Montag der 11. Jenner 1773.

[88] Herr Bürkli sandte mir ein Verzeichniß aller meiner Schriften zum Durchsehen. Ich mußte es abschreiben, um es in Ordnung zu bringen, und vollständig zu machen. Ich erschrack wirklich vor der Menge meiner Schriften, und erröthete einige male weil ich mich an die Eilfertigkeit erinnerte, womit ich, besonders anfänglich, einige verfertigt und herausgegeben hatte. Schon manchmal ist mir der Gedanke[88] durch den Kopf gegangen, daß es gut wäre, wenn ich einmal eine scharfe Critik darüber machte, und sie entweder selbst herausgäbe, oder nach meinem Tode herauszugeben verordnete. Auch beunruhigte oder verdroß es mich ein wenig, bey dieser Gelegenheit zu sehen, wie durch die zwar unschuldige Schuld meines Verlegers meine gemeinnützigsten Schriften, besonders die für Kinder in Deutschland ganz unbekannt seyn. Ich schäme mich, daß man daselbst bisher nichts von mir hat, als Poesien, oder Schriften für Gelehrte – und das um so viel mehr, weil ich gewiß weiß, daß ich manchem bloß als ein geräuschmachender Schriftsteller, der nichts als Schriftsteller ist, und nur Gelehrten gefallen will, vorkommen muß, und vorkomme.

Ein Bettler mit ganz zerrissenen Kleidern kam – Aber, ach so gern ich wollte, konnte ich ihn doch nur schwach trösten. –

Bald darauf kam Schn. F. über – S.S. zu klagen, und mit Grunde. Ich entsetzte mich, und erschrak über das menschliche Herz; die Sache betraf einen Züchtling in dem Zuchthause – –

Da sich mein Bruder, der Doctor, von einigen Erleichterungsmitteln für die liebe kranke Mutter mit mir unterredete, wünschte ich ihm herzlich zu seinem Namenstage Glück. Wirklich verdient ers – Er kann gewiß noch vielen Menschen zum Segen werden. Er[89] sagte: daß die Tante es gerne sähe, wenn ich sie heute besuchte.

Ich gieng noch ein paar Augenblicke zur Mutter; dann zur Tante, und fand sie still und gelassen. Ich war allein bey ihr, und hatte eine gesegnete halbe Stunde. Selten floß es mir so bey einem Kranken.

Als ich nach Hause kam, fand ich meinen Abraham auf dem Tische, mit einem Billiet von der Frau B: »Freylich würde auch nur Ein Funke von Abrahams Glauben Stärke und Trost in meine Seele bringen; aber worauf soll ich meine Hoffnung gründen? – Mein Opfer ist vollendet; ich sehe nichts als Asche, statt meines Eingebohrnen. Gott hat mehr, als mein Herz, mehr als mein Leben zum Opfer genommen. – Ich kann nur im Staube anbeten, und weinen.«

L.Z. war bey meiner Frau, und sie hatten gute Gespräche. Ich will der Frau B. antworten, dachte ich – vollendete aber vorher noch das Bücherverzeichniß, und ein Billiet; – – – gieng zum Mittagsessen. Meine Mutter saß am Tische, schlief aber fast immer. Wir sprachen sehr wenig. Ich beobachtete sie genau, und es war mir einige male bey gewissen Reflexionen, die in meiner Seele helle wurden, unaussprechlich wohl. Gottes Erkenntniß ist das ewige Leben – wie unbegreiflich wahr ist das! Aber, es läßt sich nicht davon reden und schreiben. Empfindungen haben[90] keine Bilder in der Natur; und was sind Worte anders als Bilder. Ich spazierte noch eine halbe Stunde bey meiner schlummernden Mutter auf und nieder. Nachher schrieb ich an meinem Tagebuche; gieng mit meiner Frau, die wieder ziemlich bey Kräften war, in der Stube auf und ab, und redete mit ihr von einigen öconomischen Sachen. Sie las im Abraham: ich schlug auf eine kleine Veranlassung den Musen Almanach von 1771 nach; legte ihn aber bald wieder weg. Dies veranlaßte mich den Göttingischen, der in den Frankfurter Anzeigen, die gewiß kein schlechtes Buch loben, so gelobt war, holen zu lassen.

Frau St. kam ihres Mannes wegen. Ich hatte die Schrift, die sie mir übergeben hatte, verlegt, und erschrack also zum Theil über sie. Unordnung – welche Quelle von Unruhen; von Lieblosigkeit; von unfreundlicher Begegnung ...

Einer unsrer Pathen, C.D. brachte uns eine deutsche und lateinische Schrift zur Probe seines Fleisses. Wir bewunderten des Knaben offne Physiognomie, und gaben ihm Gebeter und Lieder für Kinder.

Hr. Schwager T. und seine Frau besuchten uns, und blieben etwa eine halbe Stunde bey mir und meiner Frau. Eine Stadtgeschichte. Ueber eine Conversation. Von der Mutter. Von der Tante. Von dem jungen[91] Schw. der nach Marseille gehen sollte. Mit einiger Hitze sagte ich, daß ich dieß für sehr übel gethan hielte. Es sey beynahe unmöglich, daß ein junger Mensch ohne öffentlichen und besondern Unterricht in der Religion, und ohne Freundschaft mit zuverlässig guten Menschen, entblößt von aller moralischen Aufsicht, auch nur erträglich gut bleibe, sollte er auch noch so gute Grundsätze mit sich bringen. Sie bedauerten es, daß es nun zu späte sey.

Ich beantwortete das von der Frau B. erhaltene Billiet: »Es ist wahr, Sie sehen nur Asche; aber der Glaube sieht Unsterblichkeit. – Sie mußten doch ihr Eingebohrnes nicht schlachten ... Wenn das Opfer im Glauben vollendet wäre, so würden Sie – Ihr Kind möchte immer im Grabe bleiben – dennoch die Herrlichkeit Gottes sehen. Aber Sie wollen erndten, ehe Sie gesäet; Gott sehen, ehe Sie ihm geglaubt haben – Auf das, was Sie von ihm in der Natur, in Ihrem Herzen, in der Schrift sehen, hätten Sie Ursache genug, ihm da zu glauben, wo Sie nicht sehen.«

– – – Da der Hr. Schwager Qu – S. zu uns kam, und mein Abraham eben auf dem Tische lag, las ich ihm die zwo ersten Handlungen davon vor. Ich bin sonst gar nicht gewohnt, meine Arbeiten jemanden vorzulesen. Ich finde es aber doch für den Verfasser sehr vortheilhaft. Er fühlet die Stärke[92] und Schwäche seiner Arbeit alsdann selbst viel feiner, als es ihm kein Kunstdichter sagen kann.

P. kam – Bey Anlaß – H. Ov. sprachen wir von der Schwärmerey. Sie verwirft alle Mittelursachen; sie hat einen Abscheu vor der Natur – da doch die ganze Natur beweiset, daß Gott durch die Natur, wie unser Geist durch den Körper handle. – Wo verwirft die Schrift die Mittelursachen? »Wenn die Schrift einen wichtigen Satz lehrt, sagte P. sehr richtig, so fehlt es ihr nicht an Deutlichkeit, Stärke, Lebhaftigkeit, Bildern, Gleichnissen, ihn so zu sagen, daß jeder redliche aufmerksame Leser ihn finden und verstehen muß; – und wenn die Verwerfung aller Mittelursachen, die doch, nach dem Sinne der Schwärmerey, die höchste Weisheit seyn soll, das wirklich wäre, wie deutlich hätte sich die Schrift darüber erklären müssen? Sie thut aber allenthalben gerade das Gegentheil.« – Wir konnten es nicht begreifen, daß diejenigen Personen, die uns zu diesem Gespräche Anlaß gaben, noch so viel auf die Schrift hielten, so viel, daß sie neben der Schrift nicht das geringste lesen würden. Wir besorgten, daß es dazu kommen würde, daß sie nach und nach auch diese verwerfen, wenigstens als etwas für sie ganz entbehrliches ansehen werden.

Die lebendige Erkenntniß Gottes, sagte ich, ist von solcher Wirksamkeie in Absicht auf[93] Liebe, auf Menschlichkeit, daß die, die dazu gekommen sind, ganz Demuth, ganz Geduld, Nachsicht, Liebe, Dargebung ihrer selbst sind – und das alles auf eine gerade, simple, unkünstliche, ganz natürliche, harmonische, allenthalben sich passende Weise – daß sie auch da, wo sie nicht nachgeahmt werden, wo sie unerträglich sind – dennoch nicht lächerlich werden.

Man rief mich zum Nachtessen. Die Mutter schlief im Bette – erwachte – und hatte grimmige Schmerzen. Ich durfte mich nicht in ihre Schmerzen hineinsetzen; – ich war betäubt. Allzunahes Elend betäubt. Wenn ich ihre Umstände erzählen hörte, und sie mich nichts angienge, so würde ich vielleicht herzlicher über sie weinen und für sie bitten können. Itzt ist mein Herz so gepreßt, daß ich keines von beyden kann, wie sie es verdienet.

Wir beteten unser Abendgebet, und lasen das erste Capitel im 2. Buch Samuels. Wie groß, wie königlich ist das Trauerlied Davids über seinen Verfolger Saul!

Da ich meiner Mutter eine gute Nacht wünschte, sagte sie noch: Denk Morgen auch wieder an arme Kranke! Vergiß es nicht! Schieb es nicht auf ...

Ich schrieb noch an meinem Tagebuche; corrigirte den zweyten Bogen der Predigten über den Jonas; und suchte einen Brief, den[94] ich diesen Abend erhalten, und zu lesen vergessen hatte; ich fand ihn nicht; aber einen andern von einem würtembergischen Weingärtner M.H. an Herr S. den ich noch las; die Stelle frappirte mich: »wenn unser Leben von lauter Tugenden glänzte und starrte, und jedermann lobt und spricht gut von einem; und unsere eigene Einbildung läßt uns denken: es kann nicht anders seyn; ich muß nothwendiger weise selig seyn; es billigt aber der Heiland eine solche Seele nicht, und Er lobt sie nicht; so steht eine solche Seele auf einem gefährlichen Posten. Der Heiland weiß immer eine Ursache, warum er eine Seele nicht loben kann, ob sie schon alle Menschen loben – Und Er, der Herr, weiß Ursachen, warum er eine Seele loben und rühmen kann, wenn auch alle Menschen sie schelten würden.« Doch muß ich gestehen, daß mir der übrige Ton dieses Briefes nicht lichtvoll und reinevangelisch genug war.1[95]

Es giebt so gewisse angenommene Redensarten und Ausdrücke aus Bibel und Gebetbüchern und Postillen zusammen geschmolzen, die schrecklich vielem Mißverstand ausgesetzt, und dem simplen gesunden, evangelischen und apostolischen Tone sehr zuwider sind, ob sie gleich bisweilen, wenn man sie mit Billigkeit und Nachsicht beurtheilet, auch nicht so unrichtig gemeynt sind, als sie einer strengen logischen Stirne zu seyn scheinen.

Fußnoten

1 Eben dieses Urtheil ließe sich auch auf die oben angeführte Stelle dieses Briefes anwenden. Der Verfasser will vermuthlich so viel damit sagen! Gott urtheilet nicht allemal so von uns und von unserm Verhalten, wie die Menschen davon urtheilen, und an dem Wohlgefallen Gottes ist uns doch weit mehr gelegen, als an dem Beyfalle der Menschen. Anm. des Herausg.


Quelle:
Lavater, Johann Kaspar: Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuche eines Beobachters seiner Selbst, Leipzig 1773, S. 96.
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