Anhang

[341] Ich habe bei der Eilfertigkeit, mit der ich diese Geschichte aus der angeführten gedruckten Lebensbeschreibung zusammengezogen, einen Brief hineinzubringen vergessen, der in derselben gleichfalls, weil er nicht in Mannheims, sondern in den Papieren eines seiner verstorbenen Freunde sich gefunden, nur in einer Note angeführt worden. Es ist die Beschreibung einer Kirchenvisitation, welche der Spezial des verstorbenen Herrn Pfarrers das erstemal in seinem Kirchspiel gehalten. Ich will die interessantesten Stellen daraus kürzlich epitomieren.

Er erschrak sehr, heißt es in demselben vom Spezialsuperintendenten, der übrigens als ein sehr guter und braver Mann drin geschildert wird, der aber vielleicht ebensowohl wegen Alters und Eigensinn, als weil er nicht Kraft genug hatte, ein Ansehen, welches er bloß eingerosteten Kirchengebräuchen zu danken hatte, gegen eines aufzuopfern, das, weil es dem Wohl des Ganzen ungleich zuträglicher war, freilich erst im Glauben und Hoffnung einer bessern Zukunft eingeerntet werden mußte, er erschrak sehr, heißt es, als er mich in seiner Gegenwart über »die beste Art, die Wiesen zu wässern« predigen hörte. »Geht das alle Sonntage so«, fragte er mit einem etwas herrischen Ton, als er in die Stube trat. Ich, der diesen Ton an keinem Menschen gewohnen kann, antwortete ihm mit sehr viel Zuversichtlichkeit[341] im Blick: »Nicht anders, Herr Spezial!« Er, der diese wenigen Worte für Trotz nehmen mochte, sagte mir hierauf mit gezwungener Überhöflichkeit: Er werde sich genötigt sehen, diesen Vorfall ans Oberkonsistorium zu referieren, und es würde ihm leid tun, mich nach einem halben Jahr vielleicht sehr wider meinen Willen genötigt zu sehen, wieder über die armseligen Sonn- und Feiertagsevangelien zu predigen. »Es würde mir leid tun«, antwortete ich, »jemals auch nur den geringsten Verdacht erweckt zu haben, daß meine gegenwärtige Art zu predigen eine Geringschätzung des heiligsten aller Bücher und in diesem der mit so schöner Auswahl für die allgemeine Andacht von der urechten christlichen Kirche vorgeschriebenen Stellen vermuten lassen könnte; auch würde mir niemand mit Recht vorwerfen, daß ich nur einen Sonntag unterlassen, das dafür bestimmte Evangelium abzulesen, wiewohl ich meine Ursachen hätte, allemal nicht nach vorgeschriebenen, sondern nach zufälligen Veranlassungen meine öffentlichen Reden an meine Gemeine einzurichten.«

»Ja, Ihre Gemeine wird schön in der christlichen Religion unterrichtet werden. Auch finde ich, daß Sie nicht das mindeste tun, was in der Kirchenordnung vorgeschrieben worden. Sie halten weder Katechismusexamina noch irgendeine andere Art von Kinderlehre des Sonntags; dieses kann nicht anders als die gröbste Unwissenheit, ich will auch nur sagen, in den ersten und notwendigsten Wahrheiten unsers Glaubens nach sich ziehen.«

»Mein Herr Spezial«, antwortete ich ihm, »was die Geheimnisse unserer Religion betrifft, so erkläre ich sie meiner Gemeine nach ihrem Fassungsvermögen, und soweit sie erklärt werden dürfen, nur an den hohen Feiertagen, wo ich auch hernach mit den Kindern eine katechetische Wiederholung darüber anstelle. Denn ich habe mir sagen lassen (es war derselbe Propst, dessen Tochter Johannes ehemals den Beutel gestrickt), daß das Subjekt Geheimnis sich mit dem Prädikat darüber plaudern nicht allzuwohl zu vertragen pflege, daß also alle acht Tage über Geheimnisse zu reden dem Prediger leicht das Ansehen eines geistlichen Scharlatans geben könne.«[342]

»Mein Herr, mein Herr«, sagte der Spezial außer aller Fassung, der durch die Einkleidung dessen, was Mannheim ihm zu sagen hatte, schon halb für seine Meinung gewonnen war; jetzt aber die Pille unter dem Honig zu spüren anfing.

»Hören Sie mich aus«, fuhr ich fort, »ich habe meinen Bauern nötigere Sachen zu sagen –«

»Was kann nötiger sein als der Weg zur Seligkeit«, erwiderte jener mit Heftigkeit. »Wenn einer die ganze Welt gewönne –«

Hier hielt er inne. Ich fuhr mit Nachdruck fort: »Und litte Schaden an seiner Seele. Dazu aber soll es, hoffe ich, bei uns nicht kommen. Erlauben Sie mir, Ihnen eine Geschichte zu erzählen –«

»Nein, nein, nein«, sagte jener, »ich sehe schon, wer Sie sind, und dem muß gewehrt werden.«

»Ich bin Mannheim«, gab ich zurück.

»Dem muß gesteuert werden«, versetzte er.

»Meine Geschichte müssen Sie aushören«, sagte ich. »Es war ein Mensch in einer wüsten Insel, der hatte in zwei Tagen kein Wildbret gefangen. Bei dem heftigsten Anfall des Hungers stieß ein Brett mit einem Missionar ans Land, der Schiffbruch gelitten hatte; der Missionar freute sich, eine Seele mehr zu gewinnen, ging auf ihn zu und fragte ihn über die ersten Grundsätze seines Glaubens. Er wollte essen, sagte der andere. Dieser fing an, ihm den katholischen Lehrbegriff vorzutragen, der Proselyt packte ihn an und fraß ihn auf. So könnte es uns mutandis mutatis mit unsern Bauern gehen, wenigstens kann der Trost der Religion, sobald man den Leuten nicht Aussichten weist, durch ihr inniges Vertrauen auf Gott die ersten und notwendigsten Bedürfnisse ihres Lebens zu befriedigen, nicht anders als höchst unkräftig sein. Wir finden auch, daß Christus und seine Apostel nicht so gepredigt haben. Christus fand seine Jünger, die die ganze Nacht nichts gefangen hatten, und ließ sie einen reichen Zug tun; der Apostel sagt ausdrücklich, die Gottseligkeit habe die Verheißung dieses – und des zukünftigen Lebens.«

»Schämen Sie sich nicht, Ihre Inorthodoxie noch durch die Bibel zu beschönigen.«[343]

»Ich bin weder inorthodox, noch brauche ich etwas an mir zu beschönigen. Wo will sich die Religion äußern, wo soll sie ihre Kraft und Wirksamkeit beweisen, wenn wir sie als einen abgezogenen Spiritus in Flaschen verwahren und nicht sie durch unser ganzes Leben und Gewerbe dringen lassen. Den Bauern zu weisen, daß Religion geehrt und reich mache, heißt ebensoviel, als Kindern Brot und Spielwerk hinlegen, wenn sie artig gewesen sind.«

»Wollen Sie die erste Quelle aller Moral verderben«, sagte der wirklich gutmeinende Spezial.

»Die Stimmung des Herzens«, erwiderte ich, »die alle dieser Vorteile entbehrt, freiwillig entbehrt, sobald ein Recht dadurch gekränkt oder die Gottheit dadurch beleidigt wird, kann auf keine andere Weise hervorgebracht oder, wenn sie da ist, geprüfet werden, als wenn ich bei meinen Bauern gehörige Begriffe von dem, was zeitlicher Wohlstand ist, gehörige Kraft und Anwendung dieser Kraft, ihn zu erreichen, voraussetze. Der Bettler glaubt den Himmel am allerersten und geschwindesten, aber es ist denn auch nur ein Himmel für Bettler.

Diese Stimmung in ihnen hervorzubringen, ist meine einzige Absicht. Ich habe zu dem Ende ein geheimes Tribunal bei mir errichtet. Jeder, der etwas über seinen Nachbar zu klagen hat, kommt zu mir und kann nicht allein des unverbrüchlichsten Stillschweigens bei mir versichert sein, sondern auch, daß ich ihm viel geschwinder zu seinem Recht verhelfen werde als der Advokat vor den Gerichten. Ich gehe zu dem Verklagten, ich gewinne ihm sein Vertrauen ab, ich höre, ob er nicht vielleicht ebensoviel Beschwerden gegen seinen Ankläger hat. Habe ich die wahre Gestalt der Sache erfahren und alle meine besonderen Versuche sind vergebens, den Schuldigen zu seiner Pflicht zurückzubringen, so bringe ich die Sache unter irgendeiner Einkleidung auf die Kanzel und weise aus den allgemeinen Wahrheiten unserer Religion das Verdammliche oder vielmehr das Schädliche dieser und jener Handlung in ihren Folgen. Da dünkt mich's Zeit, allgemeine Wahrheiten vorzutragen und mit Erfolg. Denn entspricht hernach die Erfahrung der Menschen[344] dem, was wir ihnen voraussagten, so gräbt sich die Religion weit tiefer in ihr Herz als irgend etwas, so sie auswendig gelernt haben. Ich habe die frappantesten Beweise davon gehabt, und diese haben mich in dieser Methode so sehr bestätigt, daß ich sie vermöge meines Gewissens nimmer abändern werde, was auch die Obern mir darüber jemals ankündigen mögen.«

»Was können Sie für Beweise davon haben?«

»Ich will Ihnen gleich ein ganz frisches Exempel anführen. Einer von unsern Bürgern ward beschuldigt, er hätte verschiedenes von den Gütern seines Mündels, eines guten, einfachen, unschuldigen Mädchens, veruntreut. Man konnte nicht sagen wo, es waren aber merkliche Anzeichen da, daß das Mädchen, das immer still und ordentlich gelebt, seit der Zeit seiner Vormundschaft um ein beträchtliches ärmer geworden. Als alle meine Kunst vergebens war, ihn selbst zu dem Geständnis zu bringen, erzählte ich den letztern Sonntag eine Geschichte, die mir noch von meiner Jugend her bekannt war, von einem Bedienten, der einen ohnehin armen Herrn um sein Letztes bestohlen, damit in fremde Länder gegangen und durch Fleiß und Ordnung ein großes Vermögen erworben. Er heiratete, bekam Kinder – auf einmal wachte sein Gewissen auf, er mußte zurück und seinem Herrn nicht allein das Gestohlene wiederbringen, nicht allein die Zinsen des Gestohlenen, sondern – alles, alles, was er selbst dadurch erworben, und er, sein Weib und Kinder waren an den Bettelstab gebracht. Umsonst suchte sein Herr ihm wenigstens die Hälfte davon wieder aufzudringen; er verdiente diese Strafe, sagte er, und könne nicht anders hoffen, seine Seele zu retten. Er wollte nun von vorn anfangen, wie er damals würde haben tun müssen, zu versuchen, ob er mit nichts als seiner Hände Arbeit etwas für seine Kinder ausrichten könnte. Diese Geschichte tat ihre Wirkung. Der Vormund kam und brachte mir folgenden Tages das unterschlagene Geld mit der Bitte, es dem Mädchen, das Braut war, unter fremdem Namen als ein Geschenk zuzustellen. Ich sah ihm ins Gesicht und warf's ihm vor die Füße. ›Blutgeld‹, sagte ich, ›ist's, sobald Ihr damit den Himmel wiederkaufen wollt, den Ihr verloren habt.[345] Ihr habt nicht Menschen, sondern Gott gelogen.‹ – Es fehlte nicht viel, so wär er bei diesen Worten, deren er sich nicht versah, ohnmächtig niedergefallen. Ich ging aus dem Zimmer und ließ ihn allein. Erst nach einer halben Stunde war er fortgegangen. Den andern Tag ließ er mich zu sich rufen, er läge krank und glaubte den Tag nicht zu überleben. Als ich in die Stube trat, fragt' er mich mit gefaltenen Händen, was ich wollte, daß er tun sollte. Hier hielt ich's für Zeit, ihm zu predigen, daß die Gerechtigkeit nichts als die Austeilerin der Liebe sein darf, daß keine Liebe ohne Gerechtigkeit bestehen könne, daß es aber eine Gerechtigkeit ohne Liebe gäbe, in die sich der Teufel kleidet, wenn er als Engel des Lichts erscheint. Gestohlenes Gut wiedererstatten, um nicht verdammt zu werden, hieße ebensoviel, als einem Menschen die Kehle nicht abschneiden, weil die Büttel hinter uns dräuten. Sich aber auf diese Wiedererstattung was zugute tun, hieße Gott betrügen wollen, der nicht zu betrügen ist. Er weinte und fragte, was er tun sollte. Ich sagte: ›Fragt Euer Herz und dann gebt Ihr mit Aufrichtigkeit ohne Furcht und ohne Zwang so viel, als dieses Euch heißen wird, und seid versichert, daß Gott nicht das Opfer ansehen werde, sondern die Gesinnung, mit der es geopfert ward.‹ Er hat, wie ich höre, seitdem mit den jungen Eheleuten sich assoziiert, ihnen ein Stück seines Ackers zu bauen umsonst überlassen und will mit aller Gewalt, daß sie auch mit ihm ein Haus beziehen sollen, wo er für nichts als den Tisch Bezahlung nehmen will.«

»Ja, das gelingt einmal«, sagte der Spezial. »Das gelingt immer«, sagte ich. »Nur unser Unglaube an die Menschheit macht, daß sie so böse ist. Ohne eine gewisse Anlage zum Guten können ja die tierischen Operationen in dem Menschen nicht einmal vor sich gehen, es kommt also darauf an, daß wir diese treffen, so haben wir den halben Weg zu seiner Besserung gewonnen.

Und welches Mittel ist kräftiger, uns über die andere Hälfte zu bringen, als wenn wir ihm Schaden und Vorteil zu zeigen wissen, wie sie in die Moralität seiner Handlungen verflochten sind. Daß alle Arbeit sich geschwinder fördert, wenn die Kräfte rein gestimmt sind, daß der Geist tausend Springfedern des[346] Glücks entdeckt, wenn er frei von Furcht und Gewissensangst alles um sich her mit Liebe ansieht, daß die Liebe dem Feuer der Sonne gleiche, durch welches die ganze Natur ihr Dasein erhält usf.«

»Ich frage Sie nur«, versetzte der Spezial, »ob Sie Seelsorger oder Verwalter Ihrer Gemeine sind.«

»Beides«, antwortete ich.

»Ich frage Sie nur, ob die Seelen Ihrer Gemeine dadurch gebessert werden, wenn sie wissen, wie sie ihren Acker zu bestellen, ihre Wiesen zu wässern haben.«

»Wäre es auch nichts weiter, Herr Propst, als daß ich durch Mitteilung dieser Kenntnisse eine Herrschaft über ihre Seelen erlangte und heilsameren Wahrheiten den Weg bahnte, so müßte diese Methode schon alle Ehrfurcht verdienen. Wenn ich nun aber meiner Gemeine noch überdem durch mein Beispiel weise, wie die Sorge fürs Zeitliche mit dem Gefühl für andere und deren Glück zu vereinigen, und ich nicht weiter anzusehen als ein Haushalter, dem mehrere Macht anvertrauet worden, Menschen sowohl durch Mitteilen und Vorschuß meiner Güter als meiner Kenntnisse und Erfahrungen glücklicher zu machen, von dem also auch mehr gefodert wird; wenn ich außer den sonntäglichen noch alle Mittwoch und Sonnabend Versammlungen in meinem Hause, jedesmal von einer andern Partei Bürger, halte, um auf ihre Sitten und Geschmack zu wirken, weil auch der Landmann, um glücklich zu sein, seinen Geschmack haben muß, in diesen bald etwas aus der Zeitung, bald etwas aus einer andern periodischen Schrift, das faßlich für sie ist, bald aus einem guten Roman von Goldsmith oder Fielding eine ihnen begreifliche Stelle vorlese und alle diejenigen von dieser Gesellschaft ausschließe, die sich irgendeiner Lieblosigkeit schuldig gemacht; wenn ich des Sonntags selbst mit wirtschaftlichen Dingen geistliche bald vermische, bald abwechsle, bald bloß in die Besserung und in den Anbau des Herzens und der Liebe übergehe.« –

Hier nahm der Spezial seinen Hut und ging fort, und bis dato ist mir noch keine Erinnerung geschehen.

Fußnoten

1 Siehe den ersten Teil [siehe hier].


2 Im Tode Abels.


Quelle:
Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke in einem Band. Berlin und Weimar 21975.
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