10. Die Tieffe des Meers.

[371] Vom Abgrund des Meers ist nicht einerley Meynung. Priscianus gedencket / daß Käyser Julius habe hin und wieder verständige Meister ausgeschicket / die Tieffe des Meers zu erforschen: Welche von ihnen befunden sey / an etlichen Orten 15. Stadia / das ist etwas weniger als eine halbe teutsche Meile. Dieses bekräfftiget Plinius im andern Buche Oppianus, ein Griechischer Scribent / in der See-Kunst wol erfahren / kömmt etwas tieffer / und setzet 300. Orgias, das ist / drey und dreyßig halbe Stadia, oder ein wenig mehr als eine gantze teutsche Meile. Diese ist der alten Meynung gewesen von der Tieffe des Meers / welche warlich viel näher kommen seynd / als Scaliger, der gantz lächerlich schreibet / das Meer sey selten tieffer / als 80. Schritte / (175. Schritt geben ein Stadien.)

Heute zu Tage hat man etwas gewissers hievon erfahren /[371] durch Hülffe des Loths / das ist / eines langen Fadens / daran die Bleykugel fest gemacht / welche man hinunter auf den Grund der See fallen läst / wieder aufzeucht / und hernach die Länge des genetzten Fadens misset. Es befindet sich aber das Meer an allen Orten nicht gleich tieff / welches den Schiffern insonderheit zu wissen nöthig ist. Noch zur Zeit / so viel man mit dem Loth erforschen können / ist die gröste Tieffe befunden bey dritthalb oder ja 3. Teutsche Meilen.

Nichts destoweniger seynd auch Oerter in dem Meer / da kein Loth gründen kan / sondern ein unermeßlicher Abgrund gefunden wird / welches auch dem Solino und Plinio nicht unbewust gewesen. Solche Abgründe haben die Holländer gefunden im West-Meer nach der neuen Welt. Ein solcher ist auch im Mitternächtigen Nord-Meer / über Norwegen / daselbst ein wunderbahrer / unerforschlicher Schlund dessen gleichen nirgends in der Welt zu finden. Es erstrecket sich auf 13. Meilen in der Runde: In dessen Mittel ist ein Felß / von den Bewohnern Moußke geheissen. Dieser Schlund verschlinget und zeucht an sich alle sechs Stunden alles was vorhanden / Wasser / Wallfische / Lastschiffe / etc. mit solcher Gewaltsamkeit und Umdrehen / und Brausen / daß es unaussprechlich: Die andern sechs Stunden speyet er alles wieder aus / was er zuvor verschlungen hat / mit solcher Ungestümmigkeit / also daß keine Last / kein Schiff / kein Wallfisch so schwer / welches nicht wieder heraus muß / oder welches hätte können zu Grund gelangen. Diese wiederholete Fluth nennet Mela einen Athem der Welt: Solinus, die Naßlöcher der See: Andere den Nabel des Meers. Ich dörffte schier sagen[372] daß diß sey die Scylla und Charybdis der Alten: Der Acheruns des Suidæ und Orphei: Des Platonis und Arist. Tartarus: Der unergründliche Sod oder Sumpff des Democriti: Und möchte jemand muthmassen /daß diß wäre der Ursprung und Ursache der Ebbe und Fluth in der See.


Der Vernunfft seynd noch nicht alle Heimlichkeiten der Natur bekannt.

Quelle:
Lauremberg, Peter: Neue und vermehrte Acerra philologica, Das ist: Sieben Hundert auserlesene, nützliche, lustige und denckwürdige Historien und Discursen, aus den berühmtesten griechischen und lateinischen Scribenten zusammengetragen [...], Frankfurt am Main, Leipzig, 1717, S. 371-373.
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