90. Eine Fabel aus dem [157] Ovidio von der Nachtigall.

[157] Pandion König zu Athen / hatte zwo Töchter / die eine Prognem, die andere Philomelam. Es war aber auch ein König in Thracien / mit Nahmen Thereus, der freyete die älteste Prognem, und führete sie mit heim in sein Königreich. Nicht lange hernach nahm er sich für / seinen Schwäher-Vater zu Athen zu besuchen. Reisete derhalben dahin / seine Frau Prognem zu Hause lassend. Als er nun allda ankommen / ward er mit ungebührlicher Liebe gegen seiner Frauen Schwester / die Philomelam, entzündet. Und damit er ihrer möchte habhafft werden / gab er für / seine Frau Progne die begehrte ihre Schwester zu sehen. Überredet auch also den Vater / daß er die Jungfrau Philomelam mit fahren ließ. Sie waren aber kaum in Thraciam kommen / da führete der Thereus die Philomelam mit sich in einen Wald / zwang dieselbe mit Gewalt zu seinem Willen: und / auf daß sie diese böse That niemand klagen könte / schnitte er ihr die Zunge aus dem Halß / und verschloß sie an einen Ort / da sonst keine Menschen hinzukommen gewohnet waren. Philomela, weil sie nicht reden konte / erdachte hierauff diesen Fund: Sie webete von Seiden / welche sie mit sich genommen / ein Tuch / und machte Buchstaben darein. Beschrieb also den Handel / wie Thereus mit ihr umgegangen / und schickte ihre Schwester dieses Werck zu. Progne säumete sich nicht lange / sondern stellete sich / als wolte sie auf das Fest Bacchi verreisen / macht sich aber zu ihrer Schwester in den Wald / nahm sie zu sich / und führete sie in ihr Hauß. Nachdem sie sich nun beyderseits / wie sie sich an ihrem ungetreuen Mann Thereo rächen möchten /lange bedacht / da wurden sie der Sachen eins; Nemlich / Progne nahm ihren eigenen[158] Sohn Itym, den sie von Thereo hatte / schlachtete denselben / kochte seinen Leib / ausserhalb den Kopff: Setzte diese Speise dem unwissenden Könige für. Welcher / nachdem er wol davon gegessen / fragte / wo sein Sohn Itys wäre? Da kam Progne, und ihre Schwester Philomela, und warffen dem Thereo das überbliebene Haupt ins Angesicht / und sagten / wie er ihn selber gefressen hätte. Thereus erschreckend / ward unsinnig: Zog sein Schwerdt aus / und wolte beyde Schwestern ermorden. Da gaben die Götter / daß Thereus verwandelt ward in einen Wiedehopffen; Progne aber ward eine Schwalbe / welche noch heut zu Tage den Blut-Flecken an ihrer Brust träget / darum daß sie ihres eigenen Sohnes Blut vergossen hatte. Philomela aber ward verwandelt in eine Nachtigal: Klaget noch Tag und Nacht ohne Unterlaß ihr Unglück / und ist nirgend lieber als in finstern Wäldern.


Der Ubels thut / entlaufft seiner Straffe nicht.

Die Sünder verwandeln sich selbsten mit ihren Sünden in unvernünfftige Thiere / und beflecken mit einem Blutmahle ihre Seelen / daß sie hernach ewig in der finstern Höllen müssen klagen.

Quelle:
Lauremberg, Peter: Neue und vermehrte Acerra philologica, Das ist: Sieben Hundert auserlesene, nützliche, lustige und denckwürdige Historien und Discursen, aus den berühmtesten griechischen und lateinischen Scribenten zusammengetragen [...], Frankfurt am Main, Leipzig, 1717, S. 157-159.
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