Jakob Michael Reinhold Lenz

Über die Natur unsers Geistes

Eine Predigt über den Prophetenausspruch:

Ich will meinen Geist ausgießen über alles Fleisch vom Laien

Ich will mich hier in keine metaphysischen Untersuchungen einlassen, nur das Brauchbarste sagen, was unsern Geist in der zu seinem Glück notwendigen Spannung zu erhalten vermögend ist.

Jemehr ich in mir selbst forsche und über mich nachdenke, destomehr finde ich Gründe zu zweifeln, ob ich auch wirklich ein selbstständiges von niemand abhangendes Wesen sei, wie ich doch den brennenden Wunsch in mir fühle. Ich weiß nicht der Gedanke ein Produkt der Natur zu sein, das alles nur ihr und dem Zusammenlauf zufälliger Ursachen zu danken habe, das von ihren Einflüssen lediglich abhange und seiner Zerstörung mit völliger Ergebung in ihre höheren Ratschlüsse entgegensehen müsse, hat etwas Schröckendes – Vernichtendes in sich – ich weiß nicht wie die Philosophen so ruhig dabei bleiben können.

Und doch ist er wahr! – Aber mein traurendes, angsthaftes Gefühl darüber ist eben so wahr. Ich appelliere an das ganze menschliche Geschlecht, ist es nicht das erste aller menschlichen Gefühle, das sich schon in der Windel und in der Wiege äußert – unabhängig zu sein.

Wie denn, ich nur ein Ball der Umstände? ich – ? ich gehe mein Leben durch und finde diese traurige Wahrheit hundertmal bestätigt. Wie kommt es aber, daß wenn ich meine Schicksale erzähle, ich alle mei nen Witz aufbiete, meine Schicksale so viel ich nur kann, mir unterzuordnen, meiner Klugheit, meiner Würksamkeit, woher kommt denn die Gewissensangst die ich zugleich dabei fühle, du[572] hast vielleicht nicht soviel dazu beigetragen als du dir einbildest – die Mühe mit der ich diese Skrupel zu überwinden, hundert kleine Zwischenfälle zu vergessen suche, um mich selbst mit dem stolzen Gedanken zu täuschen, das tatst du, das wirktest du, nicht das wirkte die Natur, oder der Zusammenstoß fremder Kräfte. Dieser Stolz – was ist er? wo wurzelt er?

Sollte er nicht ein Wink von der Natur der menschlichen Seele sein, daß sie eine Substanz die nicht selbständig geboren, aber ein Bestreben ein Trieb in ihr sei sich zur Selbstständigkeit hinaufzuarbeiten, sich gleichsam von dieser großen Masse der in einander hangenden Schöpfung abzusondern und ein für sich bestehendes Wesen auszumachen, das sich mit derselben wieder nur soweit vereinigt, als es mit ihrer Selbstständigkeit sich vertragen kann. Wäre also nicht die Größe dieses Triebes das Maß der Größe des Geistes – wäre dieses Gefühl über das die Leute so deklamieren, dieser Stolz nicht der einzige Keim unsrer immer im Werden begriffenen Seele, die sich über die Welt die sie umgibt zu erhöhen und einen drüber waltenden Gott aus sich zu machen bestrebt ist. Können die Helvetiusse und alle Leute die so tief in die Einflüsse der uns umgebenden Natur gedrungen sind, sich selbst dieses Gefühl ableugnen das das aus ihnen gemacht hat was sie geworden sind?

Die allerunabhängigste Handlung unsrer Seele scheint das Denken zu sein – es war der einzige Rat den die ohnmächtige menschliche Weisheit oder Erfahrenheit bekümmerten Unglücklichen geben konnte, sie sollten über die Natur ihres Unglücks nachdenken, philosophieren – das heißt sich gewissermaßen über ihre Umstände hinaussetzen, und den Schwung der Unabhängigkeit gegeben. So sehr man auch wider diesen Trost der Stoiker deklamiert hat, so ist er doch nicht so ungegründet, wenn man nur Stärke genug hat die Probe zu machen, welche Stärke eben sich nur in sich selbst vermehren kann. Und die[573] Erfahrung hat's zu allen Zeiten bewiesen, daß es solche Leute gab, bei denen ihr Stolz (gütige Gabe des Himmels) das Gegengewicht gegen die schmerzhaftesten Gefühle hielt. Es muß also dieses Gefühl das angenehmste beglückendste – und auch unentbehrlichste in der ganzen menschlichen Natur sein, weil wir im Stande sind, ihm alle mögliche andere angenehme Gefühle aufzuopfern.

Daher die allgemeine Meinung aller Menschen von dem Vorzug des Denkens. Jeder glaubt, sobald er denkt sei er über alles hinausgesetzt, was ihm auch nur immer begegnen mag. Und in der Tat er ist's – er kann freilich die unangenehmen Gefühle seines Zustandes nicht ableugnen, aber er findt eine Kraft in sich, ihnen das Gegengewicht zu halten, dieses Gefühl schmeichelt ihm mit einem größern Wert, je heftiger die Schmerzen um ihn wüten und er wird immer mehr Gott in seinen Augen, je weniger die äußerste Wut seines Schicksals seinen innern Frieden zu stören vermögend ist.

Es geht aber hier gemeiniglich ein seltsamer Selbstbetrug bei den meisten Denkern oder Philosophen vor. Sie glauben ihre Independenz auf den höchsten Grad getrieben zu haben, wenn sie ihre Aufmerksamkeit von den sie affizierenden Gegenständen abzuziehen und entweder auf sich selbst oder andere gleichgültige Dinge zu richten vermögend sind. Sie glauben dadurch an Wert gewonnen zu haben, wenn sie ihre Seele stumpf machen und einschläfern, anstatt durch innere Stärke den äußern unangenehmen Eindrücken das Gegengewicht zu halten. Das Gefühl von Leere in ihrer Seele das daher entsteht, straft sie genug und sie haben beständig alle Hände voll zu tun, ihrem zu Boden sinkenden Stolz wieder emporzuhelfen. Sie fühlen es daß sie sich ihren unangenehmen Empfindungen nicht entziehen können ohne Wüste und Leere in der Seele zu haben und der Zustand der Streit ist marterhafter als die unangenehmen Empfindungen selbst.

Denken heißt nicht vertauben – es heißt, seine unangenehmen[574] Empfindungen mit aller ihrer Gewalt wüten lassen und Stärke genug in sich fühlen, die Natur dieser Empfindungen zu untersuchen und sich so über sie hinauszusetzen. Diese Empfindungen mit vergangenen zusammenzuhalten, gegeneinander abzuwägen zu ordnen und zu übersehen. Da erst kann man sagen, man fühle sich – und wenn solch ein Strauß überstanden ist, bekommt der Mensch, oder des Menschen Geist eine Festigkeit die ihm für die Ewigkeit und Unzerstörbarkeit seiner Existenz Bürge wird. Glücklich da erst, mit der Überzeugung sich selbst dieses Glück zu danken zu haben.

So, möcht ich sagen erschafft sich die Seele selber und somit auch ihren künftigen Zustand. So lernt sie Verhältnis der Dinge zu sich selber – und zugleich Gebrauch und Anwendung dieser Dinge zur Verbesserung ihres äußern Zustandes finden. So sondert sie sich aus dem maschinenhaftwirkenden Haufen der Geschöpfe ab und wird selbst Schöpfer, mischt sich in die Welt nur in so fern als sie es zu ihrer Absicht dienlich erachtet, je größer ihre Stärke desto größer ihre freiwillige Teilnehmung, ihre verhältnismäßige Einmischung, ihr nachmaliger Schöpfungs- und Wirkungskreis. So gründet sich all unsere Selbstständigkeit all unsre Existenz auf die Menge den Umfang die Wahrheit unsrer Gefühle und Erfahrungen, und auf die Stärke mit der wir sie ausgehalten, das heißt über sie gedacht haben oder welches einerlei ist, uns ihrer bewußt geworden sind.

Unsere Unabhängigkeit zeigt sich aber noch mehr im Handeln als im Denken, denn beim Denken nehm ich meine Lage mein Verhältnis und Gefühle wie sie sind, beim Handeln aber verändere ich sie wie es mir gefällt. Um vollkommen selbstständig zu sein, muß ich also viel gehandelt, das heißt meine Empfindungen und Erfahrungen oft verändert haben. Ist dies nach gewissen Gesetzen der allgemeinen Harmonie geschehen, so nennen wir das gut handeln, im entgegenstehenden[575] Fall böse. Diese Harmonie läßt sich aber eher fühlen als bestimmen. Denn welcher Verstand ist soweit durchgedrungen – und was müßte er für einen Weg gemacht haben, um dahin zu kommen? Böse Handlungen geben sich gleich zu erkennen durch die dadurch verursachten quälenden Gefühle, deren Deutlichkeit der Mensch aufhalten, die er aber nie ganz vertilgen kann.

Christus lebte nach einem Plan um allgemeiner Gesetzgeber zu werden, er lebte um zu leiden und zu sterben. Seine Gefühle müssen unaussprechlich gewesen sein, er hatte sich in einen Standpunkt gestellt das Elend einer ganzen Welt auf sich zu konzentrieren und durchzuschauen. Aber das konnte auch nur ein Gott –

Er handelte – er veränderte seine Lage- aber immer tiefer hinab, bis er mit dem tiefsten beschloß, schimpflicher Tod – Alles was die menschliche Natur Zärtliches empfinden kann, fühlte er von Freundschaft, von inniger Männer-Hochachtung, von der reinsten weiblichen Liebe, von der vollkommensten Gunst der Gottheit, die sich mit ihm vereinigte – aber auch alles was die menschliche Natur Banges und Schröckhaftes ahnden kann von Undankbarkeit, Vernachlässigung, Vereinzelung, Verachtung, grimmigsten Haß Neid und Rache einer ganzen Welt um ihn her, Rache die sich am Tode nicht sättigte, sondern auch das Leben nach dem Tode, das hochachtungsvolle Andenken der Nachwelt auf ewig rauben wollte – ach ich kann dies beklemmende Bild nicht auszeichnen, der Pinsel zittert mir in den Händen und die Augen versagen ihren Dienst.

Das ist das Bild das wir sehen, soll ich euch ein anderes aufdecken, das nur dem Auge der Engel sichtbar werden kann. Das war der leidende Mensch, soll ich euch den leidenden Gott weisen. Dessen Blick in die geheimsten Schlupfwinkel aller menschlichen Herzen drang, ihr Elend da heraushob und es an seinen Busen beherbergte. Dessen göttliches Mitleiden das ganze unglückliche Gewebe jeder[576] Menschenseele durchdrang und mit den Pharisäern wütete und fürchtete, mit Ischariot bereute und verzweifelte. Ach wie wenig verstehen die Ausleger die Leidensgeschichte und den Sinn und das Pathos der Worte: Aber einer unter euch ist ein Teufel. Jesus Christus wie unerkannt ist deine göttliche Gestalt unter den Menschen, deine niedrige, verachtete, zertretene Knechtsgestalt – unter keiner andern konnte ein Gott erscheinen.

Ein Diener aller – und doch verraten – und doch fühlbar für den Verräter – so daß das sein größtes Leiden ausmachte –


Da seine Selbstständigkeit zu behalten, im Tode selbst der nun alles mit Schimpf beschließt mit der heitersten Gegenwirkung zu rufen: Es ist vollbracht – und so rette ich meinen Geist in deine Hände –

Gott, daß du uns nicht mehr solchen Proben aussetzest, sie übersteigen die menschlichen Kräfte. Unser Stolz unser Stolz, das einzige Gut das du uns gegeben hast um uns selbst dadurch dir nah zu bringen – wir können ihn so ganz nicht aufopfern, wir würden wenigstens an die Nachwelt appellieren. Alle Märtyrer sind eines rühmlichen Todes gestorben, Christus allein eines schändlichen. Als ein Verführer als ein Empörer mit allen Anzeigen der Wahrscheinlichkeit – ohne sich drüber zu verteidigen – ohne sich seiner hohen Bestimmung nach verteidigen zu können – das konnte nur der Mensch in dem die Fülle der Gottheit war, die niemals eine Verteidigung braucht und die wir nur verteidigen um uns glücklicher zu machen.

Zugleich hat er uns ein Symbol geben wollen, was den vollkommenen Menschen mache und wie der nur durch allerlei Art Leiden und Mitleiden werde und bleibe. Denn seine Auferstehung und Auffahrt sind nur Fortsetzung dieses selben großen Plans zu leiden und zu handeln.[577]

Das allerhöchste Leiden ist Geringschätzung. Nicht höher kann das Leiden irgend eines sterblichen Menschen steigen als das Leiden Christi da er als ein gefährlicher Mensch angesehen eingezogen und gestraft wurde und man doch nicht mehr als dreißig Silberlinge auf seinen Kopf setzte. Ihn nicht auf das Fest greifen, sondern so ganz in der Stille und gleichsam daß kein Hund oder Hahn darnach krähte von der Welt schaffen wollte. Ein Gott der auf der ganzen Erde Revolutionen zu machen die Kraft und den Beruf in sich spürte, so gleichsam wie ein aufschießendes Unkraut in der Geburt erstickt zu werden. So ging es ihm schon unterm Herodes und sein ganzes Leben hin durch und das ist das Schicksal aller Rechtschaffenen. Ein Bösewicht hat wenigstens die Genugtuung daß er von sich reden macht wenn er auch mit Schande und Schmach beschließet, daß viele sich vor ihm fürchten und alles aufbieten ihm entgegen zu streben, bei Christo aber schien es den Pharisäern nicht der Mühe zu lohnen sich in große Unkosten zu setzen – und sein eigener Freund und Anhänger also sein Bewunderer – verriet ihn um diese Kleinigkeit. Denkt euch das Herz das dieses fühlen mußte.

Quelle:
Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Schriften. Band 1, Stuttgart 1965–1966, S. 572-578.
Entstanden 1771/73, Erstdruck in: M.N. Rosanow: J.M.R. Lenz, Leipzig 1909.
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