Achtzehnter Brief

[102] Mariane! dieses Haus ist für mich seit vier Tagen eine moralische Schule geworden. Wie wenig kannte ich die Empfindungen von Seligkeit, die mich in der Familie der Madame G** erwarteten, als ich, bey dem Anfang ihrer Bekanntschaft, über die Zeit murrete, die ich ihrer Gesellschaft widmen mußte! Vorgestern glaubte ich den schönsten Auftritt gesehen zu haben, da ich die Freude der Tugend über das verdiente und erhaltene Glück in ihrem vollen Maaße betrachtet hatte; aber, wie übertreffend war die heutige Scene, da ich der Vorsicht mit der Bewegung des Entzückens für die Gewalt danken hörte, die man fand, einem Feinde Vergnügen zu machen! Der Zufall gab Herrn Fr** eine Gelegenheit, dem allernächsten Verwandten seines größten Widersachers einen wichtigen Dienst zu leisten. Er hätte es durch schöne Gründe ablehnen können. Schwierigkeiten waren auch genug da; aber ich sah ihn seine Hände falten, und mit der eindringenden[102] Stimme der Seele sagen: »O göttliche Vorsicht, wie sehr liebst Du mich! wie reichlich belohnst Du meine Leidensjahre! Du giebst mir Glück, und die Gewalt, jemand, der mir Böses that, Gutes zu thun!« – Glanz, aus welchem ehmals die Idee des Schimmers entstund, den man um das Haupt der Heiligen mahler, dieser Glanz war auf seinen Gesichtszügen verbreitet. Sein Gang, seine Stellung schien mir das Schweben einer Seele zu seyn, die über die Hülle ihres Körpers erhaben ist. Er küßte den Brief, der den Anlaß zu diesen Entzückungen gegeben hatte. Er nannte ihn ein sichtbares Zeichen der Güte der Vorsicht. »Möchte der Rachgierige,« sagte er, »nur einen Augenblick die Zufriedenheit meines Herzens fühlen! wie gerne würde er den Beleidiger vergeben und ihn umarmen! Denn es ist unmöglich, daß die Zufriedenheit, welche von der Tugend in unser Herz gegossen wird, nicht auch zugleich den höchsten Grad Menschenliebe in uns verbreitete!« – Er umarmte seinen eilfjährigen Sohn und sagte: »Gott gebe Deinem Herzen die Fähigkeit, auch einst diese Freude zu fühlen, und lasse sie, wie[103] bey mir, das überfließende Theil Glückseligkeit werden!«

Das Kind, so alles gehört hatte, fragte: »Papa, ist es denn eine so große Freude, seinem Feinde Gutes zu thun?« – »Ja, mein Sohn, es ist die größte Freude meines Lebens. Ich bin sicher, daß ihr Andenken die letzte Stunde meines Daseyns erheitern wird, wenn schon die Erinnerung vieles andern Vergnügens lange aus meinem Gedächtniß seyn muß.« – Madame G** fing wieder an, von seinen erlittenen Verdrüßlichkeiten zu reden, und sie her zu erzählen. – »Laß dieses, meine geliebte Schwester, ich sehe Deine ganze antheilnehmende Liebe in Deinem Eifer; aber, das gegenwärtige Gute muß die Spuren des vergangnen Bösen verlöschen. Wie klein ist die Summe meines Grames, gegen die unvermischte Freude, die ich wirklich genieße! Störe sie nicht, und laß mich wünschen, daß der widriggesinnte Mann eben so vollkommen vergessen möge, daß er mir Uebels that, als ich es vergessen werde, und o möchte er mich einst lieben können, wie ich ihn!« –[104]

»O, Bruder!« sagte Madame G**, »was für ein Mann bist Du? Kann Dir dieses Ernst seyn?« – »Ach, meine Liebe, wie traurig ist mir diese Frage! Wie selten muß die Tugend des Verzeihens der Beleidigungen, der Liebe und des Wohlthuns gegen Feinde geworden seyn, wenn ein Herz, wie das Deinige, an ihrer Möglichkeit zweifelt! Da überzeugst mich, daß unsere Freundinn H** Recht hat, den größten Theil ihrer besten und erhabensien Gesinnungen unter einem dichten Schleier zu verbergen.« – »Lieber Bruder, werde mir nicht so ernsthaft! werde nicht böse auf mich, sondern sage mir, wen kennst Du, der das bittre Unrecht, so Dir widerfuhr, auf diese Art genommen hätte? Ich fühle deswegen doch, daß dies, was Du sagst und thust, schön und vorzüglich ist, und Du bist mir diesen Morgen theurer und lieber geworden, als jemals, und ich freue mich, Deine Schwester zu seyn.« – Er umarmte sie und sagte dabey: »Deine Hochachtung ist mir sehr schätzbar, mein Kind; aber, glaube mir, ich würde die Güte der Vorsicht sehr wenig verdienen, wenn mein[105] Dank für erfüllte Wünsche, mit Gesinnungen des Hasses vermischt wäre. – Ich sehe aber,« setzte er lächelnd hinzu, »daß Du einem Frauenzimmer nicht so leicht vergeben hättest, wenn sie durch falsche und giftige Nachreden gegen Deine glückliche Verbindung mit Hrn. G** gearbeitet hätte.« – »O, nun lachte ich sie aus, denn ich bin seine Frau!« – »Spott ist Rache! Dünkt sie Dich denn so süß?« – »Und was Du sagst, ist Strafe! freut Dich dieses auch?« – »Wir wollen endigen, meine Liebe. Ich weiß, daß Dein Herz dem meinigen nicht widerspricht,« sagte Herr Fr**, mit einer liebreichen, aber doch etwas ernsten Miene.

Ich hatte nach dem langsamen Einschlürfen meiner Tasse Coffee mein Strickzeug genommen und still gearbeitet, während Herr Fr** und seine Schwester mit einander sprachen; aber manchmal erhob ich meinen Kopf, um den Ausdruck seiner Physiognomie zu beobachten. Er hatte es bemerkt; denn nach den letzten Worten gegen Frau G** näherte er sich mir, und sagte: »Den Beyfall Ihrer Seele habe ich in den Blicken gesehen, die Sie mir gönnten. Diese Blicke werden einst[106] für die Tugend Ihres Gatten Belohnung und Aufmunterung seyn.« Und hiemit ging er in sein Cabinet, und ließ uns staunend und gerührt zurück. Die Augen der Madame G** waren noch auf die Thüre geheftet, als ich sie umarmte und sie versicherte, daß der Tag, an welchem sie mir ihre Freundschaft schenkte, mit auf immer unvergeßlich seyn würde, weil ich dadurch das Urbild eines edlen und rechtschaffenen Mannes kennen gelernt hätte, und es freute mich, sie des Glücks, Frau eines G** und Schwester eines Fr** zu seyn, so würdig zu sehen. »Und mich freuts, daß Rosalia L** mir dieses mit Zärtlichkeit sagt.« – Darüber eilte ich in mein Zimmer, um ihnen dieses noch Vormittags zu schreiben; und ich glaube, Sie an meiner Hand auf die erhabenste Gegend der moralischen Welt geführt zu haben.

Rosalia.[107]

Quelle:
Sophie von La Roche: Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St**. Theil 1–3, Teil 1, Altenburg 1797, S. 102-108.
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