An Mathilde

[437] Schon verrauscht der Tag, und des Abends sanftere Seele

Fließt wie süße Musik sänftigend uns in die Brust.

Horch, Mathilde, wie leise der West durch Blüten dahinscherzt,

Leiser noch weht sein Hauch, kost er um deine Gestalt.

Sieh die Biene, sie wandelt von Blume zu Blume geschäftig,

Süße Bereicherung lockt weiter die summende stets;

Also wandelt die Seele dereinst von Blume zu Blume,[437]

Welche zum strahlenden Kranz sich der Unendliche wand:

Also wandelt sie einst von Welten weiter zu Welten,

Näher dem liebenden Gott, liebender, göttlicher stets.

Aber die Wechselgestalten des Lebens, sie teilen nicht alle

Gleich der Unsterblichkeit Los, wenn uns der Ewige winkt;

Nur das Schönste des Lebens, worin der Himmel uns kund wird,

Nimmt die Seele mit fort, schwingt sie den Sternen sich zu.

Doch die trüben Gestalten verhüllt Nacht, ewige Nacht dann.

Heil der Stunde, die selbst dann noch uns wonnig umstrahlt!

O Mathilde, dein Auge voll himmlischer, tiefer Bedeutung,

Blickt mir ins Auge so ernst, und so entzückend zugleich,

Daß die Seele mir bebt, o Geliebte! ahnet dir etwa,

Daß auch diesen Moment hüllen nicht werde die Nacht?

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 437-438.
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