Das Lied vom armen Finken

[315] Der Finkler ist ein Schlauer;

Wann dürr die Blätter sinken,

Dann sperrt er in den Bauer

Den eingefangnen Finken.


Er macht den Finken kirre,

Daß er zu finden lerne

Das Wasser im Geschirre

Und seines Futters Kerne.


Und weiß das arme Finklein

In seinen Sprossenwänden

Bescheid in jedem Winklein,

So geht es an ein Blenden.


Der Vögelpotentate

Brennt nun dem armen Tropfe

Mit glutgehitztem Drahte

Die Äuglein aus dem Kopfe.[315]


Und fragst du nach dem Witze

Von solchem schnöden Werke?

Ei, daß im Kerkersitze

Der Fink den Lenz nicht merke.


Der Vogler kann nicht brauchen

Des Finken Schlag im Märzen.

Daß Lust und Lied ihm tauchen

Aus lenzgewecktem Herzen.


Da sitzt er nun gefangen

Im traurigen Verstecke,

Gar fleißig überhangen,

Daß ihn kein Lüftlein wecke.


Und sollte seine Seele,

Die doch den Frühling spüret,

Sich wagen auf die Kehle,

Wenn sich der Sänger rühret:


Vertreibt ihm bald sein Dränger

Die frohen Lenzgedanken,

Er spritzt dem kecken Sänger

Kalt Wasser in die Flanken.


Und läßt sich nicht bezwingen

Der Fink mit kalten Bädern,

Will selbst der Nasse singen,

So rupft man ein paar Federn.


Er soll sein lautes Schlagen

Und seinen Frühlingsglauben

Bis in den Herbst vertagen,

Wo sich die Hain' entlauben.


Dann wird er singen dürfen

Und seine Flügel dehnen,[316]

Die Waldeslüfte schlürfen

Und sich im Frühling wähnen.


Dann auf dem Vogelherde

Beginnt der Narr zu preisen

Die freudenwelke Erde

In frohen Frühlingsweisen.


Dann hören sein Frohlocken

Und seine Frühlingslüge,

Verwirrt und süß erschrocken,

Der Vögel Wanderzüge.


Und voller Lenzverlangen,

Dem Finkler zum Ergetzen,

Fallen sie ein und fangen

Sich auch in seinen Netzen. –


Nun ist es Lenz, nun sitzet

Der Fink in seiner Steige,

Der Vogler rupft und spritzet,

Daß er den Lenz verschweige.


Ich aber vorempfinde,

Was droht aus Ost und Norden,

Das Heer der kalten Winde,

Die unsre Wälder morden.


In den zerstörten Hagen

Hör ich am Vogelherde

Auch schon den Finken schlagen:

›Wie schön ist Gottes Erde!‹


Doch wirds dann wieder heller

Nach trüben Winternissen,

Wenn einst dem Vogelsteller

Sein altes Garn zerrissen.

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 315-317.
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