausgesucht hat, bezeichnen den Nationalgeist und die Empfindung der sich immer nähernden Grenzen ihres Lebens. Jenes Fach füllen die Geschichtschreiber von England und die Hofzeitungen, dieses die besten englischen Prediger aus. Ich habe mir die Naturhistorie von England dazugenommen, und hievon reden wir in den Spaziergängen mit des Pfarrers Familie, weil seine Frau und zwo Töchter sehr vernünftig sind und ich meine Lieblingskenntnisse gern vermehre und ausbreite. Ich bin wohl und genieße einer sanften Zufriedenheit, die aber eher einer Beruhigung als einem Vergnügen gleichet, indem ich die eifrige Geschäftigkeit nicht in mir fühle, welche sonst meine Empfindungen und Gedanken beherrschte. Vielleicht hat mich der Hauch der sanften Schwermut getroffen, welche die besten Seelen der britischen Welt beherrschet und die lebhaften Farben des Charakters wie mit einem feinen Duft überzieht. Ich habe meine Laute und meine Stimme wieder hervorgesucht; beide sind mir unschätzbar, wenn ich bei meinem Singen meine Lady mir einen Kuß zuwerfen oder bei einem wohlgespielten Adagio ihre Hände falten sehe. Aber urteilen Sie überhaupt, wie stark meine Liebe zu England sein mußte, da ich, ungeachtet der grausamen Erinnerungen, die ich von einem Eingebornen habe, dennoch mit einiger Freude die Luft eines Parks atme und dieses Land für mein väterliches Land ansehe. Ich habe die Kleidung und den Ton der Sprache ganz und wünschte auch das Tun und das Bezeigen der Engländerinnen zu haben; aber meine Lady sagt, daß alle meine Bemühungen[238] den liebenswürdigen fremden Genius nicht verjagen würden, der jede meiner Bewegungen regierte. Das Vertrauen ihrer Leute, welches ich erworben, die außerordentliche Aufmerksamkeit auf ihre Lady und die Ergebenheit, die sie ihr beweisen, welches sie als Folgen von jenem ansieht und meinem Einfluß auf ihre Gemüter zuschreibt, dies ist von allem, was ich für sie tue, dasjenige, wovon sie am meisten gerührt scheint und wofür sie mir die zärtliche Dankbarkeit bezeugt. Wenige Abende bin ich hier ohne Empfindung einer reinen Glückseligkeit schlafen gegangen, wenn mich die gute alte Lady aus ihrem Bette segnete und ihre Hausbediente mit zufriedner Miene und einem liebenden Ton mir gute Ruhe wünschten; und mit einer süßen Bewegung gehe ich morgens bei Aufgang der Sonne in den Park, wo der Hirt mich wundernd ansieht und mir mit seinem Knaben guten Morgen, gute Miß, zuruft. Dieser Zuruf dünkt mich in dem Augenblick, wo ich auf der Flur die Wohltaten Gottes verbreitet sehe, ein Zeugnis zu sein, daß ich auch gerne die Pflicht des Wohltuns übe; mit tränenden Augen danke ich dann unserm Urheber, daß er mir diese Macht meines Herzens gelassen hat. Sie wissen, daß mir ein Mooswäldchen und die geringsten Arten von Blümchen vergnügte Stunden geben können; und sie denken also wohl, daß ich in unserm Park diese alten Freunde meiner besten Lebenszeit aufsuche und mit Rührung betrachte. Denn immer binden sich in mir die Ideen des Vergangenen mit der Empfindung des Gegenwärtigen bei allen Anlässen zusammen. Ein freundliches Moos und Zweige, die aus der Wurzel eines gestürzten Baums aufgewachsen waren, machten mich sagen: bin ich nicht wie ein junger Baum, der in seiner vollen Blüte durch Schläge eines unglücklichen Schicksals seiner Krone und seines Stammes beraubt wurde? Lange Zeit steht der Überrest traurig und trocken da, endlich aber sprossen aus der Wurzel neue Zweige hervor, die unter dem Schutz der Natur wieder stark und hoch genug werden können, in einem gewissen Zeitlauf wieder wohltätige Schatten um sich zu verbreiten. Mein Ruhm, mein glückliches Aussehen, meine Stelle in der großen Welt hab' ich verloren; lange betäubte der Schmerz meine Seele, bis die Zeit meine Empfindlichkeit verringerte, die Wurzeln meines Lebens,[239] welche mein Schicksal unberührt ließ, neue Kräfte sammelten und die guten Grundsätze meiner Erziehung frische, obwohl kleine Zweige von Wohltätigkeit und Nutzen für meine Nebenmenschen emportrieben. Sie sind, wie die Wurzelzweige meines Ebenbildes bei niedrigem Moos und kleinen Grasarten aufkeimten, auch unter der geringen Klasse meiner Nebenmenschen entsprossen; aber es erfreut mich, diese Klasse in der Nahe gesehen zu haben; denn ich habe manche schöne Blume darunter entdeckt, die dem erhabenen Haupte eines großen hochgewachsenen Baums unbekannt verblühet; und kann ich nicht zu meinem süßesten Troste sagen, daß unter dem Schatten meines Umgangs und meiner Sorgen die freigebige Aussaat der liebreichen Stifterin des Gesindhauses so viele nützliche Kreaturen erwachsen macht? Und nun ruht das edle Herz meiner geliebten Lady Summers von großen und kleinen Lebenssorgen ungestört unter der Vereinigten Bemühung aller meiner Fähigkeiten und meiner Dankbegierde von den mühsamen Schritten aus, welche das sechzigste Jahr unsers Alters zwischen fliehenden Freuden und ankommenden Schwächlichkeiten zu machen hat.


Madam Leidens an Emilien

Nicht wahr, meine Emilia, es gibt Reiche, die eine Art von Mangel fühlen, welchen sie durch Häufung aller Arten von Ergötzlichkeiten zu heben suchen, und dennoch dem Übel nicht abhelfen können, weil sie von niemand unterrichtet wurden, daß unser Geist und Herz auch ihre Bedürfnisse haben, zu deren Befriedigung alles Gold von Indien und alle schönen wollüstigen Kostbarkeiten Frankreichs nichts vermögen, weil die wahren Hülfsmittel dagegen allein in der Hand eines empfindungsvollen Freundes und in einem lehrreichen und unterhaltenden Umgang zu finden sind. Wie klein ist die Anzahl glücklicher Reichen, welche diese Vorteile kennen? Würklich bin ich im Besitze mancher angenehmen Güter des Lebens, ich fühle den vergnügenden Reiz, welcher darin liegt, ich genieße die Geschenke des Glücks mit aller Empfindung, welche das[240] Schicksal für diese Gaben fordern kann; aber es mangelt meinem Herzen der Busen einer vertrauten Freundin, in den es das Übermaß seiner Empfindungen ausgießen könnte. Ich bin beliebt; meine hie und da mit Bescheidenheit erscheinende Grundsätze ziehen mir Verehrung zu; das Gefühl der Schönheiten Shakespeares, Thomsons, Addisons und Popes haben meinem Geiste eine neue lebendige Nahrung in den Unterhaltungen unsers Pfarrers und eines sehr philosophisch denkenden Edelmanns in der Nachbarschaft erworben. Die älteste Tochter des Pfarrers ist sanft, gefühlvoll und dabei mit wahrem Verstande begabt; ich liebe sie; aber mitten in einer zärtlichen Umarmung empfinde ich, wie viel mein Herz noch zu wünschen hat, um den Ersatz für meine Emilia zu erhalten. Schelten Sie mich deswegen nicht undankbar; ich weiß, daß ich Ihre Freundschaft noch besitze und die von der liebenswürdigen Emma zugleich habe; Ihnen schreibe ich von dem Teile meiner Seele, den ich hier nicht zeigen kann, und mit Emma rede ich von dem, der in dem Zirkel meines englischen Aufenthalts sichtbar wird; aber ich kann mich nicht verhindern, die Lange des Weges abzumessen, den meine armen Briefe durchlaufen müssen, bis sie zu Ihnen kommen, und zu fühlen, daß diese Entfernung der liebsten Gewohnheit meines Herzens schmerzlich fallt. Vielleicht, meine Emilia, bin ich bestimmt, die ganze Reihe moralischer Empfindnisse durchzugehen, und werde dadurch geschickt, mit schneller Genauigkeit ihre mannigfaltige Grade und Nüancen im Bittern und Süßen zu bemerken. Ich will mich auch diesem Teile meines Geschickes gerne unterwerfen, wenn ich nur zugleich den nämlichen Grad von Fühlbarkeit für alles Weh und Wohl meines Nächsten behalte und, so viel ich kann, seine Leiden zu vermindern suche.

Lady Summers hat zu gleicher Zeit für ihre Ehre und für meinen vermuteten Stolz zu sorgen geglaubt, da sie mich als eine Person von sehr edlem Herkommen dargestellt hat, welche elternlos sich mit wenigem Vermögen verheuratet und ihren Mann gleich wieder verloren hätte. Meine Hände, meine feine Wasche und Spitzen, die in Feuer so schön gemalten Bildnisse meiner Eltern und der Ton meines gesellschaftlichen Bezeugens haben mehr zu Bekräftigung dieser Idee beigetragen, als[241] meine eigentliche Denkungsart hätte tun können. Aber ein schönes und für die Tugend der Lady Summers fest errichtetes Denkmal ist der Glaube an die Reinigkeit meiner Sitten, in welche, weil sie mich liebt, keine Seele den geringsten Zweifel setzt; denn, sagt der Pfarrer, die Luftsäule, in welcher die Lady atme, wäre so moralisch geworden, daß der Lasterhafte sich ihr niemals nähern würde. Denken Sie nicht mit mir, daß dieses die erhabenste Stelle des wahren Ruhms ist? O was für ein Kenner der Menschen, des Guten und Edlen ist Ihr Mann, der mir in den ehrwürdigen Falten der Stirne meiner Lady alles dies zeigte, als er mir in ihrem Hause die Bestärkung meiner Tugend und Übung meiner Geisteskräfte versprach! Lord Rich, der philosophische Edelmann, von dem ich im Anfange dieses Briefes schrieb, hat sein Haus nur eine Meile von hier; es ist ganz einfach, aber in dem edelsten Geschmacke gebauet. Die besten Auszierungen des Innern bestehen aus verschiedenen schönen Sammlungen von Naturalien, aus einem vollständigen Vorrat mathematischer Instrumenten und einer großen Büchersammlung, worunter zwanzig Folianten sind, in denen er beinahe alle merkwürdige Pflanzen des Erdbodens mit eigner Hand getrocknet hat. Sein wohlangelegter Garten, in welchem er selbst arbeitet, und sein Park, der an den unsern stößt, haben uns das erstemal angelockt hinzugehen. Aber die simple deutliche Art, womit er uns alle seine Schätze vorlegte und benennete, die großen asiatischen Reisen, welche er gemacht, und seine weitläuftige Kenntnis schöner Wissenschaften machen seinen Umgang so reizend, daß die Lady selbst entschlossen ist, ihn öfters zu besuchen, weil es ihr, wie sie sagt, sehr erfreulich ist, nah an dem Abend ihres Lebens so ergötzende Blicke in die Schöpfung zu tun. Lord Rich, der bisher ganz einsam gelebet und niemand als den Pfarrer zu sehen pflegte, ist sehr vergnügt über unsre Bekanntschaft und kömmt oft zu uns. Sein Tun und Lassen scheint mit lauter Ruhe bezeichnet zu sein, gleich als ob seine Handlungen die Natur der Pflanzenwelt angenommen hätten, die unmerksam, aber unablässig arbeitet; doch dünkt mich auch, daß sein Geist den moralischen Teil der Schöpfung nun ebenso untersuchend betrachtet, wie ehemals den physikalischen. Meine Emma und meine Lady Summers gewinnen viel[242] dabei; aber mich hat er schüchtern gemacht. Da ich letzthin seine Meinung über meine Gedanken wissen wollte, sagte er: »Gerne möchte ich von den Wurzeln der schönen Früchte Ihrer Empfindungen reden, aber wir erhalten sie nur von der Hand Ihrer Gefälligkeit, welche sie uns mitten aus dem dichten Nebel darbietet, der Ihr ursprüngliches Land beständig umgibt.« Ich fand mich in Verlegenheit und wollte mir durch den Witz helfen lassen, der ihn fragte: ob er denn meinen Geist für benebelt hielte? – Er sah mich durchdringend und zärtlich an; »gewiß nicht auf die Art, wie Sie meinen«, sagte er; »beweist nicht diese Träne in Ihren Augen, daß ich recht hatte, da ich Ihren Geist für umwölkt hielte? Denn warum kann die kleinste Bewegung Ihrer Seele diesen Nebel, wovon ich rede, in Wassertropfen verwandeln? Aber liebe Madam Leidens, ich will niemals mehr davon sprechen; aber fragen Sie auch mein Herz nicht mehr um sein Urteil von dem Ihrigen.«

Sehen Sie, Emilia, wieviel mir mit Ihnen fehlt; alle Empfindungen, die sich in mir zusammendringen, würde ich Ihnen sagen; da wäre mein Herz erleichtert und schien nicht durch diesen bemerkten Nebel hindurch. Ich war froh, mich genug zu fassen, um ihm in seinem physikalischen Ton zu antworten, daß er glauben möchte, diese Wolken würden durch meine Umstände und nicht durch die Natur meines Herzens hervorgebracht. »Ich bin es überzeugt«, sagte er, »auch sein Sie ruhig! es gehört alle meine Beobachtung dazu, dieses feine Gewölke zu sehen. Andere sind nicht so aufmerksam und erfahren, als ich es bin.« Unsere Unterredung wurde durch Miß Emma unterbrochen, und Mylord Rich trägt seitdem Sorge, daß er mich nicht zu genau betrachtet.


Madam Leidens an Emilia

Sagen Sie, meine Emilia, woher kömmt es, daß man auch bei der besten Gattung Menschen eine Art von eigensinniger Verfolgung eines Vorurteils antrifft. Warum darf ein edeldenkendes, tugendhaftes Mädchen nicht zuerst sagen, diesen würdigen Mann liebe ich? Warum vergibt man ihr nicht, wenn sie ihm[243] zu gefallen sucht und sich auf alle Weise um seine Hochachtung bemühet?18

Den Anlaß dieser Fragen gab mir Lord Rich, dessen Geist alle Fesseln des Wahns abgeworfen zu haben scheint und der allein der wahren Weisheit und Tugend zu folgen denkt. Er bezeugt eine Art Widerwillen gegen die zärtliche Neigung der Miß Emma, von welcher er doch allezeit mit der größten Achtung sprach, ihren Verstand, ihr Herz rühmte, alle ihre Handlungen seines Beifalls würdigte und den ihrigen liebte. Nun setzt er der sanften Glut, die seine Verdienste in ihrem Herzen angefacht haben, nichts als die kälteste Heftigkeit entgegen; und gewiß aus dem nämlichen Eigensinne fängt er an, mir, die ich außer meiner Hochachtung für seine Kenntnisse ganz gleichgültig gesinnt bin, eine anhaltende zärtliche Aufmerksamkeit, die mir Zwang antut, zu bezeugen. Ich unterdrücke zehnmal die Aussprüche einer Empfindung oder eines Gedankens, nur um seinen Beifall zu vermeiden und nicht einen Tropfen Öl wissentlich in das anglimmende Feuer zu gießen. Denn, da ich nicht geneigt bin, seine Liebe anzunehmen, warum sollte ich sie meiner weiblichen Eitelkeit zu gefallen vergrößern? Wir werden heute nach Mittag zu ihm gehen, um einem neuen Versuch von Besäung der Äcker mit einer Maschine zuzuschauen. Meine liebe Lady ist gar zu gerne dabei, wenn etwas umgegraben oder gepflanzet wird; jeder Tag, sagt sie, führt mich näher zu der Vereinigung mit unserer mütterlichen Erde, und ich glaube, daß dieses meine innerliche Neigung gegen sie bestärkt. Ich würde, liebste Emilia, einen glücklichen Tag gehabt haben, wenn nicht der Zufall wider mich und den guten Lord Rich gearbeitet hätte. Der Pfarrer war da, ich kam neben ihm zu sitzen, als uns Lord Rich von dem Feldbau und der Verschiedenheit der Erde und der nachher erfoderlichen Verschiedenheit des Anbaues redte. Sein Ton war edel, einfach und deutlich; er erzählte uns von den vielfachen Empfindungen, wozu der schlechte Ertrag der Güter die Landleute dieser und jener Nation getrieben hätte und wie weit ihre Mühe belohnt[244] worden sei. Da er zu reden aufhörte, konnte ich mich nicht hindern, den Pfarrer zuzulispeln, daß ich wünschte, die Moralisten möchten durch ihre Kenntnis der verschiedenen Stärke und Gattung angeborner Neigungen und Leidenschaften auch auf Vorschriften der mannigfaltigen Mittel geraten, wie alle auf ihre Art nützlich und gut gemacht werden könnten.

»Es ist schon lang geschehen«, sagte er, »aber es gibt zu viel unverbesserlichen moralischen Boden, wo der beste Bau und Samen verloren ist.«

»Es ist mir leid«, erwiderte ich, »daß ich denken muß, es gebe in der moralischen Welt auch sandige Striche, in denen nichts wächst – Heiden, die kaum kleines trocknes Gesträuche hervorbringen, und morastige Gegenden, welche die allgemeine moralische Verbesserung ebenso weit hinaussetzen, wie in der physikalischen viele Menschenalter vorbeigehen, ehe Not und Umstände sich vereinigen, den Sand mit Bäumen und Hecken durchzuziehen, um dadurch wenigstens zu verhindern, daß ihn der Wind nicht auf gutes Land treibe und auch dieses verderbe. Lange braucht's, bis man Heiden anbaut, Morästen ihr Wasser abzapft und sie nützlich macht; dennoch beweisen alle Ihre Versuche, daß die Tugend der Nutzbarkeit in der ganzen Erde liege, wenn man nur die Hindernisse ihrer Wirkung wegnimmt. Der Grundstoff der moralischen Welt hält gewiß auch durchgehends die Fähigkeiten der Tugend in sich; aber sein Anbau wird oft vernachlässiget, oft verkehrt angefangen und dadurch Blüte und Früchte verhindert. Die Geschichte beweist es, wie mich dünkt. Barbarische Völker werden edel, tugendhaft; andere, die es waren, durch Nachlässigkeit wieder verwildert: wie ein Acker, der einst Weizen trug und eine ganze Familie ernährte, durch Unterlassung des Anbaues Dornbüsche und schädliches Gehecke zu tragen anfängt.« – Mit ruhiger Geduld hörte der Pfarrer mir zu; aber Lord Rich, der sich hinter uns gesetzt hatte, stund auf einmal lebhaft auf, und indem er mich über meinen Stuhl bei den Armen faßte, sagte er gerührt: »O Madam Leidens, was haben Sie mit dem Ton Ihres Herzens in der großen Welt gemacht? Sie können nicht glücklich darin gewesen sein!« »Dannoch, Mylord«, antwortete ich, »man lernt da die wahre Verschiedenheit zwischen Geist und[245] Herz kennen und sieht, daß der erste als ein schöner Garten angelegt werden kann.« Mit Enthusiasmus sagte er: »Edelangebaute Seele, in einer gesegneten Gegend bist du erwachsen und die schöne Menschlichkeit pflegte dich!«

Aus Bewegung meines Herzens küßte ich die Bildnisse meiner Eltern, die ich immer an meinen Händen trage; Tränen fielen auf sie; ich ging ans Fenster; Lord Rich folgte mir; eine anteilnehmende Traurigkeit war in seinen Zügen, als ich nach einigen Minuten ihn ansah und er seine Blicke auf die Bilder heftete. »Dies sind die Bildnisse Ihrer Eltern, Madam Leidens, leben sie noch?« – sagte er sanft. – »O, nein, Mylord, sonst wäre ich nicht hier, und meine Augen würden nur Freudentränen zu vergießen haben.« – »Also hat Sie ein Sturm nach England geführt?« – »Nein, Mylord, denn Freundschaft und freie Wahl ist kein Sturm«, versetzte ich, indem ich mich zu lächeln bemühte. Lebhaft sagte Lord Rich, »Dank sei Ihrer halben Aufrichtigkeit, daß Sie mich Ihrer Freiheit zu wählen versichert. Die edelste Neigung, welche jemals ein Mann ernährte, wird auf diesen Grund ihre Hoffnung bauen.« »Das kann nicht sein, Mylord, denn ich sage Ihnen, daß die Eigentümerin dieses Grunds auf ewig mit der Hoffnung entzweiet ist.« Lady Summers war bei uns, als ich dieses sagte, und streckte bei den letzten Worten ihre Hand aus, mir den Mund zuzuhalten; »das sollen Sie nicht sagen«, sprach sie; »wollen Sie eigenmächtig die künftigen Tage zu den vergangenen werfen? Die Vorsicht wird Ihrer nicht vergessen, meine Liebe, machen Sie nur keine eigensinnigen Foderungen an sie.« – Dieser Vorwurf machte mich aus Empfindlichkeit erröten, ich küßte die Hand der Lady, mit welcher sie meinen Mund hatte zuhalten wollen, und fragte sie zärtlich; »teure Lady, wenn Sie mich eigensinnig in meinen Foderungen gefunden?« – »In Ihrer beständigen Traurigkeit über das Vergangene, wo Sie Zurückfoderungen aus dem Reiche der Toten machen«, war ihre Antwort. – »O meine geliebte würdige Lady Summers, warum, ach – warum –« Diese Ausrufung entfloh mir, weil ich, gerührt über ihre Güte, innig bedauerte, daß wir sie durch eine falsche Erzählung betrügen mußten; aber sie nahm es anders und fiel mir ein: »Meine Tochter, sagen Sie mir kein Ach warum mehr;[246] leiten Sie das Gefühl Ihres Herzens auf die Gegenstände der Zufriedenheit, die sich Ihnen anbieten, und zählen Sie auf meine mütterliche Zärtlichkeit, solange Sie sie genießen mögen.« Ich drückte ihre Hand an meine Brust und sah sie voll Rührung an mit dem vollkommensten Gefühle kindlicher Liebe; ihr Herz empfand es und belohnte mich durch eine mütterliche Umarmung. Lord Rich hatte uns mit Bewegung betrachtet, und ich sah den nämlichen Augenblick die schönen Augen der Emma voll schmelzender Liebe auf ihn geheftet. Ich sagte ihm auf italienisch, dort wären unvermischte Empfindungen, die allein fähig sein, die Tage eines edeldenkenden Mannes mit der feinsten Glückseligkeit zu erfüllen. Er antwortete in nämlicher Sprache: »Nicht so, Madam Leidens, denn diese Art Empfindlichkeit ist nicht diejenige, welche eine einsam wohnende Person beglücken kann.« Was wollte er damit sagen? Ich schüttelte den Kopf, halb mißvergnügt, und sagte nur: »O Mylord, von was für einer Farbe sind Ihre Empfindungen?« – »Von der allerdauerhaftesten, denn sie sind aus übender Tugend entstanden.« – Ich gab keine Antwort, sondern wandte mich, nach einer Verbeugung gegen ihn, zur Emma, die an meinem Arm, aber ganz in ein trauriges Stillschweigen gehüllt, nach Summerhall zurückging; und nun höre ich, daß sie wegreisen wird.


Madam Leidens an Emilia

Überfluß ist, wenn Sie ihm die Gewalt der Wohltätigkeit nehmen, kein Glück, meine liebe Emilia; er zerstört den echten Gebrauch der Güter, er zerbricht in der Seele des Leichtsinnigen die Schranken unserer Begierden, schwächt das Vergnügen des Genusses und setzt, wie ich erfahre, ein grausames Herz und seine mäßigen Wünsche in eine Art unangenehmer Verlegenheit. – Sie wissen vermutlich nicht, meine Freundin, wo Sie die Ursache dieses Ausfalls auf einen Zustand, der von meinem dermaligen so weit entfernt ist, suchen sollen. Aber Sie wissen doch, daß mich alle Gegenstände auf eine besondere Art rühren, und werden sich nicht wundern, wenn ich Ihnen sage, daß die Gesinnungen des Lord Rich der eigentliche Anlaß zu[247] meiner unmutigen Betrachtung des Überflusses waren. Er verfolgte mich mit Liebe, mit Bewunderung, mit Vorschlägen und (was mir Kummer macht) mit der Überzeugung, daß ich ihn glücklich machen würde. O, hatte ich denken können, daß die Sympathie unsers Geschmacks an den Vergnügungen und Beschäftigungen des Geistes in ihm die Idee hervorbringen würde, daß ich auch eine sympathetische Liebe empfinden müßte, so sollte er nicht die Hälfte der Gewalt gesehen haben, womit die Reize der Schöpfung auf meine Seele würken, und niemals hätte ich mich in Gespräche mit ihm eingelassen. Aber ich war um so ruhiger, da ich wußte, daß er ein niedliches Bild griechischer Schönheiten von der Insel Scio mit sich gebracht und in seinem Hause hatte. Ich hielt lange Zeit sein Ansuchen meiner Gesellschaft und das Ausfragen meiner Gedanken für nichts anders als für die Lust der Befriedigung meiner Lieblingsideen, weil ich, ohne die geringste Zerstreuung, mit ununterbrochener Aufmerksamkeit bald die Historie eines Landes, bald einer Pflanze, bald eines griechischen Ruins, bald eines Metalls, bald eines Steins anhörte, nicht müde wurde und ihm also die Freude gab, seine Kenntnisse zu zeigen und zu sehen, daß ich die edle Verwendung seines Reichtums und Lebens zu schätzen und zu loben wußte. Sein Umgang war mir durch seine Wissenschaft und Erzählungen unendlich wert; sein Entschluß, nach zehnjährigen Reisen durch die allerentferntesten Gegenden des Weltkreises seine übrigen Tage in Anbauung eines Teils seiner mütterlichen Erde zuzubringen, machte mir ihn vorzüglich angenehm; dieses erfreute mich; aber seine Liebe ist der Überfluß davon, der mich belästigt und in Verlegenheit setzt. Er hat sich bei der Lady um mich erkundiget; ihre Antwort hat seinen Eifer nicht vermehrt, aber anhaltender gemacht; und ein einziges Wort von mir gegen die Lady brachte ihn zu dem Entschluß, seine Griechin zu verheuraten und mit ihrem Manne nach London zu schicken. Sie können nicht glauben, wie schwer meinem Herzen dieses vermeinte Opfer wiegt, da er, wegen leerer Hoffnungen des künftigen Vergnügens meiner Gesellschaft, die Ermunterung von ihm entfernt, welche der Besitz des reizenden Mädchens ihm gegeben hatte. Sein Sekretär liebte sie, sagt er, schon lang, und das Mädchen ihn auch;[248] beide hätten ihn auf den Knien für ihre Vereinigung gedankt. Er fühlt aber das Leere, so ihre Abreise in seinem Herzen gelassen hat, denn er ist seitdem mit aufgehender Sonne in unserm Park und beraubt mich der Morgenluft, weil ich ihn vermeiden will, da er eine Anfoderung von Ersatz an mich zu machen scheint. Niemals, nein, niemals mehr werde ich den Witz um Hülfe bitten, mich aus einer Verwirrung zu reißen. Die Lady Summers hatte mit mir über die angehende Liebe des Lords gescherzt; ich widersprach ihr lange in gleichem Ton und behauptete, es wäre nichts als Selbstliebe, weil ich ihm so gerne zuhörte. Sie bestrafte mich ganz ernsthaft über diese Anklage: »Lord Rich verehret Ihre edle Wißbegierde, er sucht sie durch Mitteilung seiner Kenntnisse zu befriedigen, und seine Belohnung soll in dieser beißenden Beschuldigung bestehen ?« – Ich war gerührt, weil ich nicht einmal das Ansehen einer Ungerechtigkeit dulden kann und nun selbst eine ausübte; aber meine Lady fuhr ganz gütig fort, mir viele Beweise seiner zärtlichen Hochachtung zu wiederholen, die ich als wahre Kennzeichen der edelsten Neigung ansehen mußte. Ich gestund auch, daß sie eine Rückgabe verdienten; aber da sie bei allem, was ich von meinen freundschaftlichen Gegengesinnungen sagte, immer den Kopf schüttelte und mehr für den Lord foderte: so versicherte ich sie, daß es unmöglich sei, daß Lord Rich mehr von mir wünschen könnte, da er bei seiner schönen Griechin alles fände, was die Liebe beitragen könne, ihn glücklich zu machen. Sie schwieg freundlich und ließ mich nicht merken, sie dächte das einzige Hindernis meiner Verbindung mit Lord Rich entdeckt zu haben. Dieser war auch einige Tage still von seiner Liebe und sehr munter, besonders an dem, wo er mit dem ruhigsten und ungezwungensten Ton von der Heurat und Abreise seiner Assy redte. Ich war betroffen und fürchtete mich vor dem Erbteil seines ganzen Herzens, welches ihm ihre Heurat rückfällig machte; er sagt mir nichts, die Lady aber desto mehr. »Warum, liebste Lady, wollen Sie Ihre angenommene Tochter von sich entfernen? Bin ich Ihnen unangenehm geworden?« sagte ich. Sie reichte mir die Hand; »nein, mein Kind, Sie sind mir unendlich wert, und ich werde die zärtliche Besorgerin meines Alters gewiß vermissen; aber ich habe für[249] den Herbst meines Lebens Früchte genug gesammlet, ohne nötig zu haben, Ihren Frühling seiner schönsten Blüte zu berauben. Sie sind jung, reizend und fremde, was wollen Sie nach meinem Tode machen?« – »Wenn ich dieses Unglück erlebe, so gehe ich zu meiner Emilia zurück.«

»Liebe Leidens, bedenken Sie sich! ein Frauenzimmer von Ihrer Geburt und Liebenswürdigkeit muß entweder bei nahen Verwandten oder unter dem Schutz eines würdigen Mannes sein. Lord Rich hat Ihre ganze Hochachtung; der edle Mann verdient sie auch; Sie wissen, daß Sie ihn glücklich machen können; seine Freundschaft, sein Umgang ist Ihnen angenehm; Ihr Wille, Ihre Person ist frei; die edelsten Beweggründe leiten Sie zu dieser Verbindung; machen Sie Ihrer gefundenen Mutter die Freude, in Ihnen und dem Lord Rich die echten Bildnisse männlicher und weiblicher Tugend vereint zu sehen.«

So nahe drang die teure Lady in mich. Ich legte meinen Kopf auf ihre Hand, die ich küßte und mit den zärtlichsten Tränen benetzte; es war in meiner Seele, als ob ich den Widerhall der Stimme meiner geliebten zärtlichen Mutter gehört hätte. Ach, diese Tugenden waren das Band ihrer Ehe! Wie ungleich hatte ich gewählt! Die Verdienste des Lord Rich konnten Sie an die Seite der vortrefflichen Eigenschaften meines Vaters setzen; mein Glück wäre wie das ihrige gewesen; aber meine Verwicklung, meine unselige Verwicklung! – O, Emilia, schreiben Sie mir bald, recht bald Ihre Gedanken. – Aber ich kann nicht mehr lieben; ich kann mich nicht mehr verschenken; ja die zärtliche Achtung selbst, welche ich für den Lord Rich habe, empört sich wider diesen Gedanken. Mein Schicksal hat mich durch die Hand der Bosheit in den Staub geworfen; die Menschenfreundlichkeit nahm mich auf; an diese allein habe ich Ansprüche; meine Leichtgläubigkeit hat mich aller übrigen beraubet, und ich will kein fremdes, kein unverdientes Gut an mich ziehen.[250]


Madam Leidens an Emilia

O meine Freundin! ein neues unerwartetes Übel drängt sich mir zu. Ich zweifle, ob alle meine Standhaftigkeit hinreichen wird, es zu ertragen, da ich ohnehin gezwungen bin, zu meiner gehässigsten Feindin, der Verstellung, meine Zuflucht zu nehmen. Aber weil in meinen itzigen Umständen mehr Aufrichtigkeit mir nichts nützen und andern schaden würde, so will ich den fressenden Kummer in meine Brust verschließen und selbst für das Vergnügen des Urhebers meiner Leiden, die Überreste einer ehemals lächelnden Einbildungskraft verwenden. Hören Sie, meine Emilia, hören Sie, was für eine Rückkehr das Unglück macht, das Ihre Jugendfreundin verfolgt. Vor einigen Tagen mußte ich die ganze Geschichte von Lord Richs Herzen anhören; ihr letzter Teil enthielt die Abschilderung seiner Liebe für mich. »Es ist«, spricht er, »die Leidenschaft eines fünfundvierzigjährigen Mannes, die durch die Vernunft in sein Herz gebracht wurde, alle Kräfte meiner Erfahrung, meiner Kenntnis der Menschen bestärken sie.« – »Teurer Lord Rich, Sie betrügen sich; niemals hat die Vernunft für die Liebe gegen die Freundschaft gesprochen; Sie besitzen den höchsten Grad dieser edlen Neigung in meinem Herzen; lassen Sie –« »Nichts mehr, Madam Leidens, ehe Sie mich angehört haben. Meine Vernunft machte mich zu Ihrem Freund und wies Ihnen in meiner Hochachtung einen Platz an, den ich auch dem Verdienste eines Mannes würde gegeben haben.« – Hier rechnete er mir Tugenden und Kenntnisse zu, wovon ich sagen mußte daß ich sie für nichts anders als schöne Gemälde liebenswürdiger Fremdlinge betrachten könnte. »Und ich (fuhr er fort) muß Ihnen in erhöhetem Maße das feine Lob zurückgeben, welches die Bescheidenheit meiner schönen Landsmänninnen von einem Fremden erhielt, da Ihnen die Vorzüge Ihres Geistes ebenso unbekannt sind als jenen die Reize ihrer Gestalt.« Hierauf beschrieb er meine mir eigenen Weiblichkeiten, wie er sie nannte, als Früchte eines feurigen Genie und einer sanften empfindsamen Grazie, und machte aus diesem allen den Schluß, daß der Ton meines Kopfs und Herzens just derjenige wäre,[251] welcher mit dem seinigen so genau zusammenstimmte, als nötig sei, die vollkommenste Harmonie einer moralischen Vereinigung zu machen. – – Das Bild seiner Glückseligkeit folgte mit so rührenden Zügen, daß ich überzeugt wurde, er kenne alle Triebfedern meiner Seele und wisse, wohin mich der Gedanke vom Wohltun führen könne. Mit aller Feinheit der Empfindung zeichnete er einen flüchtigen Entwurf davon. O meine Emilia, es war der Abdruck meiner ehemaligen Wünsche und Hoffnungen im ehelichen Leben. Äußerst gerührt und bestürzt, konnte ich meine Tränen nicht zurückhalten. Er stund von der Rasenbank auf und ergriff meine beiden Hände; eine vieldenkende männliche Zärtlichkeit war in seinem Gesichte, als er mich betrachtete und meine Hände an seine Brust drückte. – »O Madam Leidens«, sagte er, »was für ein Ausdruck von tiefem Kummer ist in Ihren Gesichtszügen! Entweder hat der Tod Ihrem Herzen alle Freuden des Lebens und der Jugend entrissen, oder es liegt in Ihren Umständen irgendeine Quelle von bitterm Jammer verborgen. Sagen Sie, teure geliebte Freundin, wollen Sie nicht, können Sie nicht dieser Quelle einen Ausfluß in den Busen Ihres treuen, Ihres Sie anbetenden Freundes verschaffen?« Mein Kopf sank auf seine Hände, die noch immer die meinigen hielten. Mein Herz war beklemmter als jemals in meinem Leben. Das Bild meines Unglücks, die Verdienste dieses edelmütigliebenden Mannes, die schwere Kette meiner wiewohl falschen Verbindung, mein auf ewig verlornes Vergnügen bedrängten auf einmal meine Seele. Reden konnte ich nicht; schluchzen und seufzen mußte ich. Er schwieg tiefsinnig, und mit einer zitternden Bewegung seiner Hände sagte er in dem traurigsten, aber sanftesten Ton, indem er seinen Kopf sachte gegen den meinigen neigte: »O dieser Sie quälende Kummer gibt mir ein trauriges Licht – Ihr Gemahl ist nicht tot – Eine Seele wie die Ihrige würde durch einen Zufall, den die Gesetze der Natur herbeibringen, nicht zerrissen, sondern nur niedergeschlagen. Aber der Mann ist Ihrer unwürdig, und das Andenken dieser Fesseln verwundet Ihre Seele. Hab' ich recht, o, sagen Sie, ob ich nicht recht habe?« – Seine Rede machte mich schauern; ich konnte noch weniger die Sprache wiederfinden als vorher. Er war so gütig mir zu sagen:[252]

»Heute nichts mehr! beruhigen Sie sich; lassen Sie mich nur Ihr Vertrauen erwerben.« – Ich erhob meine Augen und drückte aus einer unwillkürlichen Bewegung seine Hände. »O Lord Rich –« war alles, was ich aussprechen konnte. »Bestes weibliches Herz! was für ein Unmensch konnte dich mißkennen und elend machen?« – »Lieber Lord, Sie sollen alles, alles wissen, Sie verdienen mein Vertrauen.« – Dies sagte ich, als ein Bedienter der Lady Summers kam, mich zu rufen, weil wichtige Briefe von London angekommen waren. – Ich suchte mich soviel als möglich zu fassen und eilte zur Lady, die mir gleich die angesehene Heurat ihrer einzigen Nichte mit Mylord N** anzeigte und sich auf den Besuch freute, den ihr Bruder und die Neuvermählten in vierzehn Tagen bei ihr ablegen würden. »Wir müssen auf ein artiges Landfest sinnen«, sagte sie, »um den jungen Leuten Freude bei ihrer alten Tante zu machen.« Hierauf gab sie mir im Aufstehen einen Brief zu lesen, den das junge Paar ihr zusammen geschrieben hatte, und entfernte sich, um den Bedienten wieder abzufertigen. Was für ein Grauen überfiel mich, meine Emilia, als ich die Hand des Lord Derby erblickte, der nun wirklicher Gemahl der jungen Lady Alton war! Mit bebenden Füßen eilte ich in mein Zimmer, um meine Betäubung vor der Lady Summers zu verbergen. Weinen konnte ich nicht, aber ich war dem Ersticken nahe. Wie fühlte ich meine Unvorsichtigkeit, nach England gegangen zu sein! Meinen Schutzort mußte ich verlieren; unmöglich war's, in Summerhall zu bleiben. Ach, ich gönnte dem Böse wicht sein Glück; aber warum mußte ich abermals das Opfer davon werden? Ich ging ans Fenster, um Atem zu schöpfen, und erhob meine Augen gen Himmel. O Gott, mein Gott, der du alles zuläßt, erhalte mich in diesem Bedrängnis! Was soll ich tun? O meine Emilia, beten Sie für mich! Ein Wunder, ja ein Wunder ist's, daß ich mich sammlen konnte. – Ich beschloß, mich zu verstellen, der Lady alle Anstalten des Empfangs machen zu helfen und dann eine Krankheit und Ermattung vorzuschützen, solang die Gäste da sein würden, und in meinem Zimmer bei zugezogenen Vorhängen zu liegen, als ob der Tag meinem Kopf und meinen Augen schmerzte. – Ich fand in dieser äußersten Not kein anders Mittel; ich unterdrückte also meinen[253] Jammer und ging zur Lady, die ich noch aus dem Fenster dem zurückkehrenden Abgeschickten freundlich zurufen hörte. Die Lady erzählte mir die Größe des Reichtums und Ansehen des Hauses von Lord N**, der durch den Tod seines Bruders einziger Erbe war. Nun, sagte sie, würde ihr Bruder vergnügt sein, der sonst keinen Fehler als den Ehrgeiz hätte; seine Freude machte die ihrige. Dankbarkeit und Freundschaft, ihr unterstützet mich – Denn wo hatte sonst meine Vernunft, meine völlig zerstörte Seele, die Kraft gehabt, mich aufrecht zu erhalten, mich lächeln zu lassen? Der Anteil, den ich an der Freude meiner Wohltäterin nahm, stärkte mich. Alles Übel war geschehen; wenn ich geredet hatte, würde nur das Gute, nicht das Böse unterbrochen worden sein. Die erste Stunde war voll der größten Qual, die mein Herz jemals betroffen hatte; aber grausam würde ich gewesen sein, wenn ich das Herz der lieben Lady durch meine Entdeckungen geängstiget hätte. Sie liebt mich, sie ist gerecht und tugendhaft; der heftigste Abscheu würde sie gegen den bösen Menschen erfüllen, der nun ihr Neffe, der geliebte Gemahl ihrer Nichte ist. Vielleicht ist er auf dem Wege der Besserung – und gewiß wäre er selbst in der äußersten Sorge, wenn er wüßte, daß ich hier bin. – Er kannte mich niemals; niemals dachte er, daß das Schicksal mir einst die Gewalt geben würde, ihm so sehr zu schaden. Aber ich will sie nicht gebrauchen, diese Gewalt; ungestört soll er das Glück genießen, welches ihm das Verhängnis gibt, und meinem Herzen soll es nicht umsonst die Probe angeboten haben, in welcher die Tugend ihre wahren Ergebenen erkennt, den Feinden wohlzutun. Laß mich, o Vorsicht, laß mich dieses Gepräge der wahren Größe der Seele erhalten! Viele, aber milde Tränen überströmten nach diesem Gebet meine Lagerstätte. Die Wohltätigkeit, die ich meinen größten Feind gelobte, wurde durch die seligste Empfindung belohnt; mein Herz fühlte den Wert der Tugend, es fühlte, daß es durch sie edel und erhaben war. Nun falteten sich meine Hände mit der reinen Bewegung des Danks, da sie wenige Stunden vorher der Schmerz der Verzweiflung ineinander gewunden hatte. – Sanft schlief ich ein, ruhig wachte ich auf, ruhig hab ich schon einen Plan des Landfestes aufgesetzt, das die Lady geben will. – Aber bemerken Sie, meine Emilia,[254] wie leicht sich Böses mit Gutem mischt. – Einige Minuten lang war der Gedanke in mir, das Fest in kleinem so zu veranstalten wie das vom Grafen F. auf seinem Landgut war, um den Lord in ein kleines Staunen zu setzen. Aber auch dieses verwarf ich als eine maskierte Rache, die sich in meine Einbildung schleichen wollte, da sie aus meinem Herzen verbannet war. – Ich glaube, Emilia, Rich sieht beinahe, was ich denke. Er kam erst den vierten Tag nach meiner Unterredung mit ihm zu uns. Die Lady erzählte ihm bei dem Mittagessen die Ursache, warum wir alle so beschäftiget sein, und führte ihn nachmittags in die schon bereiteten Zimmer. Ich mußte sie begleiten, und auch die Veranstaltungen für das Pachterfest vorlesen. Lord Rich schien sehr aufmerksam, lobte alles, aber sehr kurz, und begleitete alle meine Bewegungen mit Blicken, welche Neugierde und Unruhe in sich zeigten. – Lady Summers verließ uns einige Minuten, und er kam an den Tisch, wo ich italienische Blumen aussuchte und zusammenband. Mit einer sorgsamen, zärtlichen Miene nahm er eine meiner Hände: »Sie sind nicht wohl, meine Freundin, Ihre Hände arbeiten zitternd; eine gewisse Hastigkeit ist in Ihren Bewegungen, welche durch die angenommene Munterkeit wider Ihren Willen hervorbricht; Ihr Lächeln kommt nicht aus dem Herzen; was bedeutet dieses?« »Lord Rich, Sie machen mir bange mit Ihrer Scharfsicht«, antwortete ich. – »Ich sehe also doch gut?« – »Fragen Sie mich nicht weiter, Mylord; meine Seele hat den äußersten Kampf erlitten, aber ich will itzt dem Vergnügen der Lady Summers alles, was mich angeht, aufopfern.« – »Ich besorge nur, Sie opfern sich selbst dabei auf«, sagte der Lord. – »Fürchten Sie nichts«, antwortete ich, »das Schicksal hat mich zum Leiden bestimmt; es wird mich dazu erhalten.« Ich sagte dies, wie mich dünkte, ruhig und lächelnd; aber Lord Rich sah mich mit Bestürzung an »Wissen Sie, Madam Leidens, daß dies, was Sie sagen, den größten Grad von Verzweiflung anzeigt und mich in die tödlichste Unruhe wirft? – Reden Sie – reden Sie – mit der Lady Summers; Sie werden ein mütterliches Herz in ihr finden.« »Ich weiß es, bester Lord! aber es kann itzt nicht sein, bleiben Sie unbesorgt über mich; mein Zittern ist nichts anders als die letzte Bewegung eines Sturms, dem bald eine ruhige Stille[255] folgen wird.« – »O Gott«, rief er aus, »wie lange werden Sie die Marter dauern lassen, die mir der Gedanke von Ihrem Kummer macht?« Die Lady kam zurück und zog mich aus der Sorge, weichherzig zu werden. Lord Rich ging mit einem Ansehen von trotzigem Mißvergnügen hinweg. Wir bemerkten es beide. Lady Summers sagte mir lächelnd: »Können Sie gutherzig sein und gute Leute plagen? O wenn ich denken könnte, daß eine dieser Blumen Sie als die Braut von Lord Rich zum Altare schmücken würde! – Mein Bruder soll die Vaterstelle vertreten, so wie ich die Mutter sein werde.« – »Liebste Lady«, antwortete ich in der äußersten Bewegung, »meine Widersetzung wird mir immer schmerzhafter; aber noch immer ist es mir unmöglich, eine Entschließung zu fassen. Dulden Sie mich, so wie ich bin, noch einige Zeit.« Ein Strom von Tränen, den ich nicht zurückhalten konnte, machte die Lady gleichfalls weinen; aber sie versprach mir, nicht weiter in mich zu setzen.


Auszug aus einem Briefe von Lord N. an Lord B.

Du weißt, daß ich mit der reichen zierlichen Alton vermählt bin, und daß sie stolz darauf ist, mich in Hymens Fesseln gebracht zu haben. Einfältig brüstet sie sich, wenn ich, um das Maß ihrer albernen Denkensart zu ergründen, mit einer Miene voller Gefälligkeit nach ihren neuen Wünschen frage. Ich wollte damit eine Zeitlang meinen Scherz haben, um mein Register über weibliche Narrheiten vollzumachen, und ich habe mir einen sehr wesentlichen Dienst dadurch getan. Denn nachdem das elende Gepränge vorbei war, womit Neuvermählte einander im Triumphe herumzuführen scheinen, fragte ich meine Lady, ob sie nicht irgendeine Landreise machen wollte, und sie schlug mir einen Besuch bei ihrer Tante Summers vor, die eine langweilige Frau, aber reich und angenehm zu erben sei. – Wir schrieben ihr, und ich schickte den John mit unserm Briefe unsern Besuch zu melden. Die Matrone nahm ihn sehr freundlich auf; während sie mit der Antwort beschäftigt war, ging John mit ihrem Hausmeister in einem Zimmer auf und ab; die Lady hatte gleich um eine Madam Leidens geschickt. Eine Viertelstunde[256] darauf tritt mit eilfertigem Schritte eine feine englisch gekleidete Weibsperson in den Vorsaal und geht mit beinahe geschlossenen Augen ins Zimmer der Lady. John, wie vom Blitz gerührt, erkennt die Sternheim in ihr, erholt sich aber gleich und fragt, wer diese Lady sei? Der Hausmeister erzählt, daß sie mit der Lady aus Deutschland gekommen wäre und daß die Lady sie außerordentlich liebte; sie sei ein Engel von Güte und Klugheit, und Lord Rich, dessen Güter an der Lady ihre grenzten, würde sie heuraten. – Mein armer Teufel John zitterte vor Ängsten, zu der Lady gerufen zu werden, und betrieb seine Abfertigung. Die Alte kam, aber allein; John ließ sich so schnell als möglich abfertigen und jagte zurück. – Urteile selbst, wie ich von dieser Nachricht überrascht wurde! Über keinen meiner kleinen Streiche bin ich jemals so verlegen gewesen als diesen Augenblick über den, welchen ich dieser Schwärmerin gespielet hatte. Wo mag sie die Verwegenheit genommen haben, sich in England zu zeigen? Aber geht's nicht allezeit so? Die furchtsamste Kreatur wird in den Armen eines Mannes herzhaft gemacht. Ich hatte ihr also etwas von meiner Unverschämtheit mitgeteilt, welches sie mir in dem Hause der Lady Summers wieder zurückgeben konnte. Diesem wollte ich mich nicht aussetzen, indem meine Absichten unumgänglich die Beobachtung des Wohlstandes erfoderten. Ich wußte mir Dank, den John bei mir behalten zu haben; denn der listige Hund fand eher einen Ausweg als ich. Er schlug mir vor, sie entführen zu lassen; dies mußte aber bald geschehen, und der Ort ihres Aufenthalts mußte sehr entfernt sein. Ich bestimmte ihr den nämlichen Platz in den schottischen Gebürgen auf Hoptons Gütern, wo ich vor einigen Jahren die Nancy aufgehoben habe; und da diese von ihrem Vater, der ein Advokat war, nicht gefunden werden konnte, wer sollte eine Ausländerin da suchen? Ich gestehe dir, es ist ein verfluchtes Schicksal für eines der artigsten Mädchen, daß sie so viele hundert Meilen von ihrem Geburtsort bei einem armen Bleiminenknecht in Schottland Haberbrot fressen muß. Aber was zum T- hatte sie mir auf meinem Weg nach England zu begegnen? Es ist billig, daß sie diese Frechheit bezahle. Sie ist bereits sicher an Ort und Stelle angekommen, und ich habe Befehl gegeben, daß man gut mit[257] ihr umgehen soll. John machte die Anstalten, und weil er vom Hausmeister der Lady Summers wußte, daß Lord Rich und die Töchter und Frau des Pfarrers öfters mit meiner Heldin im Park Unterredungen hatten, so ließ er sie im Namen der Miß Emma auf einen Augenblick in den Park rufen. Sie kam, er packte sie auf und brachte sie, wie er sagt, mit Mühe lebendig nach Schottland. Den ganzen Weg über hat sie nichts als ein paar Gläser Wasser zu sich genommen und, eine Ausrufung über mich unter dem Namen Derby ausgenommen, wie ein totes Bild in der Chaise gesessen. Wenn du toller Narr hier gewesen wärst, so hätte ich sie dir in Verwahrung gegeben; und gewiß, wenn der heulende Genius, der dich ehemals regierte, um sie geschwebt wäre, hättest du sie zahm machen können und noch eine bessere Beute an ihr gemacht, als alles dein Gold in den Galanteriebuden zu Paris nicht erkaufen kann. Denn sie ist eine der schönsten Blumen von allen, die an dem feurigen Busen deines Freundes verwelkt sind. Sobald ich Nachricht von ihrer zweitägigen Abreise hatte, ging ich mit meiner Lady und ihrem Vater nach Summerhall, wo die Matrone im Bette lag und um ihre Pflegetochter wehklagte. Alle Leute im Hause und im Orte, die Familie des Pfarrers, besonders Lord Rich, ein alter Knabe, der den Philosophen spielt, bejammerten den Verlust von Madam Leidens. Lady Summers flehte mich um Hülfe an; ich gab mir auch das Ansehen aller Bewegungen, sie suchen zu helfen, und erfuhr bei dieser Gelegenheit, wie sie nach England gekommen war. Jedermann rühmte ihre Reize, ihre Talente und ihr gutes Herz; die Narren machten mich toll und müde damit; besonders Rich, der Weise, der mich zum Vertrauten seiner Leidenschaft machte und so weise ist, sich einzubilden, daß sie sich vor ihm geflüchtet habe, weil er sie so weit gebracht hätte, ihm die Erzählung ihrer Geschichte zu versprechen, die gewiß besonders sein müsse, indem das junge Frauenzimmer alle Merkmale der edelsten Erziehung, der vollkommensten Tugend und der feinsten weiblichen Zärtlichkeit in ihrem Betragen hätte. Er vermutete, ein Bösewicht habe ihre Gutherzigkeit betrogen und dadurch den Grund des Kummers gelegt, mit welchem er sie immer kämpfen sehen. War es nicht eine verdammte Sache, alles dieses anzuhören und fremde zu scheinen?[258] Er wies mir ihr Bildnis, wohl getroffen, vor einem Tische, wo ein Gestelle mit Schmetterlingen war, von denen sie, ich weiß nicht welchen, Gebrauch zu einem Fest machen wollte, so mir zu Ehren angestellt werden sollte und wovon sie die Erfinderin war. Der Einfall war nicht gut gewählt; sie verstund sich wenig auf die Schmetterlingsjagd, sonst hätte sie meine Fittiche nicht freigelassen. Aber ihr Bild machte mehr Eindruck auf mich als alle Züge von ihrem Charakter. Es ist, bei meinem Leben! schade um sie; und ich möchte wissen, was sie bei der Vorsicht, die sie doch so stark verehrt, verschuldet haben mag, daß sie in der schönsten Blüte ihres Lebens aus ihrem Vaterlande gerissen, zugrunde gerichtet und in den elendsten Winkel der Erde geworfen werden mußte. Und was wollte das Verhängnis mit mir, daß ich der Henkerbube sein mußte, der diese Verurteilung vollzog? O ich schwör' es, wenn ich jemals eine Tochter erziehe, so soll sie alle Stricke kennenlernen, womit die Bosheit unsers Geschlechts die Unschuld des ihrigen umringt! – Aber was hilft dies die arme Sternheim? – – Komm zurück, wir wollen im Frühjahre sie einmal besuchen; diesen Winter muß sie ausharren, ob sie mich schon jammert.


Einschaltung der Abschreiberin

Hier, meine Freundin, müssen Sie noch etwas von meiner Feder lesen, um eine Lücke auszufüllen, welche sich in den Papieren, wovon ich Ihnen die Auszüge mitteile, Endet. Meine liebe Dame wurde nach dem Anschlage des gottlosen Lords in den Garten zu den Töchtern des Pfarrers gerufen, just, da sie eben ihren letzten Brief an meine Emilia endigte; sie steckte die ganze Rolle des Papiers zu sich, um zu verhindern, daß man nichts zum Nachteil des Lords finden möchte, ging gegen den Park zu, und da sie sich zwanzig Schritte weit an der Seite des Gartens gegen das Dorf umgesehen hatte und niemand erblickte, ging sie zurück. Aber plötzlich zeigte sich im Park eine Weibsperson, die ihr winkte; sie eilte gegen ihr; diese Person eilte gleichfalls auf sie zu und faßte sie an der Hand. Im nämlichen Augenblicke kamen noch zwo vermummte Personen,[259] warfen ihr eine dichte runde Kappe über den Kopf und schleppten sie mit Gewalt fort. Ihr heftiges Sträuben, ihre Bemühung zu rufen war vergebens; man warf sie in eine Halbchaise und jagte die ganze Nacht mit ihr fort. Essen und Trinken bot man ihr in einem Walde an; sie konnte aber und mochte nichts als ein Glas Wasser nehmen! Gleich jagte man wieder weiter; äußerst traurig und abgemattet saß sie neben einer Person in Weibskleidern, von welcher sie fest umfaßt gehalten wurde. Sie bat einmal auf den Knien um Erbarmen, erhielt aber keine Antwort und wurde endlich in der Hütte eines schottischen Bleiminenknechts auf ein elendes Bette gesetzt. Dies war alles, was sie von ihrer Entführung zu sagen wußte, denn sie war beinahe sinnlos. Ihr Tagebuch kann zum Beweis dienen, wie sehr ein heftiger Schmerz des Gemüts das edelste Herz zerrütten kann. Aber eben dieses Tagebuch beweist, daß, sobald ihre Kräfte sich erholten, auch die vortrefflichen Grundsätze ihrer Erziehung wieder ihre volle Wirksamkeit erhielten.

Den Kummer, in welchen durch diesen Zufall die Lady Summers gesetzt wurde, und den Jammer meiner Emilia und den meinigen über die Nachricht von ihrem Unsichtbarwerden könnten Sie sich leichter selbst vorstellen, als ich ihn beschreiben könnte; zumal da alles mögliche, um auf ihre Spur zu kommen, vergebens angewandt wurde. Unvermeidliche Zufälle hielten meinen Schwager den Winter durch zurück, selbst nach England zu gehen, um der Lady Summers seine Vermutungen gegen Lord Derby zu entdecken; und dieser Winter war der längste und traurigste, den jemals eine kleine Familie erlebt hat, welche durch das Unglück einer innigst geliebten Freundin elend gemacht wurde.


Madam Leidens in den schottischen Bleigebürgen

Emilia! teurer geliebter Name! Ehemals warst du mein Trost und die Stütze meines Lebens, itzt bist du eine Vermehrung meiner Leiden geworden. Die klagende Stimme, die Briefe deiner unglücklichen Freundin dringen nicht mehr zu dir, alles, alles ist mir entrissen, und noch mußte mein Herz mit der Last[260] des bittern Kummers beschweret werden, die Angst meiner Freunde zu fühlen. Beste Lady! – liebste Emilia! warum mußte euer liebreiches Herz mit in das Los von Qual der Seele fallen, welches das Verhängnis mir Unglücklichen zuwarf? – O Gott, wie hart strafest du den einzigen Schritt meiner Abweichung von dem Pfade der bürgerlichen Gesetze! – Kann meine heimliche Heurat dich beleidiget haben? – arme Gedanken, wo irret ihr umher? Niemand höret euch, niemand wird euch lesen; diese Blätter werden mit mir sterben und verwesen; niemand als mein Verfolger wird meinen Tod erfahren, und er wird froh sein, die Zeugnisse seiner Unmenschlichkeit mit mir begraben zu wissen. O Schicksal, du siehst meine Unterwerfung, du siehst, daß ich nichts von dir bitte; du willst mich langsam zermalmen; tue es – rette nur die Herzen meiner tugendhaften Freunde von dem Kummer, der sie meinetwegen beängstiget!


Dritter Monat meines Elendes

Noch einen Monat hab' ich durchgelebt und finde mein Gefühl wieder, um den ganzen Inbegriff meines Jammers zu kennen. Selige Tage, wo seid ihr, an denen ich bei dem ersten Anblick des Morgenlichts meine Hände dankbar zu Gott erhob und mich meiner Erhaltung freute? Itzt benetzen immer neue Tränen mein Auge und mit neuem Händeringen bezeichne ich die erste Stunde meines erneuerten Daseins. O mein Schöpfer, solltest du wohl die bittere Zähre meines Jammers lieber sehen als die überfließende Träne der kindlichen Dankbarkeit?


*


Hoffnungslos, aller Aussichten auf Hülfe beraubt, kämpfe ich wider mich selbst; ich werfe mir meine Traurigkeit als ein Vergehen vor und folge dem Zug zum Schreiben. Eine Empfindung von besserer Zukunft regt sich in mir. – Ach! redete sie nicht noch lauter in meinen vergangenen Tagen? – Täuschte sie mich nicht? – Schicksal! hab ich mein Glück gemißbraucht?

Hing mein Herz an dem Schimmer, der mich umgab? Oder ist der Stolz auf die Seele, die ich von dir empfing, mein Verbrechen gewesen? – Arme, arme Kreatur, mit wem rechte ich! Ich[261] beseelte Handvoll Staubes empöre mich wider die Gewalt, die mich prüft – und erhält. Willt du, o meine Seele, willt du durch Murren und Ungeduld das ärgste Übel in den Kelch meines Leidens gießen? Vergib, o Gott, vergib mir und laß mich die Wohltaten aufsuchen, mit denen du auch hier mein empfindliches Herz umgeben hast.


*


Komm, du treue Erinnerung meiner Emilia, komm und sei Zeuge, daß das Herz deiner Freundin seine Gelübde der Tugend erneuert, daß es zu dem Wege seiner Pflichten zurückkehrt, seiner eigensinnigen Empfindlichkeit absagt und vor den Merkmalen einer liebreichen immerdauernden Vorsicht nicht mehr die Augen verschließt. – – Beinahe drei Monate sind's, daß ich durch einen betrügerischen Ruf in dem Park von Summerhall anstatt meiner gefühlvollen freundlichen Emma einem der grausamsten Menschen in die Gewalt kam, der mich Tag und Nacht reisen machte, um mich hieher zu bringen; Derby! Niemand als du war dieser Barbarei fähig! In der Zeit, wo ich für dein Vergnügen arbeitete, zetteltest du ein neues Gewebe von Kummer für mich an. – – Ehre und Großmut müssen dir sehr unbekannt sein, weil du nicht denken konntest, daß sie mich deinen Augen entziehen und mich schweigen heißen würden! Was für ein Spiel machst du dir aus der Trübsal eines Herzens, dessen ganze Empfindsamkeit du kennst? – Warum, o Vorsicht, warum mußten alle boshafte Anschlage dieses verdorbenen Menschen in Erfüllung kommen, und warum alle guten Entwürfe der Seele, die du mir gabst, in diese traurige Gebürge verstoßen werden?


*


Wie unstet macht die Eigenliebe den Gang unserer Tugend! Vor zween Tagen wollte mein Herz voll edler Entschlüsse geduldig auf dem dornichten Pfade meines unglücklichen Schicksals fortgehen, und meine Eigenliebe führt die Wiedererinnerung dazu, welche meine Blicke von dem Gegenwärtigen und Künftigen entfernt und allein auf das unveränderliche Vergangene heftet. – Tugendlehre, Kenntnisse und Erfahrung sollen also an mir verloren sein, und ein niederträchtiger Feind soll[262] die verdoppelte Gewalt haben, nicht nur mein äußerliches Ansehen von Glück wie ein Räuber ein Kleid von mir zu reißen, sondern meine Gesinnungen, die Übung meiner Pflichten und die Liebe der Tugend selbst in meiner Seele zu zerstören?


*


Glückliche, ja allerglücklichste Stunde meines Lebens, in der ich mein ganzes Herz wiedergefunden habe; in welcher die selige Empfindung wieder in mir erwachte, daß auch hier die väterliche Hand meines Schöpfers für die besten Güter meiner Seele gesorget hat! Er ist es, der meinen Verstand von dem Wahnsinne errettete, welcher in den ersten Wochen sich meiner bemeistern wollte. Er gab meinen rauhen Wirten Leutseligkeit und Mitleiden für mich; das reine moralische Gefühl meiner Seele erhebt sich allmählich über die Düsternheit meines Grams. Die Heiterkeit des Himmels, der diese Einöde umgibt, gießt, ob ich ihn schon seufzend anblicke, ebensoviel Hoffnung und Friede in mein Herz als der zu Sternheim, Vaels und Summerhall. Diese aufgetürmten Berge reden mir von der allmächtigen Hand, welche sie schuf; überall ist die Erde mit den Zeugnissen seiner Weisheit und Güte erfüllt, und überall bin ich sein Geschöpf. Er wollte hier meine Eitelkeit begraben, und die letzten Probestunden meines Lebens sollen allein vor seinen Augen und vor dem Zeugnis meines Herzens verfließen! Vielleicht werden sie nicht lange dauern. Soll ich denn nicht suchen, sie mit dem Überrest von Tugend auszufüllen, deren Ausübung noch in meiner Gewalt geblieben ist! Gedanke des Todes, wie wohltätig bist du, wenn du, von der Versicherung der Unsterblichkeit unserer Seele begleitet, zu uns kommst! wie lebhaft erweckest du das Gefühl unserer Pflichten, und wie eifrig machst du unsern Willen, Gutes zu tun? Dir danke ich die Überwindung meines Grams und die erneuerten Kräfte der Tugend meiner Seele! Du machtest mich mit Lebhaftigkeit den Entschluß fassen, meine letzten Tage mit edlen Gesinnungen auszufüllen und zu sehen, ob ich nicht auch hier Gutes tun kann.


*[263]


Ja, ich kann, ich will noch Gutes tun; o! Geduld, du Tugend des Leidenden, nicht des Glücklichen, dem alle Wünsche gewähret sind, wohne bei mir und leite mich zu ruhiger Befolgung der Ratschlüsse des Schicksals! – Mühsam und einzeln sammlet man die Wurzeln und Kräuter, welche unsere leiblichen Übel heilen. Ebenso besorgt sollte man die Hülfsmittel unserer moralischen Krankheiten suchen; sie finden sich oft, wie jene, am nächsten Fußsteige von unserem Aufenthalt. Aber wir sind gewohnt, das Gute immer in der Ferne zu suchen und das an der Hand liegende mit Verachtung zu übersehen. Ich machte es so; meine Wünsche und meine Klagen führten meine Empfindung weit von dem, was mich umgab; wie spät erkenne ich die Wohltat, eine ganze Rolle Papier mit mir gebracht zu haben, die mir bisher in den Sammlungsstunden meines Geistes so große Dienste getan hat. War es nicht Güte der Vorsicht, die mich auf meiner beschwerlichen Reise hieher vor aller Beleidigung schützte und mir alles erhielt, was mir in den Zeiten meiner Ruhe nützen konnte?


*


Emilia, heilige Freundschaft, geliebtes Andenken! dein Bild steigt aus dem Schutte meiner Glückseligkeit lächelnd empor. Tränen, viele Tränen kostest du mich. – Aber komm, diese Blätter sollen dir geweihet sein! Von Jugend auf ergossen sich meine geheimsten Empfindungen in dein treues zärtliches Herz; der Zufall kann diese Papiere erhalten, sie können dir noch zukommen, und du sollst darin sehen, daß mein Herz die Tugend des deinigen und seine Güte für mich niemals vergessen hat. Vielleicht benetzt einst die Zähre deiner freundschaftlichen Liebe diese Überbleibsel deiner unglücklichen Sophie. Auf meinem Grabe wirst du sie nicht weinen können; denn ich werde das Schlachtopfer sein, welches die Bosheit des Derby hier verscharret; und da der Gedanke an Tod und Ewigkeit meine Klagen und Wünsche endiget, so will ich dir noch den jähen Umsturz beschreiben, der mich in meine frühe Grube bringt. Ich konnte es nicht eher tun; ich wurde zu sehr erschüttert, so oft ich daran dachte.


*[264]


Halb leblos bin ich hier angelangt, und drei Wochen in einer Gemütsverfassung gewesen, die ich nicht beschreiben kann; was ich in dem zweiten und dritten Monat meines Aufenthalts war, zeigen die Stücke, die ich in meinen Erquickungsstunden schrieb. Urteilen Sie aber, Emilia, von der Zerrüttung meiner Empfindnisse, weil ich nicht beten konnte; ich rief auch den Tod nicht, aber in dem vollen Gefühl des Übermaßes von Unglück, so mich betroffen, würde ich dem auf mich fallenden Blitz nicht ausgewichen sein. Ganze Tage war ich auf meinen Knien, nicht aus Unterwerfung, nicht, um Gnade vom Himmel zu erflehen; Stolz, empörter Stolz war mit dem Gedanken des unverdienten Elends in meine Seele gekommen. Aber, o meine Emilia, dieser Gedanke vermehrte mein Übel und verschloß jeder übenden Tugend meiner Umstände mein Herz; und übende Tugend allein kann den Balsam des Trosts in die Wunden der Seele träuflen. Ich empfand dieses das erstemal, als ich das arme fünfjährige Mädchen, die auf mich acht haben mußte, mit Rührung ansah, weil sie sich bemühte, meinen niedergesunknen Kopf mit ihren kleinen Händen aufzurichten; ich verstund ihre Sprache nicht, aber ihr Ton und der Ausdruck ihres Gesichts war Natur und Zärtlichkeit und Unschuld; ich schloß sie in meine Arme und vergoß einen Strom von Tränen; es waren die ersten Trosttränen, die ich weinte, und in die Dankbarkeit meines Herzens gegen die Liebe dieses Geschöpfs mischte sich die Empfindung, daß Gott diesem armen Kinde die Gewalt gegeben hätte, mich die Süßigkeit des Mitleidens schmecken zu lassen. Von diesem Tage an rechne ich die Wiederherstellung meiner Seele. Ich fing nun an, dankbar die kleinen Brosamen von Glückseligkeit aufzusammlen, die hier neben mir im Staube lagen. Meine erschöpften Kräfte, die Schmerzen, welche mir das Haberbrot verursachte, ließen mich meinen Tod nahe glauben; ich hatte keinen Zeugen meines Lebens mehr um mich; ich wollte meinem Schöpfer ein gelassenes, ihn liebendes Herz zurückgeben, und dieser Gedanke gab den tugendhaften Triebfedern meiner Seele ihre ganze Stärke wieder. Ich nahm meine kleine Wohltäterin zu mir in den armen abgesonderten Winkel, den ich in der Hütte besitze, ich teilte mein Lager mit ihr, und von ihr nahm ich die erste[265] Unterweisung der armen Sprache, die hier geredet wird. Ich ging mit ihr in die Stube meiner Hauswirte; der Mann hatte lang in den Bleiminen gearbeitet und ist nun aus Kränklichkeit unvermögend dazu geworden, bauet aber mit seiner Frau und Kindern ein kleines Stück Feld, das ihm der Graf Hopton nah an einem alten zerfallenen Schlosse gegeben, mit Haber und Hanf an; den Haber stoßen sie mit Steinen zum Gebrauch klein, und der Hanf muß sie kleiden. Es sind arme gutartige Leute, deren ganzer Reichtum wirklich in den wenigen Guineen besteht, welche sie für meine Verwahrung erhalten haben. Es freute sie, daß ich ruhiger wurde und zu ihnen kam; jedes befliß sich, mir Unterricht in ihrer Sprache zu geben, und ich lernte in vierzehn Tagen so viel davon, um kurze Fragen zu machen und zu beantworten. Die Leute wissen, wie weit sie mich außer dem Hause lassen dürfen, und der Mann führte mich an einem der letzten Herbsttage etwas weiter hinaus. O, wie arm ist hier die Natur! man sieht, daß ihre Eingeweide bleiern sind. Mit tränenden Augen sah ich das rauhe magere Stück Feld, auf dem mein Haberbrot wächst, und den über mich fließenden Himmel an; die Erinnerung machte mich seufzen, aber ein Blick auf meinen abgezehrten Führer hieß mich zu mir selbst sagen; ich habe mein Gutes in meiner Jugend reichlich genossen, und dieser gute Mann und seine Familie sind, so lange sie leben, in Elend und Mangel gewesen; sie sind Geschöpfe des nämlichen göttlichen Urhebers, ihrem Körper fehlt keine Sehne, keine Muskel, die sie zum Genuß physikalischer Bedürfnisse nötig haben; da ist kein Unterschied unter uns; aber wie viele Teile der Fähigkeiten ihrer Seele schlafen und sind untätig geblieben! Wie verborgen, wie unbegreiflich sind die Ursachen, die in unsrer körperlichen Einrichtung keinen Unterschied entstehen ließen und im moralischen Wachstum und Handeln ganze Millionen Geschöpfe zurücklassen! wie glücklich bin ich heute noch durch den erhaltenen Anbau meines Geistes und meiner Empfindung gegen Gott und Menschen! Wahres Glück, einzige Güter, die wir auf Erden sammlen und mit uns nehmen können, ich will aus Ungeduld euch nicht von mir stoßen; ich will die Gutherzigkeit meiner armen Wirte durch meine Freundlichkeit belohnen. – Eifrig lernte ich[266] an ihrer Sprache fort und erfuhr beim Nachforschen über ihre manchmalige Härte gegen das junge Mädchen, daß es nicht ihr Kind, sondern des Lords Derby wäre, daß die Mutter des Kindes bei ihnen gestorben sei und der Lord nichts mehr zu dessen Unterhalt hergäbe. Ich mußte bei dieser Nachricht in meinen Winkel; ich empfand mit Schmerzen mein ganzes Unglück wieder. Die arme Mutter! sie war schön wie ihr Kind, und jung, und gut; – bei ihrem Grabe wird das meinige sein. O Emilia, Emilia, wie kann, o wie kann ich diese Prüfung aushalten! Das gute Mädchen kam und nahm meine Hand, die über mein armes Bette hing, während mein Gesicht gegen die Wand gekehrt war. Ich hörte sie kommen; ihr Anrühren, ihre Stimme machte mich schauern, und widerwillig entriß ich ihr meine Hand. Derbys Tochter war mir verhaßt. Das arme Mädchen ging mit Weinen an den Fuß meines Lagers und wehklagte. Ich fühlte mein Unrecht, die unglückliche Unschuld leiden zu machen; ich gelobte mir, meinen Widerwillen zu unterdrücken und dem Kinde meines Mörders Liebe zu erweisen. Wie froh war ich, da ich mich aufrichtete und sie rief. Auf ihre kleine Brust gelehnt, legte ich das Gelübde ab, ihr Güte zu erweisen. Ich werde es nicht brechen, ich hab' es zu teuer erkauft!


*


O Derby! wie voll, wie voll machst du das Maß deiner Härte gegen mich! heute kommt ein Bote und bringt einen großen Pack Vorrat zur Tapezerei; niederträchtig spottet er: da mir bei Hofe die Zeit ohne Tapetenarbeit zu lang gewesen, so möchte es hier auch so sein; er schickte mir also Winterarbeit; im Frühjahre würde er es holen lassen. Es ist zu einem Kabinett; die Risse liegen dabei. – Ich will sie anfangen, ja ich will; er wird nach meinem Tode die Stücke kriegen; er soll die Überreste seiner an mir verübten Barbarei sehen und sich erinnern, wie glücklich ich war, als er das erstemal meine Finger arbeiten sah; er wird auch denken müssen, in was für einen Abgrund von Elend er mich stürzte und darin zugrunde gehen machte.


*


Niemals mehr, o Schicksal! Niemals mehr will ich mich dem Murren meiner Eigenliebe überlassen! wie verkehrt heißt sie[267] uns urteilen! Ich klagte über das, was mein Vergnügen geworden ist. Meine Arbeit erheitert meine trüben Wintertage; meine Wirte sehen mir mit roher Entzückung zu, und ich gebe ihrer Tochter Unterweisung darin. Mit frohem Stolz sah das Mädchen um sich, als sie das erste Blättchen genäht hatte. Unglück und Mangel hat schon viele erfindsam gemacht; ich bin es auch worden. Ich weiß, daß der Graf von Hopton, dem die Bleiminen zugehören, einige Meilen von hier ein Haus hat und daß er manchmal auf einige Tage hinkömmt. Auf der letzten Reise hatte er seine Schwester bei sich, die er sehr liebt und die als Witwe oft bei ihm ist. Auf diese Dame baue ich Hoffnungen, die mit der Dauer meines Lebens wieder rege in mir sind. Ich habe meinen Wirten den Gedanken gegeben, ihre Tochter Maria in die Dienste dieser Dame zu bringen; ich versprach, sie alles zu lehren, was dazu nötig sei. Schon lehre ich sie Englisch reden und schreiben; die Tapetenarbeit kann sie, und da mich der Mangel dazu trieb, aus den Spitzen meines Halstuchs noch zwo Hauben zu machen, so hat sie auch diese Kunst gelernet. Vom übrigen gebe ich ihr Unterricht bei der Arbeit. Das Mädchen ist so geschickt zum Fassen und Urteilen, daß ich oft darüber erstaune. Diese soll mir den Weg zur Freiheit bahnen; denn durch sie hoffe ich, der Lady Douglas bekannt zu werden. O Schicksal, laß mir diese Hoffnung!


*


Ich will meiner Emilia noch ein Nebenstück meines quälenden Schicksals erzählen. Sie wissen, wie reinlich ich immer in Wäsche war, und hier zog ich mich, ich weiß nicht wie lang, gar nicht aus; endlich kam mit meiner Überlegung das Mißvergnügen über den Kleidermangel, und beim Nachdenken war ich sehr froh, daß ich bei meiner Entführung ein ganz weißes leinen Kleid anhatte, welches ich gleich auszog und der modischen Üppigkeit für die vielen Falten dankte, die sie darin gemacht hatte; denn ich konnte füglich drei Hemden daraus schneiden und ein kurz Kleid daneben behalten; meine Schürze machte ich zu Halstüchern und aus dem ersten Rock Schürzen, so daß ich mit ein wenig leichter Lauge meine Kleidung recht reinlich halten kann und abzuwechseln weiß. Ich plätte sie mit[268] einem warmen Stein. Die kleine Lidy hab' ich auch nähen gelernt, und sie macht recht artige Stiche in meinem Tapetengrund. Meine Wirte säubern ihre Wohnung mir zulieb alle Tage sehr ordentlich, und mein gekochtes Haberbrot fängt an, mir wohl zu bekommen. Die Bedürfnisse der Natur sind klein, meine Emilia; ich stehe satt von dem magern Tische auf, und meine Wirte hören mich mit Erstaunen von den übrigen Teilen der Welt erzählen. Ich habe die Bildnisse meiner Eltern noch; ich wies sie den Leuten und erzählte ihnen von meiner Erziehung und ehemaligen Lebensart, was sie fassen konnten und ihnen gut war. Ungekünstelte mitleidige Zähren träufelten aus ihren Augen, da ich von meinem genossenen Glücke sprach und ihnen die Geduld erklärte, die wirklich in meinem Herzen ist. Ich rede wenig von Ihnen, meine Liebe! Ich bin nicht stark genug, oft an Ihren Verlust zu denken, an Ihren Kummer um mich zu denken. Könnte ich durch mein Leiden nur Ihres um mich und meiner gütigen Lady ihres loskaufen, ich wollte mich bemühen, nicht mehr zu sagen, daß ich leide; aber das Schicksal wußte, was mich am meisten quälen würde; es wußte, daß mich meine Unschuld und meine Grundsätze trösten und beruhigen würden, es wußte, daß ich Armut und Mangel ertragen lernen würde; daher gab es mir das Gefühl von dem Weh meiner Freunde, ein Gefühl, dessen Wunde unheilbar ist, weil es ein Vergehen wäre, wenn ich mich davon loszumachen suchte. – Wie glücklich machte mich dieses Gefühl ehemals, da ich, im Besitz meiner Güter, jeden belauschten Wunsch meiner Freunde befriedigen und jeden bemerkten Schmerzen lindern konnte. Zwei Jahre sind es, daß ich glänzend unter den schimmernden Haufen trat und Aussichten von Glück vor mir hatte, mich geliebt sah und wählen oder verwerfen konnte. O mein Herz, warum hütetest du dich so lange vor dieser Erinnerung! Niemals mehr getrautest du dir den Namen Seymour zu denken, nun fragst du, was würde er sagen? und weinst über seine Vergessenheit! O! nimm diesen Teil weg, laß ihn nimmer in mein Gedächtnis kommen;- sein Herz kannte das meine für ihn niemals, und nun ist es zu spät! – Mein Papier, ach Emilia, mein Papier geht zu Ende; ich darf nun nicht mehr viel schreiben; der Winter ist lange; ich will den Überrest[269] auf Erzählung meiner noch dunklen Hoffnungen erhalten. O mein Kind! einige Bogen Papier waren mein Glück, und ich darf es nicht mehr genießen! Ich will Cannevas sparen und Buchstaben hineinnähen.


Im April

O Zeit, wohltätigstes unter allen Wesen, wieviel Gutes hab' ich dir zu danken! du führtest allmählich die tiefen Eindrücke meiner Leiden und verlornen Glückseligkeit von mir weg und stelltest sie in den Nebel der Entfernung, während du eine liebreiche Heiterkeit auf die Gegenstände verbreitetest, die mich umgeben. Die Erfahrung, welche du an der Hand führest, lehrte mich die übende Weisheit und Geduld kennen. Jede Stunde, da ich mit ihnen vertrauter wurde, verminderte die Bitterkeit meines Grams. Du, alle Wunden des Gemüts heilende Zeit, wirst auch den Balsam der Beruhigung in die Seele meiner wenigen Freunde gießen und sie in Umstände setzen, worin sie die frohen Aussichten ihres Geschickes ohne den vergällenden Kummer um mich genießen können. Du hast die Trostgründe der Güte meines Schöpfers, die das geringste Erdwürmchen unter den Schutz kleiner Sandkörner begleitet, wieder in meine Seele gerufen; du hast mich sie in diesen rauhen Gebürgen finden lassen, den Gebrauch meiner Kenntnisse in mir erneuert und die im Schoße des Glückes schlafenden Tugenden erweckt und geschäftig gemacht. Hier, wo die physikalische Welt wenige Gaben sparsam unter ihre traurigen Bewohner austeilt, hier habe ich den moralischen Reichtum von Tugenden und Kenntnissen in der Hütte meiner Wirte verbreitet, und mit ihnen genieße und koste ich ihre Süßigkeit. Von allem, was den Namen von Glück, Ansehen und Gewalt führt, völlig entblößt, mein Leben den Händen dieser Fremdlinge anvertraut, wurde ich ihre moralische Wohltäterin, indem ich ihre Liebe zu Gott erweiterte, ihren Verstand erleuchtete und ihre Herzen beruhigte, da ich durch Erzählungen von andern Weltteilen und von den Schicksalen ihrer Einwohner in den Erholungsstunden meiner armen Wirte Vergnügen um sie hergoß. Ich habe die traurigen unschuldsvollen Tage einer[270] doppelt unglücklichen Waise durch Liebe, Sorge und Unterricht mit Blumen bestreut; von dem Genusse alles dessen, was die Menschen als Wohlsein betrachten, entfernt, genieße ich die wahren Geschenke des Himmels, die Freude wohlzutun und die Ruhe des Gemüts, als Früchte der wahren Menschenliebe und erfahrner Tugend. – Reine Freude, wahre Güter! ihr werdet mich in die Ewigkeit begleiten, und für euren Besitz wird meine Seele das erste Danklied anstimmen.


Zu Ende des Brachmonats

Emilia, haben Sie sich jemals in den Platz eines Menschen stellen können, der in einem elenden Kahn auf der stürmenden See ängstlich sein Leben fühlt und mit zitternder Hoffnung hin und her um Anschein der Hoffnung sieht? Lange stoßen ihn die Wellen herum und lassen ihn Verzweiflung fühlen; endlich erblickt er eine Insel, die er zu erreichen hofft, mit gefalteten Händen ruft er: »O Gott, ich sehe Land!« – Ich, mein Kind, ich fühle alles dieses; ich sehe Land. Der Graf von Hopton ist in seinem Haus auf dem Gebürge und Lady Douglas, seine Schwester, hat die Tochter meiner Wirtin zu sich genommen. Sie ging mit ihrem Bruder und einer Tapete zur Lady, ihre Dienste anzubieten. Voller Verwunderung über ihre Arbeit und ihre Antworten, hat die Lady gefragt, wer sie unterrichtet hätte, und das dankbare Herz des guten Mädchens erzählte ihr von mir, was sie wußte und empfand. Die edle Dame wurde bis zu Tränen gerührt; sie versprach dem Mädchen sogleich, sie zu nehmen, ließ den jungen Leuten zu essen geben und schickte den Sohn allein nach Hause mit zwo Guineen für seine Eltern und dem Versprechen: sie wollte vor ihrer Abreise noch selbst zu ihnen kommen. Mich ließ sie besonders grüßen und für meine Mühe mit ihrem Mädchen segnen. Ich habe sie um Papier, Feder und Dinte bitten lassen; ich will mich dieser Gelegenheit bedienen, um an meine Lady Summers zu schreiben; aber ich will der Lady Douglas den Brief offen geben, um ihr meine Aufrichtigkeit zu zeigen. Ich würde strafbar sein, wenn ich nicht alle Gelegenheit anwendete, um meine Freiheit zu erlangen, da sich edle Mittel dazu anbieten. Ich will auch den[271] Lord Hopton um seine Gnade für meine armen Wirte bitten; die guten Leute wissen sich vor Freude über die Versorgung ihrer Tochter und über das Geld, so sie bekommen haben, nicht zu fassen; sie liebkosen und segnen mich wechselsweise. Meine Waise lasse ich nicht zurück; das Kind würde nun, da ich sie an gutes Bezeigen gewöhnt habe, durch den Verlust doppelt unglücklich sein, und alle meine Tage würden durch ihr Andenken beunruhiget, wenn ich zum Glücke zurückkehrte und sie dem offenbaren Elend zum Raube ließe.


*


O! Meine Freundin, es war Vorbedeutung, die mich in meinem letzten Blatte das Gleichnis eines auf der tobenden See irrenden Kahns finden ließ; ich war bestimmt, die höchsten Schmerzen der Seele zu fühlen und dann in dem Augenblick der Hoffnung zu sterben. Die unaussprechliche Bosheit meines Verfolgers reißt mich dahin, wie eine schäumende Welle Kahn und Menschen in den Abgrund reißt. Diese Gewalt wurde ihm gelassen und mir alle Hülfsmittel entzogen; bald wird ein einsames Grab meine Klagen endigen und meiner Seele die Endzwecke zeigen, warum ich dieses grausame Verhängnis erdulden mußte. Ich bin ruhig, ich bin zufrieden; mein letzter Tag wird der freudigste sein, den ich seit zwei Jahren hatte. Ihnen, meine bis in den letzten Augenblick zärtlich geliebte Freundin, wird die Lady Summers mein Paket Papiere schicken und Ihr Herz bei dem Gedanken, daß alles mein Leiden sich in einer seligen Ewigkeit verloren hat, beruhiget werden. Meine letzten Kräfte sind Ihnen gewidmet. Sie waren die Zeugin meines glücklichen Lebens; Sie sollen auch, soviel ich es tun kann, von dem Ende meiner trübseligen Tage wissen.

Ich war voller Hoffnungen und mit fröhlichen Aussichten umgeben, als der vertrauteste Bösewicht des Derby anlangte, um mir den verhaßten Vorschlag zu tun, ich sollte mich zu dem Lord nach London begeben; er liebe seine Gemahlin nicht, wäre auch selbst kränklich geworden und halte sich meistens auf einem Landhause zu Windsor auf, wo ihm mein Umgang sehr angenehm sein würde. Er selbst schrieb in einem Billett: wenn ich freiwillig kommen wollte und ihn lieben[272] würde, so denke er, sich von Lady Alton scheiden zu lassen und unsere Heurat zu bestätigen, wie es die Gesetze und meine Verdienste erfoderten; aber wenn ich aus einer meiner ehemaligen Wunderlichkeiten diesen Vorschlag verwerfe, so möchte ich mir mein Schicksal gefallen lassen, wie er es für gut finden würde. – Dies mußte ich anhören, denn lesen wollte ich das Billett nicht; das Ärgste von dieser unerträglichen Beleidigung war, daß ich den unseligen Kerl sehen mußte, durch dessen Hand meine falsche Verbindung geschehen war. Auf das äußerste betrübt und erbittert, verwarf ich alle diese unwürdigen Vorschläge, und der Barbar rächte seinen Herrn, indem er mich nach der zweiten förmlichen Absage mit der heftigsten Bosheit beim Arm und um den Leib packte, zum Hause hinaus gegen den alten Turm hinschleppte und mit Wüten und Fluchen zu einer Türe hineinstieß, mit dem Ausdruck, daß ich da krepieren möchte, damit sein Herr und er einmal meiner los würden. Mein Sträuben und die entsetzliche Angst, so ich hatte, ich möchte mit Gewalt nach London geführet werden, hatte mich abgemattet und halb von Sinnen gebracht; ich fiel nach meiner ganzen Länge in das mit Schutt und Morast angefüllte Gewölbe, wo ich auf den Steinen meine linke Hand und das halbe Gesicht beschädigte und heftig aus der Nase und Mund blutete. Ich weiß nicht, wie lang ich ohne Bewußtsein dalag; als ich mich wieder fühlte, war ich ganz entkräftet und voll Schmerzen; die faule dünstige Luft, die ich atmete, beklemmte in kurzer Zeit meine Brust so sehr, daß ich an dem letzten Augenblicke meines Lebens zu sein glaubte. Ich sah nichts, aber ich fühlte mit der einen Hand, daß der Boden stark abhängig war, und besorgte daher bei der geringsten Bewegung gar in einen Keller zu fallen, wo ich nicht ohne Verzweiflung meinen Geist aufgegeben hätte. Mein Jammer und die Empfindungen, die ich davon hatte, ist nicht zu beschreiben; die ganze Nacht lag ich da; es regnete stark; das Wasser floß unter der Türe herein auf mich zu, so daß ich ganz naß und starr wurde, und, von meinem Unglück gänzlich darniedergeschlagen, mir den Tod wünschte. Ich bekam, wie mich deucht, innerliche Zückungen. Soviel weiß ich noch; als ich mich wieder besinnen konnte, war ich auf meinem Bette, um[273] welches meine armen furchtsamen Wirte stunden und wehklagten. Meine Waise hatte meine Hand und ächzte ängstlich; ich fühlte mich sehr übel und bat die Leute, mir den Geistlichen des Grafen von Hopton zu holen, weil ich sterben würde. Mit aufgehobenen Händen bat ich sie; der Sohn ging fort, und die Eltern erzählten mir, daß sie mir nicht hatten helfen dürfen, bis Sir John (wie sie ihn nannten) abgereiset gewesen wäre. Schreckliches Los der Armut, daß sie selten Herz genug hat, sich der Gewalt des reichen Lasters entgegenzusetzen! Der Regen hatte den Bösewicht aufgehalten, doch, sagen sie, sei er noch an die Türe des Turns gegangen, hätte sie aufgemacht und gehorcht, den Kopf verdrießlich in die Höhe geworfen, und ohne die Türe zuzuschließen, oder ihnen noch etwas zu sagen, wäre er davongegangen. Sie hätten aus Furcht vor ihm noch eine Stunde gewartet und wären dann mit einem Licht zu mir gekommen, da sie mich denn für tot angesehen und herausgetragen hätten. Der Geistliche kam, und die Lady Douglas mit ihm; beide betrachteten mich aufmerksam und mitleidend. Ich reichte der Lady meine Hand, der sie die ihrige mit Güte entgegengab. »Edle Lady«, sagte ich mit tränenden Augen, »Gott wird diese menschenfreundliche Bemühung um mich an Ihrer Seele belohnen; glauben Sie nur auch, daß ich es würdig bin.« Ich bemerkte, daß ihre Augen auf meine Hand und das Bildnis meiner Mutter geheftet waren; – da sagte ich ihr, »es ist meine Mutter, eine Enkelin von Lord David Watson – und hier«, indem ich die andere Hand erhob, »ist mein Vater, ein würdiger Edelmann in Deutschland; schon lange sind beide in der Ewigkeit, und bald, bald hoffe ich, bei ihnen zu sein«, setzte ich mit gefalteten Händen hinzu. Die Dame weinte und sagte dem Geistlichen, er solle meinen Puls fühlen; er tat's und versicherte, daß ich sehr übel wäre. Mit liebreichem Eifer sah sie um sich und fragte, ob ich nicht weggebracht werden könnte. – »Nicht ohne Lebensgefahr«, sagte der Geistliche – »ach, das ist mir leid«, sprach die liebe Dame, indem sie mir die Hand drückte. Sie ging hinaus, und der Geistliche fing an, mit mir zu reden; ich sagte ihm kurz, daß ich aus einer edlen Familie stammte und durch den schändlichen Betrug einer falschen Heurat aus meinem Vaterlande gerissen worden sei; Mylady[274] Summers, unter deren Schutz ich gestanden, könnte ihnen Zeugnisse von mir geben. Ich hieß ihn zugleich die Papiere nehmen, welche ich an Sie geschrieben hatte, und die hinter einem Brette lagen. Ich setzte selbst ohne sein Fragen ein Bekenntnis meiner Grundsätze hinzu und bat ihn, sich mit Ihrem Mann in Briefwechsel einzulassen. Die Dame klopfte an und kam, mit Maria, der Tochter meiner Wirte, die eine Schachtel trug, zu meinem Bette. Sie hatte allerlei Labsale und Arzneien darin, wovon sie mir gab. Die kleine Lidy kam auch herein und warf sich bei meinem Bette auf die Knie. Die Dame betrachtete das Mädchen und mich mit zunehmender Traurigkeit. Endlich nahm sie Abschied, ließ die Maria bei mir, und der Geistliche versprach, den Morgen wieder dazusein. Aber er kam den ganzen Tag nicht; doch wurde zweimal nach mir gefragt. Ich war diesen Morgen besser, als ich gestern gewesen war; daher schrieb ich Ihnen. Nun ist's bald sechs Uhr abends, und ich werde zusehens schlechter; meine zitternde ungleiche Schrift wird es Ihnen zeigen. Wer weiß, was heute nacht aus mir wird; ich danke Gott, daß ich sterblich bin und daß mein Herz mit dem Ihrigen noch reden konnte. Ich bin ganz gefaßt und dem Augenblicke nah, wo Glück und Elend gleichgültig ist. –


Nachts um neun Uhr

Das letzte Mal, meine Emilia, habe ich meine schwachen, entkräfteten Arme nach der Gegend ausgestreckt, wo Sie wohnen. Gott segne Sie und belohne Ihre Tugend und Ihre Freundschaft gegen mich! Sie werden ein Papier bekommen, das Ihr Mann meinem Oncle, dem Grafen G., selbst übergeben soll. Es betrifft meine Güter.

Alles, was von der Familie von P. da ist, soll des Grafen Löbaus Söhnen gegeben werden. Ihr Schwager, der Amtmann, hat das Verzeichnis davon.

Was ich von meinem geliebten Vater habe, davon soll die Hälfte zu Erziehung armer Kinder gewidmet sein. Einen Teil der andern Hälfte gebe ich Ihren Kindern und meiner Freundin Rosina. Von dem andern Teil soll meinen armen hiesigen Hauswirten tausend Taler und der unglücklichen Lidy auch so[275] Viel gegeben, von dem Überrest aber mir, zu den Füßen der Grabmäler meiner Eltern, ein Grabstein errichtet werden mit der simplen Aufschrift:


Zum Andenken ihrer nicht unwürdigen Tochter, Sophia von Sternheim –

Ich will hier unter den, Baume begraben werden, an dessen Fuß ich dieses Frühjahr oft gekniet und Gott um Geduld angeflehet habe. Hier, wo mein Geist gemartert wurde, soll mein Leib verwesen. Es ist auch mütterliche Erde, die mich decken wird; bis ich einst in verklärter Gestalt unter den Reihen der Tugendhaften treten und auch Sie, meine Emilia, wiedersehen werde. Rette indessen, o meine Freundin, rette mein Andenken von der Schmach des Lasters! Sage, daß ich, der Tugend getreu, aber unglücklich, in den Armen des bittersten Kummers meine Seele voll kindlichen Vertrauens auf Gott und voll Liebe gegen meine Mitgeschöpfe ihrem Schöpfer zurückgegeben, daß ich zärtlich meine Freunde gesegnet und aufrichtig meinen Feinden vergeben habe. Pflanzen Sie, meine Liebe, in Ihrem Garten eine Zypresse, um die ein einsamer Rosenstock sich winde, an einem nahen Felsstein. Weihen Sie diesen Platz meinem Andenken; gehen Sie manchmal hin; vielleicht wird es mir erlaubt sein, um Sie zu schweben und die zärtliche Träne zu sehen, mit der Sie die abfallende Blüte der Rose betrachten werden. Sie haben auch mich blühen und welken gesehen; nur das letzte Neigen meines Hauptes und den letzten Seufzer meiner Brust entzog das Schicksal Ihrem Blick. – Es ist gut, meine Emilia; du würdest zu viel leiden, wenn du mich sehen könntest. – Der Grund meiner Seele ist lauter Ruhe; ich werde sanft einschlafen, denn das Verhängnis hat mich müde, sehr müde gemacht. Lebe wohl, beste freundschaftliche Seele; laß deine Tränen um mich ruhig sein, wie die, die um dich in meinen trüben Augen schwimmet. – –


Lord Seymour an Doktor T.

O Gott, warum hindert Ihre Krankheit Sie, mich auf zween Tage zu sehen! Ich bin dem Unsinn und der Wut ganz nahe.[276]

Mein Bruder Rich, den Sie noch aus dem Hause des ersten Gemahls meiner Mutter kennen, ist mit aller seiner stoischen Philosophie durch eben den Streich zur Erde gedrückt. In zween Tagen reisen wir in die schottischen Bleigebürge, um – o tötender Gedanke! – um das Grab des ermordeten Fräuleins von Sternheim aufzusuchen und ihren Körper in Dumfries prächtig beerdigen zu lassen. – Wie konntest du, ewige Vorsicht, wie konntest du dem verruchtesten Bösewicht das Beste, so du jemals der Erde gabst, preisgeben? Meine Leute machen Anstalten zu unserer Reise; ich kann nichts tun; ich ringe meine Hände wie ein tobender Mensch und schlage sie tausendmal wider meine Brust und meinen Kopf. Derby, der Elende! hat die Frechheit zu sagen, um meinetwillen, aus Eifersucht über mich habe er das edelste, liebenswürdige Geschöpfe betrogen, unglücklich gemacht und getötet. Er beheult es nun, der wütende Hund, er beheult es. Seine Ruchlosigkeit hat ihn an den Rand des frühen Grabes geführet, vor welchem er zittert und das ihn vor der Rache schützt, die ich an ihm ausüben würde. Hören Sie, mein Freund, hören Sie das Fürchterlichste, so jemals der Tugend begegnete, und das Ärgste, so jemals die Bosheit ausüben konnte. – Sie wissen, daß ich vor vier Monaten krank mit Mylord Crafton nach England zurückkam und gleich zu meiner Frau Mutter nach Seymour – House ging, dem Übel meines Körpers und meiner Seele nachzuhängen. Ich fragte endlich nach Derby, itzo Lord N., man sagte mir, daß er auf seinem Landhause zu Windsor krank liege. Ich wollte seine und meine Genesung abwarten; aber etliche Tage nach meiner Frage um ihn ließ er mich zu sich bitten. Ich war nicht wohl und schlug es ab. Einige Tage hernach reisete ich zu meinem Bruder Rich, den ich freundschaftlich ebenso finster fand, als ich es selbst war. Die brüderliche Vertraulichkeit wurde ohnehin schon durch die funfzehn Jahre gehindert, die er älter ist als ich, und seine trockne Stille munterte mich nicht auf, eine Erleichterung bei ihm zu suchen. Wir brachten vierzehn Tage hin, ohne von was anders als unsern Reisen, und auch dieses nur abgebrochen, zu reden; bis wir endlich in einer Minute zur offenherzigen Sprache kamen, da ein Kammerdiener von Lord N. einen Brief an mich brachte, worin er mich bat, mit Lord[277] Rich zu ihm zu kommen, in einer Sache, welche das Fräulein Sternheim beträfe; ich sollte dem Lord Rich nur sagen, daß es die Dame wäre, welche er bei Lady Summers gesehen und welche von da entführt worden sei. Ich fuhr wie aus einem schreckenden Traume auf und schrie nur dem Kerl zu, ich würde kommen. Meinen Bruder packte ich beim Arme und fragte ihn auf eine hastige Art nach der jungen Dame, die er in Summerhall gesehen. Mit Bewegung fragte er: ob ich sie kenne und was ich von ihr wisse? – Ich zeigte ihm das Billett und erzählte ihm kurz von allem, was das ewig teure geliebte Fräulein anging. Ebenso kurz, so unterbrochen, erzählte er, wie er sie gesehen und geliebt hätte; ging, mir ein Bildnis von ihr zu holen, und konnte mir nicht genug von ihrem Geiste, von ihren edlen Gesinnungen, von der Traurigkeit, womit sie beladen gewesen, sagen, besonders zur Zeit da Derbys Heurat mit Lady Alton bekannt worden. Wir waren bald entschlossen abzureisen und kamen in Windsor an; Lord Rich tiefsinnig, aber gesetzt; ich voll Unruh, voller Vorsätze und Entschlüsse. Schauer und Hitze eines wütenden Fiebers befielen mich beim Eintritt in Derbys Haus. Mein Haß gegen ihn war so aufgebracht, daß ich seines elenden Ansehens und der sichtbaren Schwachheit, die ihn im Bette hielt, nicht achtete. Mit stummer Feindseligkeit sah ich ihn an; er heftete seine erstorbenen Augen mit einem flehenden Blick auf mich und streckte seine abgezehrte, rotbrennende Hand gegen mich. »Seymour«, sagte er, – »ich kenne dich; aller Haß deines Herzens liegt auf mir; – aber du weißt nicht, wieviel wütende Szenen in dieser Brust wegen dir entstanden sind.« Ich hatte ihm meine Hand nicht gegeben und sagte mit Widerwillen und trotzigem Kopfschütteln: »Ich weiß keinen Anlaß dazu als die Ungleichheit unsrer Grundsätze.« Derby antwortete: »Seymour! diesen Ton hättest du nicht, wenn ich gesund wäre, und der Stolz, mit dem du von deinen Grundsätzen sprichst, ist ein ebenso großes Vergehen als der Mißbrauch, den ich von meinen Talenten machte.« Lord Rich fiel ein, daß von allem diesen die Frage nicht sein könnte und daß Lord Derby nur Nachricht von der entführten Dame geben möchte. »Ja, Lord Rich, Sie sollen sie haben«, sagte er; »es liegt mehr Menschlichkeit in Ihrer[278] Kälte als in Seymours kochender Empfindlichkeit. Er mag Ihnen sagen, was in der ersten Zeit unserer Bekanntschaft mit dem Fräulein von Sternheim vorging. Wir liebten sie beide zum Unsinn; aber ich bemerkte zuerst ihren vorzüglichen Hang für ihn und wandte alles an, ihn zu zerstören. Durch Verstellung und Ränke gelung es mir, sie unter der Verfolgung des Fürsten und der dummen Bedenklichkeit des Seymours durch eine falsche Vermählung in meine Gewalt zu bekommen. Aber mein Vergnügen dauerte nicht lange; ihr zu ernsthafter Charakter ermüdete mich, und ihre geheime Neigung gegen Seymour regte sich, sobald nur meine Gedanken im geringsten von den ihrigen entfernet waren. Die Eifersucht macht mich rachgierig, und die Veränderung meiner Umstände, durch den Tod meines Bruders, gab mir Anlaß, sie auszuüben. Ich verließ sie; doch reute es mich wenige Tage hernach, und ich schickte nach dem Dorfe, wo sie sich aufgehalten hatte, aber sie war fort. Lange wußte ich nichts von ihr, bis ich sie in England bei der Tante meiner Lady fand, wo ich sie nicht lassen konnte und entführen ließ. Es jammerte mich ihrer schon damals, aber es war kein anders Mittel. – Mein Mißvergnügen mit der Lady Alton brachte die Sternheim in meine Erinnerung zurück. Ich dachte: sie ist mein, und um von dem elenden Leben im Gebürge loszukommen, wird sie gern in meine Arme eilen. Ich dachte es um so mehr, als ich wußte, daß sie mein von der Nancy Hatton zurückgelassenes Mädchen liebreich besorgte und erzog; ich schrieb es einer Art Neigung zu und schickte ihr darauf mit angenehmen Vorschlägen meinen vertrauten Kerl ab; aber sie verwarf alles mit äußerstem Stolz und Bitterkeit.« – Hier hielt er mit Stocken und Bewegung inne, sah bald mich, bald den Lord Rich an, bis ich mit stampfenden Füßen und mit Schreien den Verfolg seiner Erzählung foderte. – »Seymour! – Rich! –« sagte er mit tiefem traurigen Ton, mit ringenden Händen und stotternd, »o wäre ich Elender selbst hin und hätte ihre Vergebung und Liebe erflehet. Mein Kerl, der Hund, wollte sie zwingen zurückzugehen.- Er wußte, wie glücklich mich ihre Gesellschaft gemacht hätte – er sperrte sie in ein altes verfallenes Gewölbe, worin sie zwölf Stunden lag, und – aus Kummer starb.« – »Sie starb –« schrie ich, »Teufel![279]

Unmensch! und du lebst noch nach diesem Mord? – Du lebst noch?« – Lord Rich sagt, ich hätte die Stimme und das Ansehen der Raserei gehabt. Er fiel mir in die Arme und riß mich weg in ein anderes Zimmer, lange brauchte er, mich zu besänftigen und zu dem Versprechen zu bringen, daß ich nicht reden wollte. – Er sagte: »Derby liegt auf der Folter der Reue und der Erinnerung unwiederbringlicher übel verwendeter Lebenstage, willst du deine Hand an den Gegenstand des göttlichen Gerichts legen? Glaube, mein Bruder, unser Schmerz ist süß gegen die Pein seiner Seele.« – »Mein Herz blutet über das unglückliche Schicksal der Sternheim; aber die Tugend und die Natur rächet sie an ihrem Verfolger; laß mich ihn, ich bitte dich, noch fragen, was er von uns gewollt hat; überwinde dich, sei großmütig, sei auch gegen das unglückliche Laster mitleidig!« – Ich versprach's ihm, wollte aber bei der Unterredung zugegen sein. – Der elende Mensch heulte, da wir wieder zu ihm kamen, und foderte, daß wir nach Schottland reisen, den Körper des Engels ausgraben lassen und ihn in einem zinnernen Sarg zu Dumfries beisetzen lassen sollten. Zweitausend Guineen will er auf ihr Grabmal verwenden, worauf die Beschreibung ihrer Tugenden und ihres Unglücks neben den Merkmalen seiner ewigen Reue aufgezeichnet werden soll. Er bat uns, nach D. Bericht davon zu geben; übergab uns alle Briefe, die er über sie an seinen Freund B. geschrieben hatte, und flehte uns, ihm zu schwören, daß wir unverzüglich abreisen wollten, damit er noch den Trost erleben möchte, daß dem Andenken der edelsten Seele eine öffentliche Ehrenbezeugung widerfahren sei. – Lord Rich redete ihm hierauf wenige pathetische Worte zu, und ich bezwang meinen mit der Wut kämpfenden Kummer; wir reisten sogleich ab. – Morgens gehen wir nach Dumfries. – Was für eine Reise! – o Gott, was für eine Reise! –


Lord Rich aus den Bleigebürgen an Doktor T.

Ich glaube, Sie kennen mich nicht mehr, aber die starke Seite meiner Seele ist mit der Ihrigen verwandt, und Seymour ist[280] mein Bruder. Von diesem und von dem Gegenstand seiner Schmerzen soll ich Ihnen reden. Wir kamen heute abend hier an; unsere Reise war traurig, und jeder nähernde Schritt zu dieser Gegend beklemmte unser Herz. Die ganze Erde hat keinen Winkel mehr, der so elend, so rauh sein kann wie der Zirkel um diese Hütte. Mit Grausamkeit hat das Schicksal in dieser Landschaft dem Boshaftesten unter allen Menschen die Hand geboten, die empfindsamste Seele zu martern. Wenn ich an die edle kindliche Bewegung ihres Herzens denke, die sie bei den Schönheiten der Natur gegen ihren Schöpfer zeigte, so fühle ich das Maß des Leidens, so diese unfruchtbare Steine für sie enthielten; – und die Hütte, worin sie eine so lange Zeit wohnte, ihre arme Lagerstätte, wo sie den edelsten Geist aushauchte, der jemals eine weibliche Brust belebte. – O Doktor! selbst Ihr theologischer Geist würde, wie mein philosophischer Mut, in Tränen ausgebrochen sein, wenn Sie dieses, wenn Sie den Sandhügel gesehen hätten, der an dem Fuße eines einsamen magern Baums die Überbleibsel des liebenswürdigsten Frauenzimmers bedeckt. Der arme Lord Seymour sank darauf hin und wünschte seine Seele da auszuweinen und neben ihr begraben zu werden; ich mußte ihn mit unsern zween Leuten davon wegziehen. Im Hause wollt' er sich auf ihr Sterbebette werfen; ich ließ es aber wegnehmen und führte ihn auf den Platz, wo die Leute sagen, daß sie meistens gesessen wäre; da liegt er seit zwo Stunden, unbeweglich auf seine Arme gestützt, sieht und hört nichts. Die Leute scheinen mir keine guten Leute zu sein; ich fürchte, sie haben ihre Hände auch zu dem Einkerkern geboten. Sie sehen scheu aus; sie beredeten sich schon etlichemal vor der Hütte allein, haben auf meine Fragen nach der Dame kurz und verwirrt geantwortet und waren sehr betroffen, wie ich sagte, das Grab müßte morgen geöffnet werden. Ich zittre selbst davor; ich befürchte, Merkmale eines gewaltsamen Todes zu finden. Was würde da aus meinem Bruder werden? Ich sage nichts von mir selbst; ich verberge meinen Jammer, um Seymours seinen nicht zu vergrößern, aber gewiß hat die Angst des Untergangs in einem Sturm und die Qual eines lechzenden Durstes in den sandigten Gegenden von Asien meine Seele nicht so heftig angegriffen als der Gedanke[281] an den Leiden dieses weiblichen Engels. Mein Bruder ist aus Mattigkeit eingeschlafen, er liegt auf den Kleidern unsrer Leute, die sie auf den Boden gebreitet haben; immer fährt er auf und stößt ächzende Seufzer aus; doch beruhiget mich unser Wundarzt wegen seiner Gesundheit. Ich kann nicht schlafen, der morgende Tag quält mich voraus; ich sammle Mut, um Seymouren zu stützen, aber ich bin selbst wie ein Rohr, und ich fürchte, bei dem Anblick dieser Leiche mit ihm zu sinken. Denn ich liebte sie nicht mit der jugendlich aufwallenden Leidenschaft meines Bruders; meine Liebe war von der Art Anhänglichkeit, welche ein edeldenkender Mann für Rechtschaffenheit, Weisheit und Menschenliebe fühlt. Niemals hab' ich Verstand und Empfindungen so moralisch gesehen, als beide in mir waren; niemals das Große mit einem so richtigen Maß wahrer Würde und das Kleine mit einer so reizenden Leichtigkeit behandeln gesehen. Ihr Umgang hätte das Glück eines ganzen Kreises geistvoller und tugendliebender Personen gemacht; – und hier mußte sie unter aufgetürmten Steinen, bei ebenso gefühllosen Menschen, unter der höchsten Marter des Gemüts, ihren schönen Geist aufgeben! O Vorsicht! du siehst die Frage, welche in meiner Seele schwebt; aber du siehst auch die Ehrerbietung für das Unergründliche deiner Verhängnisse, welche ihren Ausdruck zurückhält! –


Fortsetzung den zweiten Tag

Doktor – Menschenfreund! nehmen Sie teil an unserer Freude. Der Engel, Sternheim, lebt noch. Eine göttliche Schickung hat sie erhalten. Seymour weint Tränen der Freude und umfaßt die armen Wirte dieser Hütte unaufhörlich. Vor einer Stunde schleppten wir uns bleich, traurig, mit einer Totenstille gegen den kleinen Garten, wo man uns gestern das Grab gewiesen hatte. Der Mann und sein Sohn gingen unentschlossen und mit einem merklichen Widerwillen mit uns. Als wir nahe an der Stelle des Sandbügels waren und ich den Leuten kurz sagte – grabt auf – sank mein Bruder an meinen Hals und umfaßte mich, indem er mit Schmerz »o Rich!« ausrief und seinen Kopf auf meiner Achsel verbarg. Diese Bewegung von ihm,[282] just da die erste Schaufel voll Sand durch einen meiner Leute vom Grab gehoben wurde, durchbohrte meine Seele; ich schloß meine Arme um ihn und erhob meine Augen zum Himmel, um Stärke für ihn und mich zu erflehen. Den nämlichen Augenblick aber fielen Mann, Frau und Sohn vor uns auf die Knie und baten um unsern Schutz. Ich geriet in die äußerste Bestürzung, weil ich mich vor der Entdeckung eines an der Dame verübten Mords fürchtete. – »Leute! was wollt ihr, was soll euer Rufen um Schutz?« »Wir haben unsern Lord betrogen«, riefen sie; »die Frau ist nicht gestorben, sie ist fort.« »Wohin, Leute, wohin«, rief ich; »betrügt ihr uns nicht?« »Nein, guter Lord, sie ist bei des Grafen Hoptons Schwester; diese hat sie zu sich genommen und gesagt, wir sollten dem Lord melden, sie wäre tot; wir hatten die Frau lieb und ließen sie gehen; aber wenn es nun der Lord erfährt, so wird er Rache an uns nehmen.« Seymour umarmte den Mann mit lautem Freudengeschrei und sagte: »O mein Freund, du sollst mit mir kommen, ich will dich beschützen und belohnen. Wo ist der Graf Hopton? Wie ist dies zugegangen? – Rich – lieber Bruder, Rich, wir wollen gleich abreisen.« – Ich versicherte ihn, daß ich ebenso begierig sei wie er, die Dame selbst zu sehen; er solle Anstalten zur Reise machen, ich wollte indessen mit den Leuten reden. Ich beruhigte sie mit dem Verspruch, daß der Lord sie für ihre Liebe zu der Frau selbst belohnen würde; denn er habe gar nicht gerne gehört, daß John so übel mit ihr umgegangen sei; dabei gab ich ihnen eine Handvoll Guineen und fragte sie nach dem Leben und Bezeugen der Dame. O Doktor! wieviel Glanz breitete die einfache abgekürzte Erzählung dieser Leute über die Tugend meiner Freundin aus! Gestern murrte ich über ihr hartes Schicksal; und itzt möchte ich der Vorsicht für das edle Beispiel danken, welches sie den übrigen Menschen durch die Prüfung dieser großen Seele gegeben hat. Tief, unauslöschlich sind die Züge ihres Charakters in mein Herz gegraben! – Wir reisen ab. Am Fuße des Berges schickte ich einen meiner Leute an Lord Derby mit der für ihn gewiß trostvollen Nachricht. Denn da er sich dem Zeitpunkt nähert, wo man alles versäumte Gute möchte einholen und alles verübte Böse auslöschen können: so muß es eine Erquickung[283] für ihn sein, die Summe seiner Vergehungen um ein so großes vermindert zu sehen.


Madam Leidens an Emilia Tweedale, Sitz des Grafen von Douglas-March

Ich schreibe auf meinen Knien, um meine Dankbarkeit gegen Gott für das entzückende Gefühl von Freiheit, Leben und Freundschaft in kindlicher Demut auszudrücken. O meine geliebte, meine teure Freundin! durch wieviel Schmerzen bin ich gegangen, und wie sehr erfreut es mich, Ihren Kummer und die Sorgen meiner Lady Summers endigen zu können. Morgen schickt die Gräfin Douglas einen Kurier an meine Lady; dieser wird auch gleich mit einem Paket an Ihren Mann nach Harwich abgehen, um ja Ihre Unruhe nicht einen Augenblick zu verlängern. Die Auszüge von meinen mit Reißblei geschriebenen Papieren werden Ihnen zeigen, wie hart und dornicht der Weg war, welchen ich in dem letztern Jahre zu gehen hatte. Aber wie angenehm ist mir der Ausgang davon geworden, da ich von der Hand der leutseligsten Tugend daraus geführt wurde! Ist dieses nicht die Probe, daß ich mich in den Tagen meiner Prüfung der Vorsorge Gottes nicht unwürdig machte, weil sie eine der edelsten Seelen zu meiner Hülfe schickte? – Auf meinem letzten Blatte glaubte ich die letzte Nacht meines Lebens angebrochen zu sehen und dachte auch, von der Gräfin Douglas verlassen, zu sterben; aber um elf Uhr kam der Geistliche mit einem Wundarzt und Morgens darauf ein von zwei Pferden getragenes Bette mit der Lady Douglas selbst, die mir auf die liebreichste Art ihr Haus, ihre Vorsorge und Freundschaft anbot. Bald wäre mir das Übermaß meiner Freude schädlich geworden; denn indem ich der Lady Hand an meine Brust drückte und von meinem Dank und von meiner Freude sprechen wollte, sank ich zurück; als ich erwachte, baten sie mich, ruhig zu bleiben und sagten, daß sie mit meinen Wirten verabredet hätten, sie sollten ein Grab im Garten aufwerfen und dem Lord Derby wissen lassen, ich wäre tot; die Leute waren es zufrieden, und sie wollte mich nun in des Grafen von Hoptons Haus bringen. Nachmittags um vier[284] Uhr fühlte ich mich stark genug, um aufzustehen, Molly kleidete mich in Gegenwart der Lady Douglas an; ich nahm die fünf Guineen, so ich bei mir hatte, und machte sie zusammen, um sie meinen Wirten zu geben. Den Augenblick, als ich aufstund, der Lady eine Bitte wegen der guten Waise zu machen, kroch die arme kleine Lidy auf ihren Knien herein und bat mit Schluchzen und aufgehobenen Händchen, ich sollte sie doch mitnehmen; innig gerührt sah ich sie und die Lady an, welche nach einem Augenblick Nachdenken dem Mädchen die Hand bot und mit mitleidiger Stimme sagte: »Ja, meine Kleine, du sollst auch mitkommen.« »Gott segne Sie, teure Lady«, sagte ich, »für Ihre großmütige Menschenliebe; ich wollte Sie um Erlaubnis bitten, dieses unschuldige Opfer auch zu retten.« »Gerne«, antwortete sie, »sehr gerne, es erfreut mich, daß Sie so zärtlich für sie sorgen.« Ich umarmte meine weinende Wirte mit Tränen, sah noch seufzend mich in der traurigen Gegend um und reiste mit der Lady ab. Graf Hopton empfing mich mit vieler Höflichkeit; aber seine Blicke durchspürten zugleich meine ganze Person mit einem Ausdruck, als ob er abwägen wollte, ob ich mehr die Nachstellungen eines Liebhabers oder des Mitleidens einer tugendliebenden Dame verdiente. Eine Bewegung seiner Augen von Betrachtung der Lidy auf mich machte mich erröten und dieses ihn lächeln; ich erriet, daß er mich für ihre Mutter hielt und empfand die Verringerung seiner für mich vorteilhaft gefaßten Begriffe. Lady Douglas führte mich in ein artiges Zimmer und hieß mich zu Bette gehen; Molly war dabei und fragte die Dame, wo die kleine Lidy hin sollte? – »Hieher«, sagte Lady Douglas, »denn Sie werden die Kleine am liebsten bei sich haben, und es gefällt mir sehr, daß Sie auch im Unglück den Pflichten der Natur getreu geblieben sind.« »Beste Lady«, fiel ich ein, »Sie – –« »Keine Unruhe, meine Liebe«, sprach sie mit lebhaftem, aber liebreichem Tone, »legen Sie sich, ich komme dann zurück, aber von allem unangenehmen Vergangenen sollen Sie nicht reden« – und damit ging sie weg. – Ich warf mich aufs Bette mit der traurigen Betrachtung, daß ich den ersten freien Atemzug durch Erduldung eines widrigen Urteils bezahlen müsse. Ich wollte diese Begriffe keine Wurzeln in der Lady Douglas fassen lassen und verlangte[285] Schreibzeug und Papier. Ich schrieb den andern Tag der Lady die Erklärung ihrer Zweifel wegen der kleinen Lidy und zeigte die Beweggründe an, warum ich mich des Kindes angenommen hatte. Ich bat sie daneben, mir bald Gelegenheit zu geben, Nachrichten an Lady Summers gelangen zu lassen; denn durch diese Dame würde sie auch überzeuget werden, daß alles, was ich ihr sagte, die Wahrheit sei, und daß sie ihre bisherige Güte für mich nicht zu bereuen haben würde. Sie konnte die drei Blätter kaum gelesen haben, so kam sie zu mir, und bat mich gleich beim Eintritt in das Zimmer, ihr die Unruhe zu vergeben, die sie mir gemacht hätte; aber es wäre nicht leicht möglich gewesen, bei einer fremden Person einen solchen Grad von Liebe und Sorge für das Kind eines Feindes zu denken, und ich könne glauben, daß, da sie mich wegen meiner vermeinten Muttertreue geliebt habe, sie mich wegen meiner großmütigen Liebe gegen das Blut meines unwürdigen Verfolgers desto mehr liebe und bewundere. Zwo Stunden redte sie mit mir von vielen Sachen in einem feinen zärtlichen Tone fort. Die teure Lady besitzt eine bei den Großen seltene Eigenschaft; sie nimmt Anteil an den Leiden der Seele und sucht mit der edelsten, feinsten Empfindung Trostworte und Hülfsmittel aus. In den Zeiten meines ehemaligen Umganges mit der großen glücklichen Welt beobachtete ich, daß ihr Mitleiden meistens für äußerliche Übel, Krankheiten, Armut usw. in Bewegung kam; Kummer des Gemüts, Schmerzen der Seele, von denen man ihnen redete oder die sie verursachten, machten wenig Eindruck und brachten selten eine anteilnehmende Bewegung hervor. – Aber sie werden auch selten gewöhnt, an den innerlichen Wert oder die wahre Beschaffenheit der Sachen zu denken; durch äußerlichen Glanz verblenden sie und werden verblendet. Witz hat die Stelle der Vernunft, eine kalte, gezwungene Umarmung heißt Freundschaft, Pracht und Aufwand Glück – – O mein Kind, sollte ich jemals wieder diesem Kreise mich nähern, so will ich mit einiger Sorge alles vermeiden, was mich in den Stufen meiner Erinnerung und meines Unglücks an den Großen und Glücklichen schmerzte. Die Gräfin Douglas nimmt die kleine Lidy zu sich; sie sagt, ich hatte genug für das Kind getan, und es solle niemand mehr Anlaß haben, die[286] Übung der größten Tugend als die Folge eines Fehltritts zu beurteilen; am allerwenigsten aber Derby auch nicht vermuten können, daß eine Anhänglichkeit für ihn auf irgendeine Weise an meinem Mitleiden gewesen sei. Ich sah alles Edle ihrer Beweggründe und dankte ihr zärtlich, daß sie mich nicht nur für künftigen falschen Beurteilungen schützte, sondern auch der Belästigung des Lobs enthöbe, das man meiner sogenannten Großmut noch einmal geben könnte. Meine Briefe an Lady Summers hat die Gräfin gelesen; sie wollte es nicht tun, um mich von ihrem Vertrauen in mich zu überzeugen. Die Briefe an Sie hab' ich ihr durchgeblättert, weil sie aber ganz deutsch sind, so hätte die Übersetzung viele Zeit gekostet; ich redete ihr also kurz von dem Inhalt eines jeden Blatts; denn ich eilte zu sehr, Ihnen Nachrichten zu geben, und gerne schlüpfte ich über das Gute darin hinweg, weil mich dünkte, daß das Vergnügen, mich loben zu hören, die Summe meiner innerlichen Zufriedenheit vermindert. Möchte ich doch bald Nachrichten von Lady Summers haben und zu ihr reisen können, um mich bald, bald in die Arme meiner Emilia zu werfen. Mein Enthusiasmus für England ist erloschen; es ist nicht, wie ich geglaubt habe, das Vaterland meiner Seele. – Ich will auf meine Güter, einsam will ich da leben und Gutes tun. Mein Geist, meine Empfindungen für die gesellschaftliche Welt sind erschöpft; ich kann ihr auch zu nichts mehr gut sein, als einigen Unglücklichen eine kleine Lehrschule von Ertragung widriger Schicksale zu halten. In Wahrheit, es ist bei der neu erheiterten Aussicht in meine künftigen Tage einer der ersten Wünsche meiner Seele gewesen, daß bei jedem Anbau eines jungen Herzens diejenigen Samenkörner meiner Erziehung eingestreuet würden, deren erquickende Früchte in der Zeit meiner härtesten Leiden reif wurden, die mein anfängliches Murren besänftigten und mir die Stärke gaben, alle Tugenden des Unglücklichen auszuüben. Mein erneuertes Gefühl der Schönheiten unsrer physikalischen Welt kann ich Ihnen unmöglich in seiner Stärke beschreiben; es war groß, mannigfaltig, wie die schöne Aussicht dieses Edelsitzes, wo man über einen jähen Absturz an dem Flusse Tweda die fruchtbarsten Hügel von ganz Schottland übersieht, die von Schafen wimmeln. Die Sehkraft meiner[287] Augen dünkt mich vervielfältigt, wird verfeinert, so wie sie mich in den Bleigebürgen vermindert und stumpf gemacht dünkte. Können nicht, meine Emilia, alle Kräfte meiner Seele wieder so aufleben wie das Gefühl für die wohltätigen Wunder der Schöpfung und das von der frohen Hoffnung, die Freundin meines Herzens bald wieder zu umarmen? –


Lord Rich, von Tweedale, an Doktor T.

Wenn es billig ist, daß der Stärkere nicht nur seine eigene volle Last, sondern auch die Bürde des Schwächern trage, so erfülle ich meine Pflicht, indem ich nicht nur unter dem gehäuften Maß meiner Empfindungen seufze, sondern auch das überströmende Gefühl von meinem Bruder zusammenfassen muß. Meine Briefe an Sie sind die Stütze, die meine Seele erleichtert. Seymour sitzt wirklich zu den Füßen des Gegenstandes meiner Wünsche; ich entfernte mich; ihre Augen sagten mir zwar, daß sie mich gerne bleiben sähe; aber mein Bruder hielt ihre Hand, sein Herz fühlte den sanften Druck, den die ihrige ihm vielleicht ohne ihr Wissen gab; das einige fühlte ich auch, und dieses Gefühl hieß mich gehen. Zwei Tage sind's, daß wir hier angekommen. Sechs Pferde machten Aufsehen im Schloßhofe, und die Bedienten liefen zusammen; mein Bruder warf sich vom Pferde und rief: »Ist die Gräfin Douglas mit der Lady aus den Bleigebürgen hier?« – Auf die Antwort Ja zog er mich am Arm mit einem eifrigen »kommen Sie, Bruder, kommen Sie«. »Wen muß ich melden?« – rief ein Diener; »Lord Rich, Lord Seymour«, rief mein Bruder hastig und eilte dem Kerl nach, der kaum klopfen konnte, als wir schon in der Türe waren. Die Gräfin Douglas saß der Türe gegenüber; Lady Sternheim aber mit dem Rücken gegen uns und las der Dame etwas vor. Seymours Eindringen und das eilende Rufen des Bedienten, wer wir wären, machte die Gräfin stutzen und meine englische Freundin den Kopf wenden. Sie fuhr mit Schrecken zusammen – »O Gott«, rief sie und ließ das Buch auf die Erde fallen, als Seymour sich zu ihren Füßen warf. »O die ehrlichen Leute sie lebt – O mein göttliches, mein angebetetes Fräulein Sternheim!«[288] rief er mit ausgestreckten Armen. Sie sah halb außer sich ihn und mich an, wendete aber den Augenblick den Kopf weg und ließ ihn auf ihren zitternden Arm sinken – Die Gräfin Douglas sah mit Staunen hin und her, ich mußte reden – aber mein erstes war, auf die Sternheim zu zeigen. »Teure Gräfin, unterstützen Sie den Engel, den Sie bei sich haben! Ich bin Lord Rich, hier ist Lord Seymour.« – Die Gräfin hatte sich eilends meiner Freundin genähert, die ihre beiden Armen um sie schlug und ihr Gesicht einige Minuten an der Gräfin Busen verbarg. Seymour konnte dieses Abwenden ihres Gesichts nicht ertragen und rief in vollem Schmerzen aus – »O mein Oncle, warum mußte ich meine Liebe verbergen! Alle Qual, alle Zärtlichkeit meines Herzens kann mich nun nicht von dem Widerwillen schützen, den mir meine Nachlässigkeit zuzog! – O Sternheim, Sternheim! was soll aus mir werden, wenn ich in dem Augenblicke der Freude, Sie wiedergefunden zu haben, Ihren Unmut auf mir legen sehe? Gönnen Sie mir, o, gönnen Sie mir nur einen gütigen Blick.« – Mit dem Anblick eines Engels und der ganzen Würde der sich fühlenden Tugend richtete Lady Sternheim sich auf, reichte errötend meinem Bruder die Hand, und mit gedämpfter Stimme sagte sie: »Stehen Sie auf, Lord Seymour, ich versichere Sie, daß ich nicht den geringsten Unmut über Sie habe«; und seufzend setzte sie hinzu, »wo wäre mein Recht dazu gewesen?« – Feurig zärtlich küßte er ihre Hand; meine Augen sanken zur Erde; aber sie näherte sich mir mit freundschaftlichen Blicken, nahm meine Hand: »Teurer Lord! was für Freundschaft! wie haben Sie mich finden können? Hat Lady Summers es Ihnen gesagt? – Was macht sie, meine liebreiche Mutter?« – Ich küßte die Hand auch, die sie mir gegeben hatte; »Lady Summers ist wohl«, antwortete ich, »und wird glücklich sein, Sie wiederzusehen; aber nicht Lady Summers hat mich hergeleitet; Reue und Gerechtigkeit riefen meinen Bruder und mich auf.« – Mit einer erhöheten Gesichtsfarbe fragte sie mich; »ist Lord Seymour Ihr Bruder?« – »Ja, und dies von der edelsten Mutter, die jemals lebte.« Sie antwortete mir nur mit einem bedeutenden Lächeln und wandte sich zur Gräfin Douglas. »Meine großmütige Erretterin«, sprach sie, »sehen hier zween unverwerfliche Zeugen der Wahrheit[289] dessen, was ich Ihnen von meiner Geburt und meinem Leben sagte; ich danke Gott, daß er mich den Augenblick erleben lassen, wo Ihr Herz die Zufriedenheit fühlen kann, daß Ihre Güte für mich nicht verloren ist.« »Nein«, fiel Seymour ein, »niemals lebte eine Seele, welche der Verehrung der ganzen Erde würdiger wäre als die Dame, welche die Gräfin errettet haben; solang ich atmen werde, sollen Sie, edelmütige Gräfin Douglas, den ewigen Dank dieses Herzens haben.« – Mit tränenden Augen drückte er zugleich die Hand der Gräfin an seine Brust. Ich hatte mich indessen gefaßt, um etwas von unserem Überfall zu erklären. Einige Miauten waren wir alle stille. Ich nahm die Hand der Lady Sternheim: »Können Sie«, fragte ich, »ohne Schaden Ihrer Ruhe und Gesundheit von Ihrem Verfolger reden hören? Er ist am Ende seines Lebens, und die größte Sorge seiner Seele windet sich unaufhörlich um das Andenken Ihrer Tugend und seiner Ungerechtigkeit gegen Sie. Sein Kummer über Ihren vermeinten Tod ist unaussprechlich; er hat mich und Lord Seymour zu sich gebeten und uns schwören lassen, in die Bleigebürge zu reisen, um Ihre Leiche da aufzuheben und mit allen Zeugnissen Ihrer Tugend und seiner Reue in Dumfries beizusetzen. – Ich will nicht sagen, wie traurig dieses Amt uns war. Nachdem wir so lange Zeit vergebens nach Ihnen gesucht hatten, sollten wir Sie tot wiedersehen! – Mein armer Bruder und – (ich konnte mich nicht verhindern dazuzusetzen) Ihr armer Freund Rich!« – Eine Träne zitterte in ihren Augen indem sie sagte: »Lord Derby ist grausam, sehr grausam mit mir umgegangen. Gott vergebe es ihm; ich will es von Herzen gerne tun – aber – sehen kann ich ihn niemals wieder, sein Anblick würde mir tödlich sein.« – Ihr Kopf sank mit ihrer sinkenden Stimme bei den letzten Worten auf ihre Brust. Mein Seymour fühlte die rührende Verlegenheit dieser reinen Seele und ging, mit sich kämpfend, ins Fenster – Lady Sternheim stund auf und verließ uns; Seymour und ich sahen ihr bewundernd nach. Nur in schottische Leinwand gekleidet, war sie reizend schön durch ihren nach dem vollkommensten Ebenmaß gebildeten Wuchs und den schönsten Anstand in Gang und Bewegung; und ob sie schon hager und blaß geworden, so war dennoch ihre ganze Seele mit aller ihrer Schönheit und[290] Würde in ihren Zügen ausgedrückt. Seymour und ich sagten der Gräfin Douglas alles, was die Lady Sternheim anging, und sie erzählte uns hingegen, was sie von ihr wußte, seitdem sie die Tochter des Bleiminenknechts zu sich genommen, und wie sie gleich gedacht hatte, diese Person müsse eine edle Erziehung haben und in einer unglücklichen Stunde von ihrer Bestimmung entfernt worden sein; zärtliches Mitleiden habe sie eingenommen, besonders da sie ihre Sorge für das Kind gesehen habe, und sie wäre gleich entschlossen gewesen, sie zu sich zu nehmen, wenn sie mit ihrem Bruder zurückginge; die Krankheit der Dame hätte es aber früher erfodert. Sie freute sich, ihrem Herzen gefolgt zu haben. Sie ging hierauf, nach ihrem Gast zu sehen, und wir blieben allein. Gedankenvoll blieb ich sitzen. Seymour kam und fiel mir mit Weinen um den Hals: »Rich! – lieber Bruder, ich bin mitten im Glück elend und werde es bleiben. – Ich sehe deine Liebe und deine Verdienste um sie. – Ich fühle, daß sie mißvergnügt mit mir ist; – sie hat recht, tausend recht, es zu sein. – Sie hat recht, dir mehr Vertrauen, mehr Freundschaft zu zeigen; aber ich fühle es mit einem tötenden Kummer. Meine Gesundheit leidet schon lang auf allerlei Weise unter dieser Liebe. – Ich habe sie nun gesehen; ich werde um ihretwillen sterben, und dies ist mir genug.« Ich drückte ihn mit einer sonderbaren Bewegung an meine Brust, und ich glaube, ihm etwas kalt und rauh gesagt zu haben: »Ja, Seymour, du bist im Glück unglücklich, aber andere sind's ganz. – Warum müssen deine Nebenbuhler allezeit mehr Licht sehen als du? – Derby hat recht; sie zieht dich vor. Ihr Zurückhalten beweist mir alles, was er sagte. Sei ihrer würdig und beneide mir ihre Achtung, ihr Vertrauen nicht!« – »O Rich – o mein Bruder, ist dieses, kann dieses wahr sein? betrügt dich deine Leidenschaft nicht, wie mich die meinige? – O Gott! – ich muß sie erhalten oder sterben – wer wird für mich reden: wer? Ich kann nichts sagen – und du?« – »Ich will es tun«, erwiderte ich, »aber heute noch nicht; wir müssen ihre Empfindlichkeit und geschwächte Gesundheit schonen.« Zu meinen Füßen war er, er umfaßte sie: »Bester, edelster Bruder«, rief er, »fodre mein Leben, alles, ich kann nicht genug für dich tun! du willt – du! willt für mich reden? Gott segne dich ewig, mein[291] treuester, mein gütigster Freund!« – »Ich will nichts, liebster Seymour, als sei glücklich, sei deines Glücks würdig! du kennst den ganzen Umfang davon nicht so wie ich; aber ich gönne, ich wünsche dir es, so groß es ist.« Die Damen kamen zurück wir redeten von Tweedale, und unsere Freundin erzählte, wie gerührt sie gewesen, Gottes schöne Erde wiederzusehen. Dann sprach sie von ihrer Entführung und ihren ersten Tagen im Gebürge. – Abends gab sie mir ihre Papiere; ich las sie mit Seymour durch. O Freund, was für eine Seele malt sich darin! Wie unermeßlich wäre meine Glückseligkeit gewesen! – Aber ich ersticke meine Wünsche auf ewig. Mein Bruder soll leben! – Seine Seele kann den Verlust ihrer Hoffnungen nicht noch einmal ertragen; meine Jahre und Erfahrung werden mir durchhelfen. Seymour muß das Maß der Zufriedenheit voll haben sonst genießt er nichts, mir reicht ein Teil davon zu, dessen Wert ich kenne. Schicken Sie uns Seymours Briefe an Sie gleich; sie müssen gelesen werden und für ihn reden.


Von Sternheim an Emilia

Was wird die Vorsicht noch aus mir machen? In widrigen Begegnissen, in den empfindlichsten Erschütterungen aller Kräfte der Seele und des Lebens erhält sie mich. Gewiß nicht zum Unglück, aber zu jeder möglichen Prüfung. Allein, o meine Liebe, ganz allein, von niemand als zuredenden Freunden umgeben stund ich an meinem Scheideweg. Lord Derby ist tot – diese beiliegenden Blätter meines Tagebuchs von Tweedale sagen Ihnen Seymours und Richs Ankunft und den Ersatz, welchen Derby mir machen wollte. Gott lasse seine ewigen Tage glücklicher sein, als er die meinigen machte, die ihm hier in seine Gewalt gegeben waren! Lord Seymour verfolgt mein Herz; er liebte mich, o meine Emilia, er liebte mich zärtlich, rein, von dem ersten Tage, da er mich sah. Der Stolz seines Oheims, seine Abhänglichkeit von ihm und eine übertriebne feine Empfindung von Tugend und Ehre wollte, daß er schwieg, bis ich die Versuchungen des Fürsten überwunden hätte. Sie wissen, was dieses Schweigen mir zuzog; aber Sie wissen nicht, was Lord Seymour darunter gelitten hatte. Hier, lesen Sie seine Briefe,[292] mit denen vom Lord Derby, und senden Sie sie mir mit allen den meinen an Sie zurück. Sie werden bei Derbys Briefen über den Mißbrauch von Witz, Tugend und Liebe schaudern. Hätte ich nicht selbst böse sein müssen, wenn ich seine Ränke hätte argwöhnen sollen? Was ist Seymours Herz dagegen? Ihren Rat hätte ich gewünscht, durch einen gemeinsamen Geist erhalten zu können. Die Gräfin Douglas ist eingenommen; Lord Rich, der edle, unschätzbare Lord Rich, bittet mich, seine Schwester zu werden. Der liebenswürdige Seymour ist täglich zu meinen Füßen! alle Einwendungen meiner Delikatesse werden bestritten! und, o Freundin meines Herzens, du, die du alle seine Bewegungen von Jugend auf kanntest, dir kann ich, dir will ich es nicht verbergen, daß eine innerliche Stimme mich meine Vermählung mit Lord Seymour als ein von dem Schicksal gegebenes Mittel ergreifen heißt, um meiner unsteten Wanderschaft ein Ende zu machen. Und war er nicht der Mann, den mein Herz sich wünschte? Er weiß es, soll ich nun zurücke? Lord Rich, fürchte ich, würde an seinen Platz eintreten wollen. Seymour zeigte mir viele Tage die heftigste zärtlichste Liebe. Lord Rich hatte lange Unterredungen mit ihm, war aber kalt, ruhig, sah oft tiefdenkend lange mich an und brachte mich dadurch zu dem Entschluß, unverheuratet zu bleiben. Aber zwei Tage nach Seymours Briefe brachte er mir ein Tagebuch und die noch dabei gelegenen letzten Briefe aus Summerhall in mein Zimmer; und mit einer rührenden vielbedeutenden Miene trat er zu mir, küßte die Blätter meines Tagebuchs, drückte sie an seine Brust und bat mich um Vergebung, eine Abschrift davon genommen zu haben, welche er aber mit der Urschrift in meine Gewalt gebe. »Aber erlauben Sie mir«, fuhr er fort, »Sie um dieses Urbild Ihrer Empfindungen zu bitten; lassen Sie, meine englische Freundin, mich diese Züge Ihrer Seele besitzen und erhören Sie meinen Bruder Seymour. Das Paket seiner Briefe wird Ihnen die unerfahrne Redlichkeit seines Herzens bewiesen haben. Sie werden ihn durch Annehmung seiner Hand zu dem glücklichsten und rechtschaffensten Mann machen.« Nach einigem Stillschweigen legte er seine Hand auf die Brust, sah mich zärtlich und ehrerbietig an und fuhr mit gerührtem Ton fort: »Sie kennen die unbegrenzte Verehrung, die ewig in diesem[293] Herzen für Sie leben wird; Sie kennen die Wünsche, die ich machte, die nicht aufgehört haben, aber unterdrückt sind. Ich würde gewiß meine seligsten Tage, dafern es nur Hoffnungstage wären, nicht aufopfern, wenn ich nicht mitten unter der Anbetung, unter dem Verlangen meiner Seele, sagen müßte und sagen könnte: Seymour sei Ihrer würdig, er verdiene Ihre Achtung und Ihr Mitleiden.« – Er sah mich hier sehr aufmerksam an und hielt inne. Mit einem halb erstickten Seufzer sagte ich: »O Lord Rich!« – und er fuhr mit einem männlich freundlichen Tone fort: »Sie haben die Gewalt, einen edlen jungen Mann in der Marter einer verworfenen Liebe vergehen zu machen; wenden Sie, beste weibliche Seele, diese Gewalt zu dem Glück einer ganzen Familie an! Sie können meiner Mutter, einer würdigen Frau, den Kummer abnehmen, ihre Söhne unverheuratet zu sehen. Ihre schwesterliche Liebe wird mich glücklich machen, und Sie werden alle Ihre Tugenden in einem großen wirksamen Kreis gesetzt sehen!« – »Teurer Lord Rich«, antwortete ich gerührt, »wie nahe dringen Sie in mich! Sehen Sie meine Bedenklichkeiten nicht?« – Ich verbarg mein Gesicht mit meinen Händen; er schloß mich in seine Arme und küßte meine Stirne. »Beste, geliebteste Seele, ja ich kenne Ihre feinen Bedenklichkeiten; Sie verdienen die vermehrte Anbetung meines Bruders; aber Sie sollen den Bau seiner Hoffnung nicht zerstören. Lassen Sie mich, ich bitte Sie, ihm die Erlaubnis bringen, zu hoffen.« Mit tränenden Augen sah der würdige Mann mich an; eine Zähre der meinigen fiel ihm auf seine Hand; er betrachtete sie mit inniger Rührung; als aber das anfangende Zittern seiner Hände sie bewegte, so küßte er sie hinweg, und seine Blicke blieben einige Minuten auf die Erde geheftet. Ich nahm das Original meiner Briefe und des Tagebuchs und reichte es ihm mit der Anrede: »Nehmen Sie dieses, würdigster Mann, was Sie das Urbild meiner Seele nennen, zum Unterpfand der zärtlichen und reinen Freundschaft!« – »Meine Schwester«, fiel er mir ins Wort. – »Keine List, Lord Rich! Ich will ohne Kunst werden, was Sie so sehnlich wünschen, daß ich sein möge.« – Er ließ sich auf ein Knie nieder, segnete mich, küßte meine Hände mit eifriger Zärtlichkeit und eilte weg. »Sagen Sie noch nichts«, rief ich ihm nach, »ich bitte Sie.« Da[294] war ich und weinte, und entschloß mich, Lady Seymour zu werden; ich bekräftigte diesen Entschluß am Ende eines Gebets an die göttliche Vorsicht.

Nachschrift. Nun weiß es Lord Seymour. Seine Entzückungen gehen über die Kräfte meiner Feder. Meine Gräfin Douglas umarmte mich mütterlich, Lord Rich als ein zärtlicher Bruder. Der gute Lord Seymour bewacht mich, als ob er besorgte, es möchte jemand meine Entschließung ändern. Sein Kammerdiener ist an seine Frau Mutter geschickt, welche an Tugend und Geist eine zweite Lady Summers sein muß. O segnen Sie mich, meine Freunde! Mein Herz schlägt ruhig. Wie selig macht eine Entschließung, die von Tugend, Weisheit und Rechtschaffenheit gebilliget wird! Nun freue ich mich auf die Reise zu dem Grabe meiner Eltern. Zu den Füßen ihres Leichensteins will ich mit meinem Gemahl knien und ihren himmlischen Segen auf diese Verbindung erflehen. Tränen des Danks will ich auf ihre Asche vergießen, für die Liebe der Tugend und der Wohltätigkeit, die sie in meine Seele gossen, und für die Sorge, die sie nahmen, mir richtige Begriffe von wahrem Glück und Unglück zu geben! – Meine Emilia werd' ich umarmen, meine Untertanen sehen! O glückliche, selige Aussichten! Mein lieber Lord Seymour sucht seinem Bruder nachzufolgen; in allem fragt er ihn – und mit wie vieler zärtlicher Erkenntlichkeit sehe ich Lord Richs Bemühung um meine Glückseligkeit, indem er alles versucht, den ungleichen und oft reißenden Lauf von Seymours Charakter ins Gleiche und Sanfte zu ändern. Er ist, sagt er, ein schöner, aber stark rauschender Bach, der im Grund eine Menge reiner Goldkörner führt.


Lord Rich an Doktor T.

Ich komme vom Altar, wo mein Bruder eine ewige Verbindung, und ich eine ewige Freiheit meiner Hand geschworen. Ich gab ihm jene Hand, die mein Herz sich lange wünschte und von deren Mitwerbung ich abstund, weil ich mehr Stärke in mir fühlte, einen Verlust zu ertragen, als er hat. Es war die Seele, die Gesinnungen der Lady Seymour, die ich liebte. Ihre Papiere, die sie in der vollen Aufrichtigkeit ihres Herzens[295] schrieb, beweisen mir, daß sie das Beste mir schenkte, so in ihrer Gewalt war; wahre Hochachtung für meinen Charakter, wahres Vertrauen, zärtliche Wünsche für mein Glück. Der unauflöslich rätselhafte Eigensinn eines einmal gefaßten Vorzugs hatte schon lange und unwillkürlich die Neigung ihres Herzens gefesselt. – Ich kenne den hohen Wert ihrer Seele; ihre Freundschaft ist zärtlicher als die Umarmungen der Liebe einer andern Person. Die Herbstjahre des Lebens, in denen ich mich befinde, lassen mich alle reine Süßigkeit der Freundschaft mit Ruhe genießen. Ich werde bei diesen Glücklichen leben; der zweite Sohn soll Lord Rich, soll der Sohn meines Herzens sein! Alle Tage werde ich mit Lady Seymour sprechen, und die Schönheit ihres Geistes ist mein Eigentum; ich trage zu ihrer Glückseligkeit bei. Meine Mutter segnet mich über den Entschluß von ihrem geliebten Seymour, und mein Glück haftet an dem von den würdigsten und liebsten Personen, die ich kenne. – Bald, mein Freund, sehe ich Sie und spreche Sie.


Lady Seymour aus Seymourhouse an Emilia

Die erste freie Stunde meiner Bewohnung eines Familienhauses gebührte dem Dank an die Vorsicht, die allen meinen Kummer und die fürchterlichen Irrwege meines Geschicks in dem Umfang vollkommener Glückseligkeit endigte; aber die zweite Stunde gehöret der treuen Freundin, die alles Leiden mit mir teilte, die mir es durch ihren Trost und ihre Liebe erleichterte und deren Beispiel und Rat ich die Stärke meiner Anhänglichkeit an Tugend und Klugheit zu danken habe. Emilia, ich bin glücklich; ich bin es vollkommen, denn ich kann die seligsten, die heiligsten Pflichten alle Tage meines Lebens erfüllen. Meine tugendhafte Zärtlichkeit macht das Glück meines Gemahls; meine kindliche Verehrung und Liebe wird von seiner würdigen Mutter als die Belohnung ihrer geübten Tugenden angesehen. Meine schwesterliche Freundschaft gießt Zufriedenheit in das große, aber sehr empfindliche Herz meines geliebten Lords Rich. Lord Seymour hat weitläuftige Güter; er ist reich und hat mir eine unumschränkte Gewalt zum Wohltun gegeben.[296] O mein Kind, es war gut, daß alle meine Empfindungen durch widrige Begebenheiten aufgeweckt und geprüft wurden; ich bin um so viel fähiger geworden, jeden Tropfen meines Maßes von Glückseligkeit zu schmecken. Sie wissen, daß ich Gott dankte, daß er in meinem Elende mir den Gebrauch meiner Talente zu Verminderung desselben gelassen hatte und meinem Herzen die Freude nicht entzog, wohltätig zu sein. Ich fühle nun mit aller Stärke die verdoppelten Pflichten des Glücklichen; nun muß meine Gelassenheit, Demut und meine Unterwerfung zur Dankbegierde werden. Meine Kenntnisse, die die Stütze meiner leidenden Eigenliebe und die Hülfsmittel waren, durch welche ich hier und da einzelne Teile von Vergnügen erreichte, sollen dem Dienst der Menschenliebe geweihet sein, sie zum Glück derer, die um mich leben und zu Ausspähung jedes kleinen, jedes verborgenen Jammers meiner Nebenmenschen zu verwenden, um bald große, bald kleine liebreiche Hülfe ausfindig zu machen. Kenntnisse des Geistes, Gute des Herzens – die Erfahrung hat mir bis an dem Rande meines Grabes bewiesen, daß ihr allein unsere wahre irdische Glückseligkeit ausmachet! An euch stützte meine Seele sich, als der Kummer sie der Verzweiflung zuführen wollte. Ihr sollt die Pfeiler meines Glücks werden; auf euch will ich in der Ruhe des Wohlseins mich lehnen und die ewige Güte bitten, mich fähig zu machen, an der Seite meines edelmütigen menschenfreundlichen Gemahls ein Beispiel wohlverwendeter Gewalt und Reichtümer zu wer den! –

Sie sehen, meine Freundin, daß alle meine Bedenklichkeiten meinen Empfindungen weichen mußten. Ich sah das Vergnügen so vieler rechtschaffenen Herzen an das Glück des meinigen gebunden, daß ich meine Hand gerne zum Unterpfand meiner Liebe für ihre Zufriedenheit gab. Mylord will ein Schulhaus und ein Hospital nach der Einrichtung der Sternheimischen erbauen lassen; er betreibt den Plan, weil er den Bau während unsrer deutschen Reise führen lassen will. Künftige Woche gehen wir nach Summerhall; dort wollen wir die Briefe meines Oncles von R- erwarten, und dann (sagen Seymour und Rich) wollen sie jede heilige Statte besuchen, wo mich mein Kummer herumgeführt habe. Sie werden also, meine Emilia, sehen und[297] überzeugt werden, daß die erste und stärkste Neigung meines Herzens der würdigsten Person meines Geschlechts gewidmet war. Morgen kommen Mylord Crafton und Sir Thomas Watson, meiner Großmutter Bruders Sohn, zu uns; ich werde aber meine übrigen Verwandten, London und den großen Kreis meiner Nachbarn erst nach unserer Zurückkunft aus Deutschland sehen.


Mylord Rich an Doktor T.

Ich bin wieder in Seymourhouse, weil mir ohne die Familie meines Bruders die ganze Erde leer ist. Mit tausendfachen geistigen Banden hat mich die Lady Seymour gefesselt, und die Herbsttage meines Lebens wurden so glühend, daß unsere Reise mich beinahe mein Leben kostete. Ich sah sie in Summerhall; zu Vaels bei ihrer Emilia; in ihrem Gesindhause; in D* bei Hofe; in Sternheim bei ihren Untertanen; bei dem Grabe ihrer Eltern! – die anbetungswürdige Frau! In allen Gelegenheiten, in allen Stellen, wohin der Lauf des Lebens sie führt, zeigt sie sich als das echte Urbild des wahren weiblichen Genies und der übenden Tugenden ihres Geschlechts. – Auf unserer Rückreise wurde sie Mutter; – und was für eine Mutter! O Doktor! ich hätte mehr, viel mehr als Mensch sein müssen, wenn der Wunsch, sie zu meiner Gattin, zu der Mutter meiner Kinder zu haben, nicht tausendmal in meinem Herzen entstanden wäre! Mit wie vielem Recht besitzt die Tugend der großmütigen Aufopferung unsers Glücks die erste Stelle des Ruhms! Wie teuer kostet sie auch ein edelgewöhntes Herz! – Wundern Sie sich ja nicht, wenn sie selten ist. – Doch eine Probe wie diejenige, die ich machte, hat nicht leicht statt. Mit Vergnügen hab' ich das Glück meines Bruders dem meinigen vorgezogen. Die Handlung reuet mich nicht, ich litt nicht nur niederträchtigen Neid, sondern allein durch das gezwungene Stillschweigen meiner Empfindungen, die ich keinem Unheiligen anvertrauen will, um die falsche Beurteilungen meiner ehrerbietigen Leidenschaft zu vermeiden und die reine Freundschaft meiner edlen Schwester in kein zweideutiges Licht zu bringen. Ich fiel in eine düstre Melancholie und entzog mich[298] Seymours Hause auf einige Monate. Die Stille meines Landguts, wo ich ehemals von meiner großen Reise ausruhete, gab mir diesmal kein ganzes Maß von Frieden; ich wollte mich überwinden; aber ich bin an den süßen Umgang der fühlbarsten Seele gewöhnt; ihre schönen Briefe sind nicht sie selbst. Mein Lord Rich wurde geboren, und ich flog nach Seymourhouse; eine selige Stunde war es, in welcher Lady Seymour mir dieses Kind auf die Arme gab und mit allem Reiz ihrer seelenvollen Physionomie und Stimme sagte: »Hier haben Sie Ihren jungen Rich; Gott gebe ihm mit Ihrem Namen Ihren Geist und Ihr Herz!« – Ein entzückender Schmerz durchdrang meine Seele. Er ruht in mir; niemand soll jemals eine Beschreibung von ihm haben. Der kleine Rich hat die Züge seiner Mutter; diese Ähnlichkeit schließt ein großes Glück für mich in sich. Wenn ich das Leben behalte, soll dieser Knabe keinen andern Hofmeister, keinen andern Begleiter auf seinen Reisen haben als mich. – Alle Ausgaben für ihn sind meine; seine Leute sind doppelt belohnt; ich schlafe neben seinem Zimmer; ja, ich baue ein Haus am Ende des Gartens, in das ich mit ihm ziehen werde, wenn er volle zwei Jahre alt sein wird. Indessen bilde ich mir die Leute, die um ihn sein werden. Dieses Kind ist die Stütze meiner Vernunft und meiner Ruhe geworden. Wie wert macht ihn mir jede Umarmung, jede zärtliche Sorge, die er von seiner Mutter erhält – und wie glücklich wächst er und sein Bruder auf! Jede Handlung ihrer Eltern sind Beispiele von Güte und Edelmütigkeit. Segen und Freude blühen in jedem Gefilde der Gebiete meines Bruders; Danksagungen und Wünsche begleiten jeden Schritt, den er mit seiner Gattin macht. Mit einer Hand stützen sie das leidende Verdienst und helfen andrer Elende ab; mit der andern streuen sie Verzierungen in der ganzen Herrschaft aus, aber dies mit der feinsten Unterscheidung. Denn die Lady Seymour sagt: niemals müsse auf dem Lande die Kunst die Natur beherrschen; man solle nur die Fußstapfen ihrer flüchtigen Durchreise und hier und da einen kleinen Platz sehen, wo sie ein wenig ausgeruhet hätte. Unsere Abende und unsere Mahlzeiten sind reizend; ein munterer Geist und die Mäßigkeit beleben und regieren sie. Fröhlich treten wir in die Reihen der Landtänze unserer Pächter,[299] deren Freude wir durch unsern Anteil verdoppeln. Die Gesellschaft der Lady Seymour wird von dem Verdienst gesucht, so wie Laster und Dummheit vor ihr fliehen; Sie können hoffen, in unserem Hause wechselsweise jede Schattierung von Talenten und Tugenden zu finden, die in dem Kreise von etlichen Meilen um uns wohnen. Und hier hat der Charakter meiner geliebten Lady Seymour einen neuen Glanz dadurch erhalten, daß sie die Verdienste anderer Personen ihres Geschlechts so lebhaft fühlt und schätzt. Mein Bruder ist der beste Ehemann und würdigste Gebieter von etlichen hundert Untertanen geworden; Seligkeit ist in seinem Gesichte, wenn er seinen Sohn, an der Brust der besten Frau, Tugend einsaugen sieht; und jeder Tag nimmt etwas von dem lodernden Feuer hinweg, welches in alle seine Empfindungen gedrungen wäre. Er hat die schwere Kunst gelernt, sein Glück zu genießen, ohne irgend jemand durch ein außerordentliches Geräusche mit seinem Glücke Schmerzen zu machen. Das einfache, obgleich edle Aussehen unserer Kleidung und unsers Hauses läßt auch die ärmste Familie unserer Nachbarschaft mit Zuversicht und Freude zu uns kommen. Von diesen Familien nimmt Lady Seymour von Zeit zu Zeit ein paar Töchter zu sich und flößt durch Beispiel und liebreiches Bezeugen die Liebe der Tugend und schönen Kenntnisse in sie. Der reizende Enthusiasmus von Wohltätigkeit, die lebendige Empfindung des Edlen und Guten beseelt jeden Atemzug meiner geliebten Schwester. Sie begnügt sich nicht, gut zu denken; alle ihre Gesinnungen müssen Handlungen werden. Gewiß ist niemals kein inniger Gebet zum Himmel gegangen, als die Danksagung war, welche ich die Lady Seymour für die Empfindsamkeit ihres Herzens und für die Macht, Gutes zu tun, mit tränenden Augen aussprechen hörte. Wieviel Segen, wie viele Belohnung verdienen die, welche uns den Beweis geben, daß alles, was die Moral fodert, möglich sei und daß diese Übungen den Genuß der Freuden des Lebens nicht stören, sondern sie veredeln und bestätigen, und unser wahres Glück zu allen Zufällen des Lebens sind!

14

Aber werden nicht eben durch dieses warnende Beispiel ihre Fehler selbst wohltätig? Warum findet sie nichts Tröstendes in dieser Betrachtung? – Weil auch die edelmütigsten Seelen nicht auf Unkosten ihrer Eigenliebe wohltätig sind. H.

15

Welche Zumutung, Mylord Derby? Konnten Sie ihre Zeit nicht besser nehmen. H.

16

In der Tat löset diese Antwort das Rätsel gar nicht auf. Mylord Derby ersparte ihr ja diese eigene Bemühung. – Warum wurde sie dennoch so ungehalten? Warum sagte sie, er zerreiße ihr Herz, da er doch nur ihr Deshabillé zerriß? – Vermutlich, weil sie ihn nicht liebte, nicht zu einer solchen Szene durch die gehörige Gradation vorbereitet und überhaupt in einer Gemütsverfassung war, welche einen zu starken Absatz von der seinigen machte, um sich zur Gefälligkeit für einen Einfall, in welchem mehr Mutwillen als Zärtlichkeit zu sein schien, herabzulassen. H.

17

Der ziemlich ins Preziöse fallende und von der gewöhnlichen schönen Simplizität unsrer Sternheim so stark abstechende Stil dieses Dialogen scheint zu beweisen, daß sie bei dieser Unterredung mit Frau von C–, nicht recht à son aise war. [A. d. H.]

18

Diese Frage ist eben nicht schwer zu beantworten: das edeldenkende, tugendhafte Mädchen darf dies nicht, weil man keine eigene Moral für sie machen kann. [A. d. H.]

Quelle:
Sophie von La Roche: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. München 1976.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Geschichte des Fräuleins von Sternheim
Geschichte des Fräuleins von Sternheim
Geschichte des Fräuleins von Sternheim

Buchempfehlung

Suttner, Bertha von

Memoiren

Memoiren

»Was mich einigermaßen berechtigt, meine Erlebnisse mitzuteilen, ist der Umstand, daß ich mit vielen interessanten und hervorragenden Zeitgenossen zusammengetroffen und daß meine Anteilnahme an einer Bewegung, die sich allmählich zu historischer Tragweite herausgewachsen hat, mir manchen Einblick in das politische Getriebe unserer Zeit gewährte und daß ich im ganzen also wirklich Mitteilenswertes zu sagen habe.« B.v.S.

530 Seiten, 24.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon