Funfzigster Brief

[347] Zwey Familien, deren Landgüther etliche Stunden weit von hier entfernt sind, haben sich wieder in die Stadt begeben, und dadurch bin ich mit vier Personen bekannt worden, die mir sehr schätzbar sind. – Ein würdiger Mann von funfzig Jahren, der in einem großen, dem Fürsten gehörigen Dorfe, vier Bauerhöfe besitzt. In der Nähe dabey ist ein großer Wald; Eisenbergwerke und ein Bad, zu seiner abwechselnden Belustigung. Aber das ganze Maaß seines Gefühls und aller seiner Achtsamkeit ist für das Rutzhare und Schöne der physikalischen Welt. Stadtleute, ihrer Beschäftigungen und Vergnügen, sind ihm gleichgültig, wohl gar widrig, wenn sie sich zu nah an ihm drängen. Ich gewann seine volle Freundschaft, als ich mit vieler Aufmerksamkeit der Erzählung seiner ländlichen Freuden und Arbeiten zuhörte. Ein Bauer ist ihm das schätzbarste Geschöpf auf der Erde. Und dieser Enthusiasmus ist eine Quelle von Glückseligkeit für die umliegenden[347] Landleute geworden. Er macht sie nicht gelehrt; er führt sie nicht über die Gränzen ihrer Bestimmung, um ihnen fremd Land zu weisen, wo sie mehr, als Zufriedenheit und Nothdurft haben könnten: nein, er redet ihre einfache bedeutende Sprache; zeigt ihnen die Achtung, die er für ihre arbeitsame Hand in seinem Herzen hat; und übt auf seinem Landguthe jede dieser Handarbeiten selbst. Er hat sich die Kenntniß des Erdreichs, der Pflanzen, Bäume und Erze eigen gemacht, und kann daher den Bauern des Kornlandes zu mehrerer Benutzung ihrer Acker und Wiesenstücke helfen; und den Weingärtnern zu besserer Besorgung des Rebstocks und der Obstbäume. Er hat es aber mit der äußersten Menschenfreundlichkeit anzufangen, und sie nicht mit der Miene des Besserwissens und Tadelns zurück gescheucht, sondern gesagt, es wäre ihm erzählt worden, daß in dieser Gegend diese Versuche sehr gut gerathen wären und so viel Nutzen daraus gekommen sey. Er machte die Proben zuerst, legte sich meist auf Abkürzung und Erleichterung der Arbeit, ob er sie schon unter der Hand in vielfache Aeste verbreitete. Er selbst streute im Spatziergehen Heu-[348] und Kleesamen auch vernachläßigte Plätze der Gemeinde- oder Bauernwiesen; befreyte die Obstbäume von Moos; pfropfte gute Zweige darauf, zog dann vielerley Dünger, nahm den neu erfundenen auf welchen die Landleute kein Vertrauen hatten, für sein Feld und Gärten: und schenkte indessen den armen Bauern den Ueberfluß des bekannten; sorgte für die Kranken, für die Schulkinder, und ließ diesen von Jugend auf den höchsten Grad der Liebe gegen ihren Schöpfer und der Reinlichkeit einflößen. Umliegende Beamte suchte er zu seinen Freunden, um sie zu wohlwollenden Vorstehern der ihnen anvertrauten Unterthanen zu machen. Sein Anblick ist für den ganzen Umkreis seines Gutes eine Wohlthat, und er war es auch für mich! Von dem Augenblicke an, da ich seine Geschäftigkeit im Wohlthun kannte, und die Anzahl der Leute seines Standes berechnete, wovon immer hundert in den Städten wohnen, gegen einen auf dem Lande: so fand ich gar nicht übel, daß Einer eben so viel mit Leib und Seele dem Landleben ergeben ist, wie die neun und neunzig andern dem Gewühle der Stadt! Was soll auch ein, so ganz vom Wohlwollen überfließendes[349] Herz für einen Wohnplatz suchen, als den, wo die meisten Wesen mit ihm sympathisiren? jedes Grashälmchen, jede Aehre, und Pflanze, jeder Obstbaum und Weinstock, führt Wohlthätigkeit in den kleinsten Safttheilchen bey sich; Luft und Wasser haben es auch, weil sie reiner sind als in den Städten, so daß, wenn das Auge des wohlwollenden Menschen über die Fluren hinschaut, seine Seele in dem nemlichen Augenblick das innige Vergnügen fühlt, lauter gutthätige Geschöpfe zu erblicken. Reine, vollkommene Freuden, die er in der Stadt nicht gefunden hätte, weil da das Glück und die Bedürfnisse nicht mehr einfach sind, und also auch durch verschiedene Wege erlangt werden müssen, und meistens diejenigen, welche voraus gehen, oder die andern durch geschickte Nebengänge übervortheilen, unmöglich als wohlmeinend angesehen, oder geliebt werden können! Herr B** kommt auch sonst allezeit erst im halben November in die Stadt, und eilt am Ende des Februar wieder zurück, um den Anfang des Frühlings nicht zu verlieren; weil, wie er sagt, auf dem Lande jeder Busch und jede Staude ein fröhliches Aussehen über die wiederkommende[350] Kraft der Sonne hätte, Menschen und Thiere dankbar neues Leben und Wonne fühlten; und ihm die kaltsinnigen Gesichter der Städter, womit sie dem verjüngten Jahr entgegen sähen, unerträglich wären, weil sie die Freuden, welche diese schöne Jahrszeit verspreche, nicht als Wohlthat, sondern gleichsam als schuldige Abgabe der Natur annehmen. Seine Frau gehört in die Classe derer von dem Charakter der Madame G**. Eine Probe davon mag die artige Wendung geben, die sie letzt, bey einer Unterredung von Spiegeln, einem Gedanken gab, da wir jungen Frauenzimmer uns die Beschreibung von einer Glas- und Spiegelhütte, und deren Verfertigung von dem Herrn B** ausgegeben hatten. Sie scherzte über unser andächtiges Zuhören, und sagte, sie wäre sicher, daß wir den ersten Spiegelschleifer in unsern Herzen segneten, weil der liebe Mann der Stifter aller der süssen Stunden sey, die wir unsern artigen Gesichtern widmeten! Sie aber sie hätte ohnlängst die Entdeckung des moralischen Verdienstes ihres Spiegels gemacht, dem sie in unsern Jahren auch jede äußerliche Verzierung zu danken gehabt; von dem sie aber nun alle Tage die freundliche Erinnerung erhielte,[351] daß jetzo Weisheit und Reinlichkeit allein den gesellschaftlichen Werth ihrer Person bezeichneten, ja, daß er ihr letzt, bey aufkeimenden zu, zärtlichen Gesinnungen für einen liebenswürdigen Mann, ganz derbe gesagt hätte: Liebe und Grazien wohnten sehr gerne in schön geworfenen Falten eines Kleids, oder Halstuchs, aber nimmermehr in den anfangenden Runzeln eines verjährten Gesichts, Sie hätte auch, seit demselben Augenblicke ganz bescheiden die Verzicht auf alle Ansprüche des Gefallens unterschrieben.

Der muntre, und dabey sanfte Ton, mit dem sie dieses sagte, hatte uns gefreut. Julie U**, die eine nahe Verwandtinn von ihr ist, küßte ihre Hand und sagte: »Sie werden jetzund aber durch die Verehrung schadlos gehalten, die beyde Geschlechter für Ihren Charakter haben!«

»Ja, meine Julie! dies ist ein großer Ersatz, wenn unser Herz uns des Zeugniß giebt, daß wir Verehrung verdienen, weil es das Höchste ist, was ein Mensch dem andern geben kann; denn, ich glaube, wir gebrauchen diesmal den Ausdruck nicht, wie er in Ansehung der Großen und Mächtigen[352] aussieht, sondern, wenn ich jemand von meinem Stande Verehrung beweise: so muß sie durch das vorzügliche Verdienst des Geistes und der Tugend erworben seyn. Und dann, liebe, artige Märchens! ist es gewiß der schönste Augenblick des Lebens, diese Gesinnung in der Seele meines Nebenmenschen erweckt zu haben. Ich wünsche.« setzte sie mit einer Verbeugung gegen uns alle hinzu, »daß in neunzehn Jahren ein eben so gefühlvolles Mädchen, wie unsere Julie ist, Sie meine jetztblühende Freundinnen, der Verehrung ihrer Zeitgenossen versichern möge!« –

Mich deucht, diese Frau hat die Gabe, ihren Umgang liebreich und angenehm für junges Frauenzimmer zu machen. Ihre siebenzehn Jahr alte Tochter war mit bey uns, Diese hat auch einige bedeutende Züge in ihrem Thun und Wesen. Zum Beweis, sie spielt Clavier; hat aber ihren ganzen Fleiß allein auf den vollkommensten Ausdruck und Nettigkeit des Andante verwendet, worin sie auch bis zur zauberischen Rührung gekommen ist, indem sie jetzt schon entweder die süsseste Schwermuth, oder die sanfteste Seelenruh in[353] ihre Zuhörer bringt, und die außerordentliche Fertigkeit ihrer Finger nur in einem Laufe zeigt, den sie am Ende eines Adagio anschließt, eh sie es das zweytemal wiederholt. Denn, nachdem hört sie nur durch eine Art von Seufzer auf, und läßt einem das ganze Gefühl, so sie gab. Sie hatte bisher auf dem Landguth ihrer Eltern die Obsorge für die Blumen und wohlriechenden Kräuter; die Tauben- und Hünerzucht stund auch unter ihr, und das Confect. Nun aber bekommt sie auch künftiges Jahr den Gemüsgarten, Kenntniß der Obstbäume, Küchenaufsicht, nebst der Spinn- und Weberey, mit der ganzen Weißzeugkammer zu führen. Kann sich hingegen von ihren Eltern verschiedene Geschenke ausbitten. Die Geschichte hat sie mit ihrem ältern Bruder gelesen, und der Caplan des Orts lehrt sie der Frau Unzerinn Weltweisheit für Frauenzimmer, und Moral, nebst der Englischen Sprache. Den Winter über bekommt sie in der Stadt Unterricht im Zeichnen, Tanzen und Frauenzimmerputzarbeiten; und hier nimmt auch ihre Mutter den Vorrath von schönen Büchern mit, die dann bey den Frühstücken und an Regentagen gelesen werden. Wilhelmine B**[354] wird, ohne besondre Schönheit, eine der reizendsten Personen unsers Geschlechts. – Aber, sie bittet das Schicksal auch um einen Landmann. Denn das erste Gefühl von Freude und Schönheit der Natur ist ihrer Seile in einem in voller Blüthe stehenden Baumgarten gegeben worden, worinn ein zahmgezogenes Huhn und ein Schäfchen, auf dem nehmlichen Teller, Brod und Milch mit ihr aßen. Der Ort, wo von ihr gepflanzte Rosen und blaue Holderstücke aufwachten wo sie, an der Seite ihrer Mutter, kranke Frauen und Kinder besucht und erquickt hat, wo sie ihre Eltern segnen hört, muß der gewünschte Wohnsitz ihrer Glückseligkeit seyn. – Einmal, meine Mariane! einmal möchte ich diese Familie mit Ihnen und dem Freunde meines Herzens auf einige Tage besuchen! Aber, die besten, die edelsten, oft leichtesten Wünsche, werden am wenigsten befriediget. Wissen Sie es, warum nicht?[355]

Quelle:
Sophie von La Roche: Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St**. Theil 1–3, Teil 1, Altenburg 1797, S. 347-356.
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