Das dürre Blatt

[337] Durchs Fenster kommt ein dürres Blatt,

Vom Wind hereingetrieben;

Dies leichte, offne Brief lein hat

Der Tod an mich geschrieben.


Das dürre Blatt bewahr ich mir,

Wills in die Blätter breiten,

Die ich empfangen einst von Ihr;

Es waren schöne Zeiten!


Da draußen steht der Baum so leer;

Wie er sein Blatt im Fluge,

Kennt sie vielleicht ihr Blatt nicht mehr,

Trotz ihrem Namenszuge.


Der toten Liebe Worte flehn,

Daß ich auch sie vernichte;

Wie festgehaltne Lügner stehn

Sie mir im Angesichte.


Doch will ich nicht dem holden Wahn

Den Wurf ins Feuer gönnen;[337]

Die Worte sehn mich traurig an,

Daß sie nicht sterben können.


Ich halte fest, zu bittrer Lust;

Was all mein Glück gewesen,

In meinen schmerzlichen Verlust

Will ich zurück mich lesen.


Das dürre Blatt leg ich dazu,

Des Todes milde Kunde,

Daß jedes Leiden findet Ruh

Und Heilung jede Wunde.

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 337-338.
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