95. [642] Euclides und Socrates.

Die Athenienser hatten auff eine Zeit ein Gebot lassen ausgehen / daß kein Megarenser Bürger bey Leib- und Lebens Straf in ihre Stadt kommen solte. Nun aber wohnete zu Megara Euclides, welcher ein Schüler und Zuhörer lange Zeit gewesen war des berühmten Weltweisen Socratis, wohnende in der Stadt Athen: Derwegen als ihm durch diß öffentliche Edict der Athenienser / der Weg und die Gelegenheit benommen war / nach Athen zu dem Socrate[642] öffendlich zu gehen / und seinem Gebrauch nach denselben zu hören; damit er dennoch gleichwol der herrlichen Unterweisung dieses klugen Mannes nicht gäntzlich möchte beraubet seyn / hat er Weibs-Kleider angezogen / das Haupt mit einer Hauben / nach Art der Frauen / verhüllet / und allezeit gegen Abend in der Demmerung sich nach Athen begeben / um den Socratem nur des Nachts zu hören / ist hernach des Morgens früh wieder nach Megara, und also fünff guter Teutscher Meilwegs nach Hauß gegangen / und hat sich weder den fernen beschwerlichen Weg / noch die grosse Gefahr von seinem Lehrmeister abhalten lassen. So kan die Liebe und Eiffer zur Weißheit einen auffmuntern / daß man auch alles leicht und zu thun möglich achtet / und sich keine Ungelegenheit verdriessen läst.


Das heist wol: Lust und Liebe zum Dinge / macht alle Arbeit geringe: Wie das alte Sprichwort heisset.

Quelle:
Lauremberg, Peter: Neue und vermehrte Acerra philologica, Das ist: Sieben Hundert auserlesene, nützliche, lustige und denckwürdige Historien und Discursen, aus den berühmtesten griechischen und lateinischen Scribenten zusammengetragen [...], Frankfurt am Main, Leipzig, 1717, S. 642-643.
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