95. Vom Tempel der Barmhertzigkeit.

[755] Man lieset bey sicheren Scribenten / daß vor Jahren in der Heydenschafft zu Athen / der fürnehmsten Stadt in Griechenland / ein sonderbarer schöner Tempel sey erbauet worden / zu Ehren der Göttin Misericordiæ, darinnen ward Misericordia oder die Barmhertzigkeit selbsten abgebildet / und zwar in Gestalt einer ehrlichen Matron / und Weibs-Person. In der rechten Hand hielt sie ein Hertz / das in der Mitte zerspalten / von fliessenden Blut trieffend / und aus den Augen flossen ihr ohn Unterlaß heisse Thränen.

Das mögen wir billicher auf unsern GOTT appliciren. Denn 1. kan er verglichen werden einem Weibe / wegen seiner Wehmüthigkeit. 2. In der Hand ist das Hertz / denn seine Barmhertzigkeit ist hertzlich. 3. Das[755] Hertz ist gespalten / denn sein Hertz bricht ihm gegen uns. 4. Es triefft vom Blut / denn er hat uns geliebet biß aufs Blut. 5. Aus den Augen fliessen Thränen / es jammert ihn hertzlich und schmertzlich unser Elend.


1. Schmecket und sehet wie freundlich der HErr ist.

2. Barmhertzig und gnädig ist der HErr.

Quelle:
Lauremberg, Peter: Neue und vermehrte Acerra philologica, Das ist: Sieben Hundert auserlesene, nützliche, lustige und denckwürdige Historien und Discursen, aus den berühmtesten griechischen und lateinischen Scribenten zusammengetragen [...], Frankfurt am Main, Leipzig, 1717, S. 755-756.
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