1. Von dem trefflichen Gedächtniß etlicher Leute.

[354] Seneca, ein berühmter Philosophus und Redner, schreibet von seiner eigenen Memoria, daß er zwey tausend Wörter eben in der Ordnung / wie sie vorgebracht und ausgesprochen / habe behalten und hersagen können / daß ihm auch zum öfftern von einem jeglichen seiner Mitschüler / derer über 2000. gewesen / ein Vers fürgesagt / welche Verse er alle nicht allein behalten / sondern auch nach empfangener Ordnung vom letzten biß zum ersten wieder herzusagen gewust.

M. Anton. Muretus vermeldet / er habe zu Padua einen Studenten gekannt / aus der Insul Corsica bürtig / welcher nicht nur 2000. wie Seneca, sondern 36000. Wörter / ebener massen / wie sie ihm vorgesagt / ordentlich nachgesprochen / ohne einiges Nachsinnen / von vorn / von hinten / von mitten / wie man begehrt.

Bemeldter Seneca zeuget vom Cynea gleicher Gestalt / daß / nachdem derselbige vom Könige Pyrrho an die Römer Gesandsweise abgefertiget / er des an dern Tages nach seiner Ankunfft nicht allein den gantzen Rath / sondern alle / in gantzer Menge umstehende Bürgerschafft /[354] habe mit ihren eigenen Nahmen gegrüsset / da er doch niemahlen zuvor weder die Stadt /noch dero Einwohner mit Augen gesehen.

Von einem andern wird daselbst erzehlet / als einmal ein Poet ein stattliches langes neues Carmen verfertiget / und solches öffentlich hergelesen / daß der ander aufgestanden / und gesagt: Dieses Carmen wäre sein / und nicht des Poeten: Habe es auch alsbald (da ers nur einmal gehöret) fertig aus dem Kopffe hingesagt / welches der Poet / dessen Carmen es war / nicht hat thun können.

Charmides war mit so herrlichem Gedächtniß begabet / daß / was man auch von ihm für ein Buch begehrte aus den Bibliothecken / er solches fertig vom Anfang biß zum Ende auswendig hersagte.

Diese alle hat übertroffen meines Erachtens der erste Römische Käyser / Julius Dictator, (wofern es nur nicht erdichtet ist / was man von ihm schreibet) von welchem Plinius meldet / daß er vier Dinge zugleich und auf einmal verrichten können / 1. Brieffe schreiben. 2. Bücher lesen. 3. Andern zuhören / und ihr Vorbringen vernehmen. 4. Seinen Dienern etwas in die Feder dictiret. Er habe 7. unterschiedliche Brieffe an seine Schreiber zu einer Zeit / aus einem Munde von wichtigen Sachen / ordentlich und verständlich zu schreiben in die Feder dictiret.


Warlich das Gedächtniß ist eine hohe Gabe GOttes welches dem Menschen gegeben wird / zum Theil von der Natur / zum Theil durch Kunst und Ubung. Ich halte es dafür / ein jeglicher wisse nur so viel und nichts mehr /als er in seinem Gedächtniß hat.

Quelle:
Lauremberg, Peter: Neue und vermehrte Acerra philologica, Das ist: Sieben Hundert auserlesene, nützliche, lustige und denckwürdige Historien und Discursen, aus den berühmtesten griechischen und lateinischen Scribenten zusammengetragen [...], Frankfurt am Main, Leipzig, 1717, S. 354-355.
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