93. Die weisen Sibyllen.

[501] Sibyllen seynd vorzeiten weise gelehrte Weibespersonen gewesen / welche von einem besondern Geist gerühret und getrieben / zukünfftige Dinge den Menschen verkündigen / und viel Griechische Verse hinterlassen / auch von Christi Geburt / Leiden / Sterben und Auferstehung so eigentlich geweissaget / etliche tausend Jahr zuvor / als wann sie dabey gestanden /und alles selbst angesehen. Wie viel solcher Sibyllen an der Zahl gewesen / ist ungewiß. Plinius im 34. Buch / 5. Cap. nennet nur 3. wie dann auch Ausonius und Solinus mit diesen Nahmem / Delphica, Erythrea Cumæa. Viel andere Scribenten erzehlen 10. Unsere Mahler thun noch zwey darzu / daß ihrer 12. werden / wie die Apostel. Die drey Fürnehmsten belangend / so hat die Sibylla Delphica in der Stadt Delphis ihr Wesen gehabt / und ihre Weissagung vom Abgott / oder Oraculo daselbst / gelernet und empfangen. Man sagt / sie habe gelebet lang fur dem Trojanischen Kriege / und[501] denselben verkündiget. Auch habe Homerus viel von ihren Versen mit in seine Bücher gesetzet. Die andere ist Sibylla Erythrea, aus der Stadt Erythræ bürtig / von welcher man folgende Geschicht erzehlet / nemlich / daß sie vom Gott Apollo inbrünstig sey geliebet worden / der ihr auch versprochen zu geben / was sie nur wünschen würde. Diese Sibylla ergreifft eine Hand voll Sands / und begehret so viel Jahr zu leben / als sie Sandkörnlein gefasset. Solches wird ihr gegeben und vergönnet / doch mit dem Beding / daß sie ihr Vaterland und die Erde / da sie gebohren / nimmer / so lang sie lebete / anschauen solte. Als nun Sibylla Erythrea viel lange Jahre hingebracht / und nunmehr schwach und unvermöglich /in einer Höle immer sitzen blieb / haben ihre Landsleute / die von Erythris einen Brieff an sie geschrieben / und denselben / nach ihrer Stadt Gebrauch / mit Erde versiegelt und vermacht. So bald Sibylla die Erde aufm Brieff ansichtig worden / ist sie gestorben. Die dritte Sibylla Cumæa, aus der Stadt Cumæ, ist sehr berühmt beym Virgilio im 6. Buch vom Ænea, daselbst Wunderdinge von ihr erzehlet werden. Diese ist eben die / welche dem Römischen König Tarquinio 9. Bücher zu kauffen brachte / davon im ersten Hundert vorn an zu lesen.


Was der Teuffel selber nicht thun wil / das verrichtet er durch seine Werckzeuge: Solche seyn die Sibyllen auch gewesen.

Quelle:
Lauremberg, Peter: Neue und vermehrte Acerra philologica, Das ist: Sieben Hundert auserlesene, nützliche, lustige und denckwürdige Historien und Discursen, aus den berühmtesten griechischen und lateinischen Scribenten zusammengetragen [...], Frankfurt am Main, Leipzig, 1717, S. 501-502.
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