Sonnabends den 5. Junius 1773.

[297] In der Erwartung, daß meine Frau heute oder morgen niederkommen werde, hatte ich Pf. gebeten, am Sonntag Abend für mich zu predigen. Ich nahm mir also vor, einige Briefe zu beantworten, und insonderheit den von Hasencamp. Ich that es mit sonderbarer Freude – und schrieb an Ströhlin unter andern. – »Ihre Warnungen will ich mit Dank annehmen, und gern gestehen, daß ich oft schnell bin im Reden, und mich oft übereile – daß ich mit den Wörtern Eigensinn, verworren, geschmacklos zu geschwinde herausrücke. – – O mein Lieber! von allen Seiten ruft man mir zu: Nicht so geschwinde! und auf allen Seiten rufe ich zurück: Nicht so langsam! Ich will langsamer gehen, wenn ihr mir versprecht, geschwinder zu gehen!« – –

An Hasencamp – – unter andern: »Bruder und Brüder, betäubet mich nicht, sondern gebt mir Licht gebt mir Gründe. Ich will dem Worte Gottes alles unterwerfen, meine liebsten Meynungen; aber, an die Wand stelle ich mich; ich will nicht überseufzt, sondern überzeugt seyn. – – Nicht seufzen also, nicht dich ängstigen, dich nicht furchtsam über mich gebärden, nicht[297] über meinen Leichtsinn liebreich jammern wirst du – denn so machen es, kraft der allgemeinen Zaubermacht der Eigenliebe, alle stockdickfinstern Beförderer der irreligiosesten Religionsbegriffe – sondern aus dem Lichtquelle vollaufgeschöpfte Lichtgründe wirst du mir vorlegen ......

O ihr lieben Seelen, warum wollt ihr mit aller Gewalt einer liebreichen Sorgsamkeit mir meinen kindlichen Geist abwarnen, abseufzen, und mir Euern vielsehenden Furchtgeist, gleichsam mit Handauflegung Euerer Freundschaft dafür geben?

Lieber Hasencamp, lieber Peter, und Samuel, und Johannes, und wie ihr guten sorgsamen Bruderseelen alle heißet; laßt mich doch lächeln, wenn ich an euch denke, und sanft, liebreich fragsweise lächeln, wenn Ihr – mit Euern Bedenklichkeiten – meine Sentimens schwächen, meine heitre Einsicht in das Evangelium, das nicht so regelhaft ist, verdunkeln, und mir, auf gut jüdisch, die Freyheit rauben und einschränken wollet, die mir Christus giebt. Nicht auf Eingebungen, nicht auf Blitze und Triebe, dieses oder jenes Große zu übernehmen, laure ich. Ich gehorche meinem moralischen Gefühle – und dem Evangelio – und der Fürsehung, das ist, ich glaube an Gott, den Vater,[298] den Sohn, und den heiligen Geist. Aber, verzeihe mir! ich fürchte, ihr verstehet das noch nicht.

Nicht so geschwinde! ruft mir mein Weibchen fast bey jeder Mahlzeit; Nicht so geschwinde! ruft mir Herr Ströhlin von Bern – Nicht so geschwinde! ruft mir eine liebe Gesellschaft von Duisburg zu. Ich will hören, ihr Lieben! ich will mich vorsichtig machen lassen! aber ich will nicht kriechen. Ich will lieber fliegen und fallen können; als nicht fallen können, und – kriechen.

Ich sehe freylich wohl; meine Briefe die ich nun doch, um Euern Beyfall zu erschleichen, um keinen Buchstaben schüchterner machen möchte, werden Euch meinen Freyheitssinn (wiewohl ich mich jedermann zum Knechte mache) nicht geben. Aber, wenn wir ein paar Monate mit einander umgehen könnten, dann würden wir unser Gutes gegen einander auswechseln, und manches würde sich auf beyden Seiten abschleifen, das itzt schimmert, wenn es gleich nicht Gold ist.

Gebet um Weisheit und Erleuchtung ist fast mein einziges, wenigstens mein vornehmstes Gebet; und die Fürsehung erhört mich größtentheils durchs Evangelium, und durch Menschen. Ich bitte nicht um diese oder jene Wundergabe; ich übe mich, alle,[299] auch die göttlichstscheinenden Triebe den Worten Christi, denn diese sind mir noch wichtiger, als die Worte der Apostel, zu unterwerfen (die Apostel reden mehr mit den Juden und Heiden; Christus mehr mit dem Menschen;1 nicht daß ich der Apostel[300] Wort, das ist, Christum Christo entgegensetze – denn man kann sich gegen Euch, ihr Lieben, nicht genug verwahren, nm nicht mißverstanden zu werden. – Ihr habt, in aller Freundlichkeit seys gesagt, eine verzweifelte Gabe, alles bedenklich zu finden, und setzet Euch nicht genug in meine Umstände hinein; denn ich habe nicht Zeit zu entwickeln; ich gebe lieber Saamenkörner als Früchte. – – Und über dieses alles, lieben Brüder, muß ich wieder sagen: durchaus verfehlt ihr meine Denkensart.

Hast du, Bruder Hasencamp, mein Gebetliedchen gesehen, das ich täglich im Geiste mit dir beten möchte, und dabey mir immer so herzlich wohl wird. Mich dünkt, du habest meinen Jonas noch nicht erhalten,[301] sonst würdest du in so mancher Absicht, in welcher du itzt meinethalben bekümmert bist, keinen Kummer mehr haben. – Doch – ich erinnere mich nicht, in allen vierzehn Predigten dem Satan ein einziges mal die Ehre erwiesen zu haben, ihn auch nur zu nennen – und das ist dir vielleicht bedenklich. Nun – wenn du schwach bist, so magst du Kraut essen; und ich will in Ewigkeit kein Fleisch essen, wenns dich im Biblischen Sinne ärgert; wenn du diesen heitern Scherz nicht ertragen kanst – lieber Bruder; so will ich mich dessen, um deinetwillen aus Liebe zu dir, enthalten, und paullinisch denken: Es ist mir zwar alles erlaubt, aber es nützet nicht alles.

Man muß seiner Pflicht, und nicht seiner Lust folgen, das ist, dem moralischen Gefühle nach der Fürsehung – und keiner eigensüchtigen Liebhaberey; da habt ihr ganz recht.

Stehe auf eine Zeitlang von dem ab, was dir auch in den guten Sachen, auch in den besten Sachen bisher die liebste Arbeit gewesen; und siehe zu, ob du nicht etwas finden könnest, das vor der Hand nöthiger, oder eben so nützlich ist, wozu du aber keine, oder nicht so große Lust hast. Ich will diesen deinen Rath durch die Anwendung auf[302] mein Herz, und meine Umstände prüfen. Eins meiner liebsten Geschäffte ist das Predigen; Briefe schreiben, die erleuchten, erwärmen, vergnügen; – Freunde und Freundinnen besuchen; – Armen helfen, die mit ihrer Noth auf meine Stube kommen u.s.w. – das ist bisher meine liebste Arbeit gewesen; von dieser soll ich nun abstehen? Soll nicht predigen? Nicht Briefe schreiben? Nicht Freunde besuchen? Nicht den Armen helfen? – Warum nicht? – Darum, weil es meine liebste Arbeit ist? – Lieber Bruder! wo steht so was im Evangelium? Heißt das nicht: eingebildete ἐϑελοϑρησχειαυ2 durch wirkliche vertreiben? – Doch ich will auch redlich gestehen, daß die Maxime unvergleichlich gut ist: Von vielen Sachen, die du thun mußt, thue die zuerst, die dir am meisten zuwider ist. Grüßen Sie nur die edle Seele, die Frau L., die sich diese Maxime zu eigen gemacht.

Der apostolische Stand ist von dem unsrigen verschieden. Ganz gut: aber, wir sollen trachten, ihn demselben so ähnlich zu machen, wie möglich; das heißt: Christum zu verherrlichen durch Leben und Tod.

[303] Die Begriffe von Gottes Ordnung und Recht, die mir noch fehlen, lieber Bruder, die will ich mir also mit deinem ersten Briefe verschrieben und bestellt haben; du hältst mir sodann Rechnung. Was ich davon brauchen kann, behalte ich; was nicht, sende ich dir zurück.

Wahre Demuth ist: Mir nichts zuschreiben, was ich nicht habe; – und das, was ich habe, als empfangen, als Gnade ansehen; – und dem Nächsten, wie meinem Herrn dienen. – Was ist nun falsche Demuth – Sich etwas nicht zuschreiben, das man hat, – das, was man hat, für Gnade ausgeben, und dennoch dabey so eitel seyn, als wenn mans nicht empfangen hätte. – Oder da kriechend und schmeichelnd handeln wo man brüderlicher Knecht seyn sollte – Lieber Bruder; worinn besteht nun die falsche Demuth, worein mich der Teufel zu stürzen sucht? – Lieber Bruder, laßt uns bitten:


Nichts als deines Geistes Gnade,

Nichts, sonst nichts, verlangt dein Kind;

Dann geh ich auf rechtem Pfade

Sicher, muthig und geschwind. –
[304]

Hast du den Brief des Pastors zu *** an den Pastor zu *** gelesen? – O lies ihn! lies ihn! – Straßburg hat mir geantwortet: Meine Schriften wären nicht verrufen! Im Convent nur haben sie auf Veranlassungen, worüber sie sich niemals weder erklären wollen, noch werden, erinnert, dieselben in puncto Socinianismi mit Behutsamkeit zu lesen. Es freue sie nun, daß ich so wohl in Absicht der Person als des Todes Christi den Socinianismum zu verabscheuen sie versichere.«

Nach dem Mittagsessen schrieb ich noch den Brief an Hasencamp zu Ende; durchlas ihn; gieng ins Salzhaus – öconomische Sachen; von W. Ich bestrebte mich aufs Billigste von ihm zu urtheilen. Von da – ich las noch den Mercüre zu Ende, und holte mein Tagebuch nach; – von 7 bis 8 Uhr bey meiner guten Frau. – Sie las meinen Brief an Hasencamp. – Nach dem Essen las ich noch ein Manuscript von einer Freundinn, tsgiOch

Sonnabends den 5. Junius 1773sy+eriO ng frsO

Sonnabends den 5. Junius 1773Ors ±+. Für mich sehr lehrreich – sehr viel richtige Bemerkungen, die mich trafen; beschämten; erfreuten; – über meine Gleichgültigkeit gegen die Urtheile der Welt von mir. – Ich werde immer mehr gleichgültig werden müssen, je mehr ich täglich wahrnehme, wie unendlich wenige von der ungeheuren Menge der[305] Beurtheiler – ruhig und ohne Leidenschaft nachdenken; wie wenige sich ums Anhören und Beobachten bekümmern; wie wenige sich in meine Umstände hinein zu setzen sich die Mühe nehmen, oder es für die natürlichste Billigkeit halten; – wie unmöglich es wäre, recht zu handeln, wenn ich allemal vorher auch nur 6 erleuchtete und redliche Menschen fragte, was ich thun sollte? wie ganz widersprechend ihr Rath ausfallen, und vielleicht keiner mir das, was für meine Person, meinen Charakter, meine Umstände, meinen Geschmack das Beste und Schicklichste ist, rathen würde; wie die nahen Beurtheiler zu partheyisch, zu ängstlich in Absicht auf andere nahe geräuschmachende Urtheile und Wirkungen sind – die fernen viel zu wenig Data haben, um darauf ein richtiges Urtheil gründen zu können. – Also – werde ich mich zwar gern allen Urtheilen unterwerfen; alles mit Ruhe anzuhören, und mit Redlichkeit mir zu Nutze zu machen, mich üben; – aber ich muß doch zuletzt meine eigne Wage, und eine von allen Urtheilen der Welt schlechterdings unabhängige Selbstständigkeit haben: ich muß vorsichtig seyn, ehrbare, löbliche Dinge zu thun, nicht allein vor dem Herrn, sondern auch vor den Menschen; übrigens – mich üben, zu warten, zu warten auf den Aufschluß manches Rätzelhaften an mir,[306] den die mütterliche Sorgfalt der göttlichen Fürsehung zu rechter Zeit meinen Freunden und Feinden geben wird; zu warten auf die große Entscheidung der ewigen Wahrheit und Liebe – die mein Gutes bekannt machen – und meine Fehler verbessern und verzeihen wird.

Ich schlief mit guten Empfindungen, voll Ruhe und Dankbarkeit ein, mit dem vielfassenden Seufzer: »Laß mich erwachen, ehe ich entschlafe, und leben, ehe ich sterbe!«

Fußnoten

1 Zunächst und unmittelbar redete doch auch Christus mit dem Menschen oder mit denen Menschen, die er jedesmal vor sich hatte, es mochten nun seine Jünger oder andere Zuhörer seyn; und mit diesen Menschen mußte er in ihrer Sprache, nach ihren Bedürfnissen und Umständen, nach der Beschaffenheit und dem Grade ihrer Erkenntniß von philosophischen und Religionssachen, reden, wenn er von ihnen verstanden werden, seine Lehren mit ihrem Gedankensysteme verbinden, und sie dadurch weiter bringen wollte. Wir müssen also das Allgemeine in seinem Vortrage von dem nach Zeit, Personen und Umständen bestimmten Besondern desselben unterscheiden lernen, und dieses nicht mit jenem vermengen; wir müssen uns mehr an die Sachen als an die Ausdrücke halten. Jene sind ewige, unveränderliche Wahrheit; diese richten sich nach dem abwechselnden Bedürfnisse der Zeit und Umstände. Wenn Gott itzt durch Jesum oder andere von ihm erleuchtete und bevollmächtigte Boten zu uns redete, so würde er uns zwar eben dasselbe sagen, aber er würde es uns, was den Ausdruck und die Vorstellungsart betrifft, aller Wahrscheinlichkeit nach, auf eine ganz andere Art sagen lassen. Stoße dich nicht an diesem fremdescheinenden Satze, christlicher Leser. Ich habe ihn nicht aus Verachtung der Schrift, die ich mit dir für ein überaus kostbares Geschenk Gottes halte, sondern zur Uebung des christlichen Nachdenkens, und zur Befestigung des wahren christlichen Glaubens hinzugefüget. Anm. des Herausg.


2 Selbsterwählter Gottesdienst; künstliche Religion.


Quelle:
Lavater, Johann Kaspar: Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuche eines Beobachters seiner Selbst, Leipzig 1773.
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