Einem Knaben

[115] Was trauerst du, mein schöner Junge?

Du Armer, sprich, was weinst du so?

Daß treulos dir im raschen Schwünge

Dein liebes Vögelein entfloh?


Du blickest bald in deiner Trauer

Hinüber dort nach jenem Baum,[115]

Bald wieder nach dem leeren Bauer

Blickst du in deinem Kindestraum.


Du legst so schlaff die kleinen Hände

An deines Lieblings ödes Haus

Und prüfest rings die Sprossenwände

Und fragst: »Wie kam er nur hinaus?«


An jenem Baume hörst du singen

Den Fernen, den dein Herz verlor,

Und unaufhaltsam eilig dringen

Die heißen Tränen dir hervor.


Gib acht, gib acht, o lieber Knabe,

Daß du nicht dastehst trauernd einst

Und um die beste, schönste Habe

Des Menschenlebens bitter weinst!


Daß du die Hand, die sturmerprobte,

Nicht legst, ein Mann, an deine Brust,

Darin so mancher Schmerz dir tobte.

Dir säuselte so manche Lust;


Daß du die Hand mit wildem Krampfe

Nicht drückest deinem Busen ein,

Aus dem die Unschuld dir im Kampfe

Entflohn, das scheue Vögelein.


Dann hörst du flüstern ihre leisen

Gesänge aus der Ferne her;

Neigst hin dich nach den süßen Weisen;

Das Vöglein aber kehrt nicht mehr! –

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 115-116.
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