Ein und funfzigster Brief

[356] Ich habe die letzten Tage allein mit meinem Kopfe zugebracht, und seitdem noch eine sonderbare Bekanntschaft gemacht. Unser Ott erzählte, daß die fremde Frau, die in den Vorstadt wohnt, sich eines von den zwey neuen Häusern an der Mauer gekauft hätte, von dem sie den untern Stock zu einer Schule der Vorstadt einrichte, wozu sie sich von dem Magistrat die Erlaubniß ausgebeten. Bey allen armen da wohnenden Handwertsleuten habe sie Arbeit bestellt, und bey den geschicktesten davon arme Lehrjungen aufgedingt, wofür sie ein gutes Lehrgeld bezahle, um auf diese Art den Leuten wieder aufzuhelfen, und ihre Kinder aus dem jetzigen Elend zu reißen und vor dem künftigen Verderben zu bewahren. Von dem Magistrat habe sie sich ausgebeten, daß in zwey Jahren Niemand weiter in die Vorstadt ziehen dürfe. Ihren Stand und Herkommen wisse man nicht; aber Amsterdamer Kaufleute hätten ihr an die besten hiesigen Häuser offene Wechsel gegeben. – –[356]

Urtheilen Sie nach der Kenntniß meines Charakters, was diese Erzählung auf mich würkte, und wie begierig ich wurde diese Frau auch nur von ferne zu sehen. Glücklicher Weise hatte ich meinem Schuhmacher, der in der Vorstadt wohnt, schon lange versprochen, sein Kind aus der Taufe zu heben. Dies geschah vor einigen Tagen. Ich ging daher in sein Haus, wo ich die Wöchnerinn, die vier ältern Kinder und das nöthige Hausgeräth in der größten Ordnung und Reinlichkeit antraf. Dieser Anblick freute mich so, wie er mich in Erstaunen setzte. Der Mann merkte es und sagte: »Sie wundern sich, daß alles so schön und gut ist, weil sie mich immer als einen armen Mann gesehen haben. Aber die fremde Frau hat schon etliche Haushaltungen so eingerichtet. Sie ist selbst herumgegangen, hat alles durchsucht; was zerbrochen war, ließ sie durch unsere arme Handwerksleute ausbessern, was am nöthigen Hausgeräth mangelte, kaufte sie uns, kleidete die Kinder, ließ alles sauber putzen und waschen, hernach gab sie mir und meiner Frau die Hand, und wünschte, daß wir glücklich leben möchten. Alle Leisten, Leder[357] und was mir fehlte, hat sie mir auch geschaft. Gort verhelt ihrs!«

Die Frau im Bette weinte Thränen der Freude, während ihr Mann erzählte und fing an, halb schluchzend zu sagen: »Ja, das ist alles wahr. Mir hat sie Leinen und Betten gegeben, auch Flachs und Hanf zum Spinnen. O, wenn ich leben bleibe, so kann ich jetzt als eine recht brave Bürgerfrau stehen, und auch meine Mädgen dazu ziehen. Sie wollte meine Gevatterinn werden, aber ich sagte, daß wir schon eine so gute fremde Jungfer dazu hätten. Da sagte sie: ›Die behaltet Ihr; ich kann Euch sonst Guts thun.‹ Sie ließ die Hebamme kommen, und gab ihr Geld, und redete ihr zu, recht wohl für uns arme Weiber zu sorgen. Sie war heut schon bey mir, und freute sich, daß ich so gesund bin.«

Ich saß da gerührt, verwundert. Was für einen Werth giebt diese Frau dem Gelde, dachte ich, und wurde immer begieriger, sie selbst zu sehen. Als ich von der Taufe zurück kam, war sie im Hause, um zu verhindern, daß die Wöchnerinn durch die häßliche Gewohnheit des Kindtaufschmauses nicht Gefahr.[358] liefe, krank zu werden, und versprach den sechs Weibern, die mit zur Kirche gegangen waren, ihnen am Ende des Wochenbetts einen recht vergnügten Tag zu machen. Diese gingen also fort, und ich kam mit der Hebamme und dem Manne allein in die Stube, wo ich die Fremde sitzen sah. Ich hatte an der Thür mein Pathgen auf den Arm genommen, und übergab es seiner Mutter, mit der Bitte, es wohl zu erziehen, und der Versicherung, daß ich meine Pflichten gegen dasselbe getreu erfüllen würde. »Denn,« sagte ich bewegt gegen die Fremde, »für dieses Kind müssen Sie mich auch was thun lassen!« – »Sehr gern,« antwortete sie; »denn ich kenne das Vergnügen des Wohlthuns zu sehr, um Jemand dessen zu berauben.« – Hiebey sah sie etwas nachforschend mich an. Ich schlug stillschweigend meine Augen nieder. Einige Momente darauf fing sie auf Französisch, aber mit einer gedämpften Stimme an zu sagen: »Sie sind auch fremd hier?« – »Ja! aber nun beynah nicht mehr, weil ich so viele Bekanntschaften gemacht habe.« – »Sind auch Freundschaften darunter?« – »Nur zwey, welche diesen ehrwürdigen Namen[359] verdienen.« – »Das ist mir leid,« sprach sie, indem sie mich einen Augenblick fest ansah, dann den Kopf etwas niedersenkte, und zugleich eine Miene, und mit der rechten Hand eine Bewegung machte, die den Ausdruck anzeigte: Es mag seyn; dann vor sich hin, im Englischen: »Dieses kleine Wölkchen mag sich mit den übrigen vereinigen, die meine Tage verfinstert haben.« Ich faßte Herz, sie etwas fragend anzusehen. Sobald sie es bemerkte, sagte sie: »Stoßen sie sich nicht an meinem Wesen. Ich habe bey Ihrem Anblick einen Zug zu gesellschaftlicher Verbindung gefühlt. Die Idee, daß Sie fremd sind, stärkte meine Hoffnung, aber Ihre Verhältnisse nehmen mir diesen Schimmer von Freude wieder. Ich will Sie nicht von bekannten Gütern abziehen, um Ihnen Geschmack an etwas Sonderbarem zu geben, und die Bedürfnisse meines Herzens sind zu groß, um durch einen kleinen Theil vergnügt zu werden; und dann will ich auch Ihren ältern Freunden nichts nehmen.« – Ich fiel hier ein: »Glauben Sie aber nicht, daß dies, was Sie mir sagen, meiner Seele Ihre nähere Bekanntschaft[360] nöthig macht?« – »O! so vergeben Sie mir meine Unvorsichtigkeit,« sagte sie mit einer ganz edlen Bewegung gegen mich. »Gott! diesen Leuten hier suche ich körperliche Uebel zu erleichtern, und Ihnen, fühlbares Geschöpf, gäbe ich Leiden der Seele!« – »Es freut mich unendlich, daß Ihr großmüthiges Herz dies empfindet, und ich hoffe, daß Sie mir erlauben werden, Sie näher kennen zu lernen!« – »Dringen Sie nicht zu sehr in mich, ich bitte Sie; wenn ich Ihren Umgang in meinen Plan einschalten kann, so will ichs thun.« Ich machte ihr eine dankbare Verbeugung; sie sah nach ihrer Uhr, und ging kurz darauf weg.

Sie ist groß, wohlgewachsen, richtig, aber nicht fein gebildet, und hat im Ganzen keine Züge von Schönheit: aber sie ist mit einem Ausdruck von Anstand, Güte und Bescheidenheit übergossen, welches, wie ich sagen möchte, eine Art Firniß ausmacht, durch den ihre ganze Gestalt einen edlen Schimmer erhält. In ihrem schönen Aug' ist viel Geist, Empfindung und der kleine Zug von Schwermuth, so in ihrer Miene herrscht, machen den Wunsch nach ihrer Freundschaft entstehen, weil alles[361] zusammen Vertrauen und Achtung einflößt. Ihre Kleidung war brauner Grosdetour, mit nemlichen Zeuge garnirt. Die breiten Bänder der Armschleifen waren auch von dieser Farbe. Haube, Manschetten und Halstuch von weißen Flor; Ohrringe von einem einzigen Diamant; ihre Schube auch braun, wie der Rock, aber auf englische Art, mit niedrigen Absätzen und sehr passend, so wie sie in allem äußerst nett und reinlich ist, und eines der ersten Stücke, so sie in ihrem Hause zurecht machen ließ, ein Badzimmerchen ist, dessen sie sich fast alle Tage bedient. Sie hat einen Bedienten und dessen artige Frau mitgebracht, hier aber noch zwey Mägde angenommen, die sich sehr glücklich bey ihr finden. Uebrigens ißt sie sehr wenige und einfache Speisen.

Sprachen versteht sie, allem Anschein nach, sehr gut; denn bey dem Buchführer hat sie alle historische und physische Bücher, auch Reisebeschreibungen begehrt, die Englisch, Deutsch, Französisch und Italienisch herausgekommen sind; und auf dem Postamt alle Zeitungen und Journale, die in diesen Sprachen ausgehen, bestellt. Die beyden Mahler in der[362] Stadt hat sie schon etlichemal bey sich gehabt, und ihnen ihre große Sammlung von Kupfern gewiesen, welche das einzige seyn soll, was sie mitbrachte; denn alles weiße Zeug, Maublen und Kleider schafte sie sich hier an. Aber in die Stadt hat sie noch keinen Fuß gesetzt. Nur einsame Spatzierfahrten machte sie in ihrem artigen Englischen Wagen, stieg an dem Wäldchen mit ihrer Kammerfrau aus, und ging allein, von ihr entfernt, spatzieren. Das Clavier soll sie ganz vortreflich spielen, und der Ton und die Musik ihrer Stimme faßt, nach Herr Ott und G**, die sie auf der Stadtmauer belauschten, so viele Kunst in sich, daß sie sie für eine, durch ihr Talent bereicherte, Sängerinn halten, die durch ein Theaterunglück, oder einen Anfall von Eigensinn, der diesen Personen oft anklebt, hieher gekommen ist, um ihrem Andenken eine Stelle in dem Tempel des Ruhms und der Tugend zu erwerben. – Dies sagten mir die boshaften Leute just den Abend, da ich, ganz von ihr eingenommen, meine Unterredung mit ihr erzählte und ihr Bild beschrieb, so wie es mir erschienen war. Es mag seyn, wie es will, so freut mich ihre[363] Bekanntschaft, und ich werde sie fortsetzen, so weit sie es gehen lassen wird.

Gestern und vorgestern hat es stark geregnet, und ich war heute nicht ganz wohl. Aber Morgen Abend werde ich mit Julien. Orten, Herrn und Frau G**, selbst auf die Mauern klettern, um sie singen zu hören. Adieu! von

Ihrer

Rosalia.[364]

Quelle:
Sophie von La Roche: Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St**. Theil 1–3, Teil 1, Altenburg 1797, S. 356-365.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Jean Paul

Flegeljahre. Eine Biographie

Flegeljahre. Eine Biographie

Ein reicher Mann aus Haßlau hat sein verklausuliertes Testament mit aberwitzigen Auflagen für die Erben versehen. Mindestens eine Träne muss dem Verstorbenen nachgeweint werden, gemeinsame Wohnung soll bezogen werden und so unterschiedliche Berufe wie der des Klavierstimmers, Gärtner und Pfarrers müssen erfolgreich ausgeübt werden, bevor die Erben an den begehrten Nachlass kommen.

386 Seiten, 11.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon