Dienstag der 12. Jenner 1773.

[96] Ich erwachte erst um 1/27 Uhr. Meiner Mutter Elend war mein erster Gedanke! Wieder eine Jammernacht überstanden! Ja wohl eine Jammernacht! Meine Schwester kam, uns Nachricht davon zu geben. Ich konnte es kaum mehr ausstehen, ihr zuzuhören; ...

– – – – Nachdem ich meine Mutter besucht, und ihr Elend mit der innigsten Rührung angesehen hatte, las ich die erste Epistel an den Timotheum im griechischen Testamente, die ersten Capitel allein, die andern mit meiner Frau, die im deutschen Testamente nachsah. Nein! ich kann es nicht aussprechen, wie ich allemal, so oft ich das N.T.,[96] insonderheit diese Briefe Pauli an den Timotheus und Tirus, lese, die Göttlichkeit des Evangeliums empfinde; die Unmöglichkeit empfinde, daß ein Betrüger, oder Schwärmer also schreiben könne; und allemal gerathe ich in Unwillen, in Entsetzen vor der menschlichen Natur, die von Betrügerey, oder Schwärmerey reden kann, nur daran denken kann, wenn sie Menschen also mit Menschen reden höret. Und ich weiß es nicht, ob es unedel und Sauerteig der Intoleranz ist, wenn ich in diesen Augenblicken der innigsten moralischen Freude über die so einfältige, so verständliche Stimme der himmlischen Wahrheit diejenigen Menschen mit Verachtung ansehen muß, die bey solchen Ergießungen der heitersten Vernunft, und der innigsten Empfindsamkeit kalt bleiben, und – spotten oder cavalierisch darüber lächeln können.

– – – – Nach dem Essen einige Sachen versandt, einen Bogen revidirt, und in Brechters Anmerkungen über das Basedowsche Elementarwerk mit Nutzen und Vergnügen gelesen: wiewohl ich gewiß das eine und andere aus der augenscheinlichsten Erfahrung widerlegen könnte. Es läßt vortrefflich menschenliebend auf dem Papier, die Ruthe zu verbannen. Kein größerer Feind der Ruthe kann seyn, als ich. Ich habe meinen Sohn noch niemals damit gezüchtigt, nur aus Furcht, allzuheftig zu werden, überließ[97] ich es allemal meiner viel sanftern Frau. Mein Kind hat das beste Herz von der Welt, und dennoch möchte ich ohne Ruthe für die vier ersten Jahre nicht Vater seyn, so wie die heutigen Aerzte ohne China nicht Aerzte seyn möchten. Es läßt vortrefflich auf dem Papiere, »daß man sie den Folgen ihrer Handlungen bloßstelle« – Guter Gott! Wer mit Kindern umgeht, der wird wissen, daß dies unter tausendmalen einmal und mehr nicht, möglich ist. Gerade das, was so natürlich bey dieser Regel scheint, machet die Erziehung künstlich. Ich bin hierinn von Salomons Glauben: Wer die Ruthe sparet, der hasset seinen Sohn. Ich muß z.E. Scheere und Federmesser auf dem Tische liegen lassen. Es ist unmöglich, sie immer zu verwahren; und wenn es möglich wäre, so thät ichs nicht. Warum nicht? Die äussern Umstände sollen sich nicht nach meinen Kindern, sondern meine Kinder nach den Umständen bequemen. Sie sollen nicht lernen – kein Federmesser nehmen, wo keines ist, sondern sie sollen keines nehmen, wo zehen sind. Den natürlichen Folgen ihres Ungehorsames würde ich sie herzlich gerne bloß stellen, wenn ich gewiß wäre, daß sie sich nur wenig verletzten. Aber wenn sie sich ein Auge oder die Hand zu sehr verletzten – O ihr zu weisen Freunde der Kinder, wo stünden wir dann? – Willkührliche Strafen kann ich so gelinde machen, als ich will, natürliche[98] nicht – Was thue ich also? Ich verbiete ihm, das Messer anzurühren; und wenn es darnach langt, so ziehe ich es weg, und gebe ihm einen empfindlichen Schlag. So empfindlich dieser Schlag auf die Hand seyn möchte, so ist er dennoch eine gelindere Strafe, als die kleinste Verletzung. Ueberhaupt, dünkt mich, wenn man die Sachen ansähe, wie sie sind, und nicht nach abstrakten Begriffen ansehen wollte, so würde man tausendmal Gelegenheit haben, die Beobachtung zu machen, daß der Urheber der Natur willkührlich straft, (wenigstens also zu strafen scheint) und daß, wenn alles durch natürliche Strafen zu corrigiren wäre, wenigstens Er, der allweise, keine willkührliche brauchte. Wie viel tausendmal kann durch eine hart scheinende willkührliche Strafe ein entferntes zehenmal härteres natürliches Uebel abgewendet werden.

In Ansehung der Nachlassung gedroheter Strafen denke ich auch etwas anders, als Herr Brechter; und zwar abermal, durch die Erfahrung belehrt. Gottes Psychologie, die er in der Erziehung des Menschengeschlechts befolgt, ist ein Augenmerk für mich bey der Erziehung meiner Kinder. Mein Sohn weiß, daß er kein scharfes Messer anrühren soll. Letzthin fand ich mein Scheermesser voll Scharten. Ich wollte auffahren; besänftigte mich aber sogleich – »Hast du das[99] Scheermesser so zugerichtet« – fragte ich in einem ernsten Tone – »Ja! Papa!« – »Nun, weil du die Wahrheit gesagt hast, so will ich dich nicht züchtigen – Siehe! wie du so unglücklich hättest werden können, wenn du dir einen halben oder ganzen Finger weggeschnitten hättest.« – Hätte ich ihn dabey angetroffen, so hätte ich ihn, ohne Gnade gezüchtigt – oder züchtigen lassen. Aber nun, weil mir alles daran liegt, daß mein Sohn nicht lüge, oder mit andern Worten, weil Aufrichtigkeit und Wahrheitsliebe die Tugend aller Tugenden ist, habe ich die Strafe, die ich solchen Uebertretungen gedrohet, aufgehoben. Kinder werden gewiß nicht anders als aus Furcht für der Strafe lügen. Lieber die Strafe geschenkt, als sie der allzustarken Versuchung preis gegeben. Ich besorge auch gar nicht, daß die Kinder deswegen schlimm werden. Man trifft sie immer noch genug bey Uebertretungen an, wo man den traurigen Anlaß hat, die Drohungen zu vollziehen, und sie also wirksam zu machen. Strafe, ohne vorhergegangene Drohung, dünkt mich Grausamkeit. Und gar nicht strafen, willkührlich strafen, züchtigen – dieß ist entweder unmöglich oder gefährlich. Ich möchte mich hierüber gern einmal, vielleicht etwa in den vermischten Schriften, weitläuftiger erklären; und mich schlechterdings auf die Erfahrung aller Väter, die Väter[100] sind, berufen. Ueber ein Versehen meines Bedienten war ich unwillig; doch nur ein paar Augenblicke.

Herr Buchdrucker Z. kam ... Oe1 On9+erge+ O ±+.

Ich erhielt ein Billiet, und ließ im Lesen merken, daß ich unzufrieden damit war, stund auf, und wollte antworten. – »Ich wollte mich mäßigen – mein Schatz – lieber itzt nicht gleich geantwortet,« sagte meine liebste Frau. Ich wurde sogleich kühl, und ließ in der Antwort nichts von meinem Unwillen merken.

– – – Ich erhielt einen Brief von dem redlichen Hebebrand, worinn er mir Krämers Tod und Armuth meldet. – Nun ist mir wieder Eine Last, eine halbe wenigstens abgenommen. Oft macht mir die Betäubung, in die mich das Elend geliebter Personen setzt, bange, ob es nicht Härte, Unempfindlichkeit, Kaltsinn sey; – aber, ich kann mir doch, ohne mir zu schmeicheln, sagen, daß mir schon ein leichtes Elend, und eine kleine Unbehaglichkeit eines Menschen Mühe macht; – und daß ich allemal, wenn ein solches Elend, das mich mehr betäubte, als rührte, ein Ende nimmt, eine schwere Last von meinem Herzen weggehoben fühle, und Gott oft mit Thränen für eine solche Erlösung danke, wenn ich gleich für den lebendigen Elenden, insonderheit wenn ich ihn[101] sähe, oder wenn er mich sonst nahe angienge, keine Thräne vergießen könnte. –

Ich bin nun ruhig – (aber gerade itzt liegt zu viel Elend auf mir, als daß ich es so empfinden könnte, wie wenn ich weniger nähere Leiden hätte,) daß der redliche Krämer sein Ziel erreicht hat. In Ansehung seiner Hinterlaßnen, dieß hoffe ich zu Gott, wird auch Fürsorge gethan werden. Ich kann wenig, oder gar nichts thun. Wenn auch nur noch einige Gemeinschaft unter den Christen Statt hätte, so wäre es doch so leicht, seine Bibliothek ohne Schaden für seine Hinterlaßnen zu verkaufen!1 Nun, ich will warten, was Gott mir in den Sinn geben wird.

Ich ruhte ein wenig; gieng die Stube auf und nieder. Meine Backe war erhitzt; meine Frau betrachtete sie, und fand sie gefährlich. P und mein Bruder der Doctor kamen. Man untersuchte, und besorgte eine Zahnfistel. So empfindlich ich auch gegen Schmerzen bin, und so wenig Stärke ich mir auch zur Erduldung der geringsten Operation zutraue, so daß ich mich unmöglich entschließen könnte, einen Zahn, zumal einen so tiefen, überwachsenen, bereits gebrochnen ausziehen zu lassen – so hatte ich dennoch vor diesem[102] wahrscheinlichen Uebel keine Furcht. – Das Leiden meiner Mutter giebt mir vermuthlich diese Stärke. Ueberdieß so sehr ich auch im Anfange und bey der ersten Regung einer Krankheit zur Ungeduld geneigt bin, so bin ich doch allemal von dem Augenblicke an, da ich mich legen oder innen bleiben mußte, ruhig geworden; und alle meine Krankentage sind die ruhigsten und glücklichsten Tage meines Lebens, und wahre Rasttage für mich gewesen. Ich habe mich selbst, meine Freunde nie mehr und eigentlicher genießen können, als in denselben; und immer bin ich doch wenigstens noch etwas zu verrichten vermögend gewesen. – Ich will also erwarten, was Gott über mich verhängen wird. Ich will nicht für den folgenden Tag sorgen. Ueberhaupt hätte ich, hätten meine Freunde schon oft die Reflexion machen sollen, daß es mir, wenn ich wirklich mehr Christ wäre, als ich bin, leicht fallen müßte, das zu seyn, was ich bin – weil ich mit Freuden und Vergnügungen aller Art umgeben bin; und alles, was ich zu leiden habe, weder mit meinen häufigen Freuden und Vergnügungen in Vergleichung kömmt, noch auch meiner Leidensfähigkeit angemessen ist. – Ich will hierinn nichts bitten, nichts verbitten – Vor zweyerley leiblichen Leiden allein habe ich eine entsetzliche unüberwindliche Furcht, – vor chirurgischen Operationen, und vor Hals- und Schlundkrankheiten. Was ich während[103] der Zeit von Zimmermanns Operation in Berlin ausgestanden – und wie mir das Elend der kranken Frau S ... zu Herzen geht – das könnte ich nicht sagen. Den Augenblick, da ich dies schreibe, fällt mir ein, daß mich heute eine Freundinn gebeten, Erleichterung für die arme geduldige Patientinn von Gott zu erflehen – Warum ist es mir leichter, dies zu thun; wiewol leider auch nicht mit der schönen Wärme eines ganz brüderlichen Herzens – als für meine arme Mutter – und sie rief mir doch und meinem Bruder diesen Abend, da wir Abschied von ihr nahmen, zu – Ach, betet doch auch für mich – Nun, in Gottes Namen; ich will hingehen; alles liegen lassen – und Gottes Erbarmung für diese Leidenden suchen – –

Sie rsc hic hOe r ±D rnD che ine hsl 1es +On +eO Drh er T ite ine 1Oe rge 1li che n?i n+1 sch en1 esc hse fst igO ng!

Fußnoten

1 Dieß ist nun wirklich durch Veranstaltung einiger sehr verehrungswürdigen Personen geschehen.


Quelle:
Lavater, Johann Kaspar: Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuche eines Beobachters seiner Selbst, Leipzig 1773, S. 104.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Liebelei. Schauspiel in drei Akten

Liebelei. Schauspiel in drei Akten

Die beiden betuchten Wiener Studenten Theodor und Fritz hegen klare Absichten, als sie mit Mizi und Christine einen Abend bei Kerzenlicht und Klaviermusik inszenieren. »Der Augenblich ist die einzige Ewigkeit, die wir verstehen können, die einzige, die uns gehört.« Das 1895 uraufgeführte Schauspiel ist Schnitzlers erster und größter Bühnenerfolg.

50 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon