An die Frau D ....

[61] den 19. December 1772.


Meine liebe Frau D ....!


Sie haben vollkommen recht, daß es seltener Seelen giebt, welche in der Geduld, in der stillen leidsamen Tugend, im negativen Gehorsame treu sind, als solche, die es in der ausübenden positiven Tugend sind. Wiewohl auch die ausübende Tugend, wofern sie nicht eigenwillig, sondern eine kindliche Dienerinn der Fürsehung ist, unaufhörlichen Anlaß zum leidenden Gehorsame hat.

Es giebt, wie Sie sagen, wenig Herzen, die einer wahren Gemeinschaft der Gesinnungen und der äußerlichen Güter fähig sind. Indessen wird der, der selbst einer solchen Gemeinschaft fähig ist, leicht eine ähnliche Seele finden. Denn Gott wirkt keinen Wunsch, den er nicht gewährt.1

Darf ich ein Exemplar meines neuen Jahrbüchleins beylegen? Leben Sie recht wohl, und vergessen Sie meiner nicht über das bevorstehende heilige Weyhnachtsfest, auf welches[61] ich mir I. Joh. 1, 1-5. zum Text erwählet habe. O Gott, welche Decke liegt auf unsern Augen! wie wenig wissen wir, was wir an Gott und Christo haben!

Meine liebe Frau fängt an, sich von ihrer schweren Krankheit ein wenig zu erholen.


Ich bin Ihr ganz ergebener

Freund und Bruder

Lavater.

Fußnoten

1 Aber hüte dich, christlicher Leser, jeden etwas lebhaftern stärkern Wunsch, der in dir entsteht, für eine besondere Wirkung Gottes zu halten. Anmerk. des Herausg.


Quelle:
Lavater, Johann Kaspar: Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuche eines Beobachters seiner Selbst, Leipzig 1773, S. 62.
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