Mittewoche der 20. Jenner 1773.

[151] Ich erwachte um halb sieben Uhr, aus schrecklichen Träumen – und müde. Ach! »Herr! öffne mir die Augen zu sehen, was ich sehen soll!« ...1 Ein Blick auf das[151] Daseyn, und das Nichtmehrseyn meiner Mutter ... und ich empfand, wie mein Leben an einem Haare hängt ... Ich suchte mein Herz zu Gott zu erheben; aber ... ihn fand das zu beladne, zu zerstreute Herz nicht. Ich mußte aufstehen; und meine gestrige Arbeit fortsetzen; fast mit Widerwillen; – aber, es muß seyn ...

Oft unterbrochen vollendete ich das Angefangne, und half in meinem Zimmer aufräumen. Von 11 bis 12 Uhr war ich allein in meines Vaters Stube, und machte einen kleinen Entwurf im öconomischen Fache; eine Freundinn schickte mir ein Billiet, einen Brief an Frau G. und eine kleine Beylage für sie. – Ich las den Brief – Gott weiß, wie sehr mich mein Herz verdammt, wenn ich über Verdienen, auch in den besten, unschmeichelhaftesten Absichten gelobt werde; denn wenn auch allenfalls das Gute, das man von mir sagt, wirklich wahr wäre, woran jedoch immer noch gar vieles fehlt, ... warum schweigt man denn von dem Fehlerhaften, dem Bösen, welches doch, bey der Vertraulichkeit meines Herzens, dem Offnen meines Charakters,[152] meinen nähern Freunden auffallend seyn muß. Oder, wenn man es nicht sagen will, warum mäßiget die Erkennung dieser Schwachheiten die Beschreibung nicht, die man von mir macht? Sollte es möglich seyn, daß einer meiner Freunde das Flüchtige, Leichtsinnige in meinem Charakter, die noch so vielen, für mich selbst demüthigenden Proben von Eitelkeit, von Trägheit, Nachlässigkeit, Sinnlichkeit ganz verkennen könnte – so müßte nicht nur die Liebe, auch die Freundschaft müßte blind seyn ... Ich schrieb noch eine halbe Seite – und gieng zum Mittagsessen ... Man sprach von Angewohnheiten; vom Tabakschnupfen; vom Vermehren und Vermindern seiner Bedürfnisse; von dem seligen Herrn Pfr. Schmidlin; von der Zubereitung, dem Nutzen des Essigs; vom Weingeist; von Vermischung beyder; von der Vervollkommnung des Weines; von ähnlichen Vervollkommnungen – u.s.f.

P. kam, und blieb etwa eine halbe Stunde da. Von Wieland; Er wolle nun ein neues Journal, er allein herausgeben. Ich freue mich darauf. Da wird er ernsthaft schreiben – und sein Witz, seine Gelehrsamkeit, sein Geschmack, seine eignen Blicke, werden uns vielleicht das beste, originellste Journal liefern.

– – – – Herr Pfr. Heß besuchte mich, um von Waisenhausangelegenheiten mit mir[153] zu reden. Er hatte ein paar rechte gute Ideen auf die Bahn gebracht, die bessere Erziehung der Mägdchen betreffend. Noch etwas vom Zuchthause. – – – – Frau Gem. meldete mir ihre Verlegenheit in Ansehung des Kostgelds für ihren Sohn, einen sehr wackern Knaben. Die ganze Sache betraf 4 fl ... Ich gab sie ihr sogleich, (von dem Gelde, das mir mein Vater in dem Namen der Mutter für die Armen gegeben) sie nahms mit Dank an. Noch ein paar Worte von ihrem ältern Sohne ...

Ich gieng wieder meine Sachen in Ordnung zu bringen. Wie oft mußte ich mich an den Gedanken: Es muß, es muß seyn, anschmiegen ... Kein größeres Werk der Liebe kann ich thun, als dieses; nicht nur, weil ich damit meiner Ordnungliebenden Frau viel Vergnügen mache; nicht nur, weil ich dadurch in den Stand gesetzt werde, jedem, der mir Schriften oder Bücher geliehen hat, und vielleicht zu höflich oder zu nachlässig ist, mich Unhöflichen und Nachlässigen an die Rückgabe zu erinnern, das Seinige wieder zuzustellen; – sondern vornehmlich darum, weil das immerwährende Suchen mir Zeit und gute Laune raubt. Ueble Laune ist das gefährlichste Gift für die Liebe. Ueble Laune ist die erste natürliche Wirkung des Suchens und Nichtfindens. Suchen und Nichtfinden ist eine Folge der Unordnung – die allemal[154] diese übeln Folgen nach sich zieht, wenn sie auch noch so unverschuldet, noch so unvermeidlich wäre. – Aber der Anblick der vollen überladnen Tische, Commoden, Stühle, Kisten – und die Hinaussicht auf die folgende Woche, wo ich kaum mehr einen Augenblick dazu finden würde, und einige gegenwärtige dringende Geschäffte – das rief der übeln Laune mit lauter Stimme. Mein Gehülfe munterte mich auf.

L.Z. kam. Es freute mich; anfänglich war ich zwar wegen meiner Arbeit, und weil ich nicht einmal einen Stuhl bey der Hand hatte, ein wenig verlegen. Ich fand mich aber doch bald, und hatte ein sehr vergnügtes Halbstündchen mit dieser guten wahrheitbegierigen Seele. Von der Religion bey allem. Den Fall möchte ich sehen, wo die Liebe sich nicht hineinzuschleichen wüßte! Das todte, seelenlose, trockne Geschäffte oder Geschäfftchen möchte ich sehen, dem sie, die allgenugsame Liebe nicht Licht und Wärme geben könnte2 ....[155] von dem Ruhigen, Unhastigen, Unängstlichen in dem Charakter Christi; u.s.f. Ich wünschte, daß ich immer die Gedanken, die mir beym ruhigen vertraulichen Gespräche mit einem wahrheitliebenden Freunde größtentheils viel glücklicher, als bey allen vorsätzlichen Meditationen einfallen, aufbewahren könnte: überhaupt kann ich den Gedanken noch nicht aufgeben, daß ich, wofern ich Zeit hätte, für meine Kinder, meine Freunde, und vielleicht auch nach meinem Tode für die Welt kaum etwas Nützlicheres und Unterhaltenderes schreiben könnte, als ein umständliches Tagebuch; – aber, hiezu habe ich schlechterdings keine Zeit. Bin ich kurz, so ist der Nutzen für mich immer noch beträchtlich genug, aber dann hat mein Sohn, haben meine Freunde nach meinem Tode sehr wenigen Nutzen davon. Und weitläuftig zu seyn, dazu finde ich keine Zeit. Ich habe auch in dieser Absicht schon sehr oft gewünscht,[156] einmal einen stillen, ruhigen Tag zu finden, wo ich aufgelegt wäre, eine Universalabreviaturschrift zu entwerfen, welche, wenn sie uns einmal geläufig wäre, wenigstens die Hälfte von Raum und Zeit ersparen würde. – Einer der vornehmsten Gedanken, der mir diesen Abend mit vollem Lichte einleuchtete (– Sollte nicht jeder Mensch die Geburtstage seiner besten Gedanken aufzeichnen?) war dieser: »Auf dreyerley Weise läßt sich die Güte, die Gesundheit, die Integrität eines christlichen Religionssystems, bestimmen. Es giebt drey Arten es zu prüfen. 1.) Es muß dem ganzen Systeme, dem ganzen Geiste der Offenbarung Gottes durchaus angemessen seyn. Alle und jede einzelne Theile der Offenbarung müssen sich auf die Begriffe, die man seine Religion nennt, beziehen. Die Religion muß nicht nur einseitig seyn, sie muß den allerverschiedenst scheinenden Vorstellungsarten der von Gott ausgezeichneten und bevollmächtigten Verfasser zugleich angemessen seyn; Wort und Geist, und Beyspiel und Schicksal Christi müssen aufs einmüthigste auf diese Begriffe zusammen treffen. – 2.) Sie muß den edelsten, reinsten, erhabensten Trieben und Empfindungen eines jeden gesunden Menschenherzens gleich laufen – das allerbeßte menschliche Herz muß ihr Urbild seyn. 3.) Sie muß sich zu allen Umständen schicken, in denen wir uns immer[157] befinden mögen. Sie muß die Natur der Dinge nicht ändern wollen, sondern uns geschickt machen, bey der Natur der Dinge, die da ist, ruhig, zufrieden, und glücklich zu seyn. Sie muß sich so fort von allen Menschen, zu allen Zeiten, an allen Orten, unter allen Umständen, anwenden lassen; durch Thun oder Leiden äußern und wirksam erzeigen können. Nichts muß von derselben ausgeschlossen seyn!« – Noch unreif ist dieser Gedanke! aber er entzückt mich – meine Religion hat das –

– – – – Gegen Abend gieng ich noch auf eine Stunde zu P. – Von meiner Mutter; von ihrem Leiden; von der noch vielmehr leidenden, unaussprechlich elenden Frau S ... von der Liebe – von der Kürze des Lebens ....

Mittewoche der 20. Jenner 1773 ...... Pf. schrieb eben an einer Predigt von der Liebe, davon ich mir die Hauptsätze ins Gedächtniß prägen will: 1.) Aufopferung der Güter, ja gar des Lebens macht die Liebe noch nicht aus. 2.) Es kömmt bey der Liebe auf die Beschaffenheit des Herzens an. 3.) Die Liebe äußert sich in mancherley Wirkungen, und unterscheidet sich aufs deutlichste von allem falschen Scheine der Liebe. 4.) Ohne die Liebe ist alles Christenthum falsch und unnütz.

Der goldne Spiegel von Wieland lag auf dem Pulte. Ein unvergleichliches Titelkupfer, eine glückliche Familie. Pf. war halb[158] bezaubert von dem schönen Ideal eines glücklichen Volks, das er darinn gefunden hätte. Er erzählte mir noch einige andere Ideen daraus, die mir sehr wohl gefielen. Ich läs es herzlich gern, wenn ich Zeit dazu finden könnte. Solche Schriften in diesem Geschmacke, mit dieser Herzens- und Menschenkenntniß, dieser Naivetät geschrieben – sind gewiß für männliche Seelen vortreffliche Nahrung – So wenig ich ganz mit W. zufrieden seyn kann, nicht, weil er heiter, sondern weil er zuweilen ausgelassen ist, und die guten Sitten beleidiget, – so lese ich dennoch nichts von ihm ohne Nutzen. Ja, ich sollte gestehen, (und ich würde es öffentlich thun, wenn ich nicht voraussähe, daß manche, theils schwache – theils falschandächtige – jene insonderheit, die W. wie ich beym Aufschlagen fand, Zwitter von Heucheley und Schwärmerey nennet, mein Geständniß mißverstehen und mißbrauchen würden,) ich sollte gestehen, daß ich aus manchen sogenannten Erbauungsschriften, nicht den moralischen Nutzen ziehe – (von der Bildung des Geschmackes, die so unendlich vielen Einfluß auf die Sittlichkeit hat, nichts zu sagen) wie aus einzelnen Stellen seiner Schriften. Wahr ists, es ist für ein nicht ganz verwildertes Herz sehr anstößig auf Stellen zu kommen, die sich ohne Erröthen weder laut vorlesen – noch für sich allein lesen lassen. Das Vehikulum des wirklichen Guten[159] ist oft wirksamer als die Arzney. Gerade so kommts mir vor, als wenn ich jemand eine bittere Arzney in süßem Gifte eingeben wollte. Doch sagte mir Pf., dieses letztere Werk sey ohne Vergleichung besser und gemeinnütziger als alle bisherigen.3 – – – –

Fußnoten

1 Erwarte nicht, christlicher Leser, daß dich Gott durch Träume unterrichten werde. Er hat es dir nirgends verheißen. Wir haben sicherere Mittel, seinen Willen kennen zu lernen, als diese sind. Wer auf Träume merket, ist in großer Gefahr, von seiner Einbildungskraft getäuscht, und auf Abwege verleitet zu werden. Die Seele kann sich wohl beym Schlafe des Körpers gewisse Dinge deutlicher und lebhafter als sonst vorstellen, oder auch auf gewisse Ideen kommen, die sie im Zustande des Wachens nicht gefunden hätte. Aber die Zukunft kann sie weder in dem einen noch in dem andern Zustande mit Gewißheit erkennen. Mehr hat auch vermuthlich der Verfasser mit dieser Stelle nicht sagen wollen. Er schätzet Vernunft und Schrift zu hoch, und kennet den Gang der menschlichen Seele zu gut, um viel auf Träume zu halten. Anmerkung des Herausgebers.


2 Es ist allerdings vortrefflich, wenn uns eine aufrichtige, herzliche Liebe des Nächsten bey allem, was wir mit ihm oder für ihn zu thun oder zu reden haben, beseelet, und wenn sie uns auch die kleinsten, gleichgültigsten Geschäffte und Dienstleistungen wichtig und angenehm machet. Nur warne ich dich im Namen des Verfassers, christlicher Leser, daß du die freundlichen Mienen und Geberden, den sanften und schmeichelhaften Ton der Stimme, und das äußerliche liebkosende Wesen, wodurch sich zuweilen die Liebe äußert oder äußern soll, nicht für die Liebe selbst haltest, und diejenigen ja nicht verachtest oder verdammest, die nicht auf diesen Ton gestimmt, sondern in ihrem äußerlichen Betragen kälter und ernsthafter, aber doch dabey redlich gesinnt sind. Anmerk. des Herausg.


3 Ich habe seit dieser Zeit dieses Werk gelesen, und mit einem Vergnügen gelesen, das durch nichts als das Ende desselben unterbrochen wurde. Wohl dem vortrefflichen Verfasser, und wohl dem Publicum, das seine originellen und anmuthreichen Schriften beynahe verschlingt, wenn er sich nie mehr zum Priester der sinnlichen Wollust erniedrigen, und allem seinem Genie, seiner Sprachmacht, seinen Grazien, seiner Gelehrsamkeit und Kritik aufbieten wird – Wahrheit, Tugend, Ruhe, Zufriedenheit und Seeligkeit im Genusse der allbeseelenden Gottheit auszubreiten.

Im Junius 1773.


Quelle:
Lavater, Johann Kaspar: Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuche eines Beobachters seiner Selbst, Leipzig 1773, S. 161.
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