85. Natur der Hirschen.

[321] Von des Hirschen Eigenschafft erzehlet man folgende Historie: Wann der Hirsch alt worden / und ihm das Geweihe oder die Hörner / wie dann auch die Haare gar zu lang gewachsen / da gehe er zu einer Höle /und ziehe aus derselben / durch seinen starcken Athem / eine Schlange herfür in die Nase; Wodurch er so sehr erhitzet und angestecket werde / daß er alsbald mit grosser Begierde seinen Durst[321] zu löschen / frisch Wasser suche. Wann er das gefunden / lauffe er hinein biß an den Kopff / stehe also im Wasser und trincke doch nicht / (weil ihn das die Natur lehret) biß ihm die Thränen häuffig aus den Augen lauffen / (aus welchen / wann sie verhärten / werde der köstliche Stein Bezoar /) wann solches geschehen / so trincke er überflüßig / und fallen ihm alsdann die Hörner ab /wie nicht weniger die Haar aus. Mit diesem Gedichte erkläret man den 42. Psalm / darinnen geschrieben: Wie der Hirsch schreyet nach frischem Wasser / also schreyet meine Seele / GOtt / zu dir. Aber diß ist nur ein altes Weiber-Gedichte und eitel Fabel-Werck /welches sich in der Natur und Erfahrung also nicht verhält / wie der grosse Fratzenschreiber Albertus Magnus und Plinius selbst bezeugen. Warlich / allhier zu Lande und in der Nachbarschafft sind Hirsche genug zu finden / derer Natur ist Graß zu fressen / wie die Kühe und Ochsen pflegen / und kein Fleisch / es sey von Schlangen oder andern Thieren: Es seyn Fürstliche Personen / die todte und lebendige Schlangen alten Hirschen fürgeworffen haben / welche aber von denenselben eben so wenig / als ein Stück Holtz von einer Katze gefressen worden. Ich sehe auch nicht / wie ein Thier nur mit dem Athem aus einem tieffen Loch eine Schlange an sich ziehen könne. Und wie wolte ein solches Thier als die Schlange / im Kopff /Gehirn / oder des Hirsches Nase / Raum oder Statt haben? Zudem die Zähren / wann sie aus den Augen überflüßig lauffen / wie könten sie gehalten werden /daß sie nicht niederfallen ins Wasser? Daß der Stein Bezoar nicht von den Thränen der Hirsche herkomme, sondern in dem Magen der Indianischen Gemser[322] wachse / ist nunmehr so bekannt / daß es keines weitläufftigen Bekräfftigung bedarff. Der Vers aus dem 42. Ps. bedarff auch keiner Lügen: Genug ist es / daß ein Hirsch von Wölffen / Hunden und Jägern verfolget und warm gemacht / Appetit habe frisch Wasser zu trincken / angesehen er durstig / matt und müde.

Noch eines von den Schlangen. Man sagt / daß aus dem verstorbenen und verweseten Menschen-Rückgrad / oder auch wol gantzem Cörper Schlangen brüten: Daß diß wahr sey / hat man noch zur Zeit nirgends anders / als in Büchern gefunden. Bey uns und überall in der Welt sterben viel tausend Menschen /die werden begraben / und verwesen: Wer hat aber jemahls auf dem Kirch-Hofe in den Gräbern der Todten / unter den Galgen / oder sonsten / Schlangen gefunden?


Man muß nicht alles glauben / was man höret und lieset / sondern erforschen / ob es sich auch also verhalte.

Quelle:
Lauremberg, Peter: Neue und vermehrte Acerra philologica, Das ist: Sieben Hundert auserlesene, nützliche, lustige und denckwürdige Historien und Discursen, aus den berühmtesten griechischen und lateinischen Scribenten zusammengetragen [...], Frankfurt am Main, Leipzig, 1717, S. 321-323.
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