Der trübe Wandrer

[26] Am Strand des Lebens irr ich, starre düster

Ins Todesmeer, umhüllt von Nebelflor;

Und immer wird der Strand des Lebens wüster,

Und höher schlägt die Flut an ihm empor.

O strömt, ihr Tränen, strömt! – Im Weiterirren

Seh ich die längstverlornen Minnestunden,

Ein neckend Schattenvolk, vorüberschwirren,

Und neuer Schmerz durchglüht die alten Wunden.[26]

Die Asche meiner Hoffnungen, die Kränze

Geliebter Toten flattern mir vorüber,

Gerissen in des Sturmes wilde Tänze,

Und immer wirds in meiner Seele trüber. –

Das Christuskreuz, vor dem in schönen Tagen

Ein Kind ich, selig betend, oft gekniet,

Es hängt hinab vom Strande nun, zerschlagen,

Darüber hin die Todeswelle zieht. –

Seltsame Stimmen mein' ich nun zu hören:

Bald kommts, ein wirres Plaudern, meinem Lauschen

Meerüber her, bald tönts in leisen Chören,

Dann wieder schweigts, und nur die Wellen rauschen. –

Ein ernster Freund, mein einziges Geleite,

Weist stumm hinunter in die dunkle Flut;

Stets enger drängt er sich an meine Seite:

Umarme mich, du stiller Todesmut!

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 26-27.
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