Zehnte Szene.

[65] CHRISTINE allein. Ein alter Mann, der viel erlebt, zuviel erlebt hat, er kommt auf Spielereien – und doch ist er ein denkender Mann – ist er weise, oder ist er ein altes Weib? Ja, das letzte entscheidende Urteil über einen Menschen ist eben so schwer! Und ich fürchte, ich fürchte, um das zu haben, muß man ein Mann sein. Man muß abschließen können, gehe dabei zugrunde was mag. Ein Urteil, sei's auch nicht erschöpfend, ist doch besser, als immerwährendes Abwägen, das keine Gewichtsbestimmung wagt. Und ist's nicht besser, so ist's doch mehr, man kommt doch von der Stelle, man kommt doch weiter, man bleibt doch nicht immer am Berge stehn, messend und rechnend – Pause. Sie steht auf.

Ein Mann! Interesse! Leben! An diesem Santinelli hab' ich nichts gefunden. Er hat nur gerade so viel Geist, um klug zu sein, aber der Geist ist unbewegt und deshalb uninteressant. Er ist ein sogenannter Charakter, und darum langweilig, denn ich kenne die Grenzen, in denen er sich bewegt, und das nennen eben die Menschen Charakter. Fürs bürgerliche Leben ist das viel wert, für mich nicht. Gibt es denn nicht Charakter in einem größeren Kreise, den man erst nach vollendetem Leben über sieht? Sie setzt sich wieder.


In dem offenen Balkonfenster hinten erscheint von unten auf Monaldeschi und bleibt, noch großenteils außerhalb, stehn.


Quelle:
Heinrich Laube: Gesammelte Werke in fünfzig Bänden. Band 23, Leipzig 1908–09, S. 65.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Monaldeschi
Monaldeschi: Tragödie in Fünf Acten Und Einem Vorspiele (German Edition)