Das Veilchen und der Schmetterling

[446] Ein Veilchen stand

An Baches Rand,

Und sandte ungesehen

Bei sanftem Frühlingswehen

Süßen Duft

Durch die Luft.

Da kommt auf schwankendem Flügel

Ein Schmetterling über den Hügel

Und senket zur kurzen Rast

Zum Veilchen sich nieder als Gast.


Schmetterling


Ei! Veilchen! wie du töricht bist,

Zu blühn, wo niemand dein genießt!


Veilchen


Nicht ungenossen blüh ich hier,

Ein Schäfer kommt gar oft zu mir

Und atmet meinen Duft und spricht:

»Ein solches Blümchen fand ich nicht,

Wie Veilchen du! auf Wiesen, Auen

Ist keines mehr wie du zu schauen!«


Schmetterling


's ist schöner doch, glaub meinem Wort

Zu blühn auf freier Wiese dort,

In jener bunten Blumenwelt, Als hier im dunklen Schattenzelt!


Veilchen


Hier bin ich meines Schäfers Wonne,

Dort aber bleichet mich die Sonne,

Und ohne Farbe, ohne Duft,[447]

Find ich zu früh dort meine Gruft.

Drum blüh ich in der Einsamkeit,

Wenn auch nur Einer mein sich freut.

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 446-448.
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