In der Schenke

[78] Am Jahrestag der unglücklichen Polenrevolution


Unsre Gläser klingen hell,

Freudig singen unsre Lieder;

Draußen schlägt der Nachtgesell

Sturm sein brausendes Gefieder,

Draußen hat die rauhe Zeit

Unsrer Schenke Tür verschneit.


Haut die Gläser an den Tisch!

Brüder, mit den rauhen Sohlen

Tanzt nun auch der Winter frisch

Auf den Gräbern edler Polen,

Wo verscharrt in Eis und Frost

Liegt der Freiheit letzter Trost.


Um die Heldenleichen dort

Rauft der Schnee sich mit den Raben,

Will vom Tageslichte fort

Tief die Schmach der Welt begraben;

Wohl die Leichen hüllt der Schnee,

Nicht das ungeheure Weh.


Wenn die Lerche wieder singt

Im verwaisten Trauertale;

Wenn der Rose Knospe springt,

Aufgeküßt vom Sonnenstrahle:

Reißt der Lenz das Leichentuch

Auch vom eingescharrten Fluch.


Rasch aus Schnee und Eis hervor

Werden dann die Gräber tauchen;

Aus den Gräbern wird empor[78]

Himmelwärts die Schande rauchen,

Und dem schwarzen Rauch der Schmach

Sprüht der Rache Flamme nach.

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 78-79.
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