Sechstes Kapitel

[369] Scipio sucht Gil Blas im Turm von Segovia auf und bringt ihm viele Nachrichten


Eines Tages wurde unsre Unterhaltung durch den Eintritt Tordesillas' unterbrochen. Herr Gil Blas, sagte er, ich habe soeben mit einem jungen Mann gesprochen, der sich am Tor des Gefängnisses eingefunden hat. Er fragte mich, ob Ihr nicht hier als Gefangener seiet; und als ich mich weigerte, seine Neugier zu befriedigen, sagte er mit Tränen in den Augen: Edler Burgherr, schlagt meine demütige Bitte nicht ab und sagt mir, ob der Herr von Santillana hier ist. Ich bin sein erster Diener, und Ihr tut ein gutes Werk, wenn Ihr mir erlaubt, ihn zu sehn. Ihr geltet in Segovia als ein milder Edelmann; ich hoffe, Ihr werdet mir die Gunst nicht versagen, mich mit meinem teuren Herrn, der mehr unglücklich ist als schuldig, einen Augenblick zu unterhalten. Kurz, fuhr Don Andreo fort, der Bursche hat mir ein solches Verlangen bezeigt, mit Euch zu reden, daß ich ihm versprochen habe, ihm heute abend seinen Wunsch zu erfüllen.

Ich versicherte Tordesillas, er könnte mir keine größere Freude bereiten, als wenn er mir diesen jungen Mann zuführte, der mir wahrscheinlich sehr wichtige Dinge mitzuteilen hätte. Voll Ungeduld harrte ich des Augenblicks, der mir meinen treuen Scipio vor die Augen führen sollte; denn ich zweifelte nicht mehr, daß er es war, und ich täuschte mich nicht. Man ließ ihn abends ein, und seine Freude, der nur die meine[369] gleichkommen konnte, brach, als er mich sah, in überschwengliche Herzlichkeit aus. Ich meinerseits hielt ihm in meinem Entzücken die Arme hin, und er drückte mich ohne Umstände an seine Brust. Herr und Sekretär machten bei dieser Umarmung keinen Unterschied mehr zwischeneinander, so freuten sie sich des Wiedersehens.

Als wir uns ein wenig beruhigt hatten, fragte ich Scipio, in welchem Zustand er mein Haus verlassen habe. Ihr habt kein Haus mehr, erwiderte er, und um Euch die Mühe zu ersparen, daß Ihr mich Punkt für Punkt ausfragt, will ich Euch in ein paar Worten sagen, was bei Euch vorgegangen ist. Eure Sachen sind zum Teil von Häschern, zum Teil von Euren eigenen Dienstboten geplündert worden, die Euch schon als völlig verloren ansahen und auf Rechnung ihres Lohns genommen haben, was sie fortschleppen konnten. Zu Eurem Glück bin ich gewandt genug gewesen, zwei Säcke mit Dublonen ihren Krallen zu entreißen; ich habe sie aus Eurem Geldschrank genommen, und sie sind in Sicherheit. Salero, bei dem ich sie deponiert habe, wird sie Euch einhändigen, wenn Ihr aus diesem Turm herauskommt; ich glaube, Ihr werdet nicht lange auf Kosten des Königs hier leben, weil Ihr ohne Wissen des Herzogs von Lerma verhaftet wurdet.

Ich fragte Scipio, woher er wisse, daß Seine Exzellenz an meiner Ungnade keinen Teil habe. Oh, das weiß ich ganz sicher, erwiderte er. Einer meiner Freunde, der das Vertrauen des Herzogs von Used besitzt, hat mir alle Umstände Eurer Gefangennahme erzählt. Calderone, sagt er, hat durch einen Diener entdeckt, daß die Señora Sirena während der Nacht unter einem andern Namen den Prinzen von Spanien empfing und daß der Graf von Lemos diese Intrige durch Vermittlung des Herrn von Santillana leitete; und so beschloß er, sich an ihnen und an seiner Geliebten zu rächen. Zu dem Zweck suchte er heimlich den Herzog von Used auf und offenbarte ihm alles. Der Herzog war entzückt, daß er endlich[370] eine so schöne Gelegenheit in der Hand hatte, seinen Feind zu verderben. Er meldete dem König, was man ihm mitgeteilt hatte, und stellte ihm lebhaft vor, welchen Gefahren der Prinz ausgesetzt gewesen sei. Diese Nachricht erregte den Zorn Seiner Majestät, die Sirena sofort in das Haus der Büßerinnen einschließen ließ, den Grafen von Lemos verbannte und Gil Blas zu ewiger Gefangenschaft verurteilte.

So viel, fuhr Scipio fort, hat mein Freund mir gesagt. Ihr seht daraus, daß Euer Unglück das Werk des Herzogs von Used oder besser Calderones ist.

Ich schloß aus Scipios Worten, daß die Verhältnisse sich mit der Zeit vielleicht wieder bessern könnten; daß der Herzog von Lerma, verletzt durch die Verbannung seines Neffen, alles ins Werk setzen würde, um diesen Edelmann wieder an den Hof zu ziehn, und ich schmeichelte mir, Seine Exzellenz würde mich dabei nicht vergessen. Wie schön die Hoffnung ist! Sie tröstete mich sofort über den Verlust des mir gestohlenen Gutes und machte mich so lustig, als hätte ich Grund gehabt, es zu sein. Statt mein Gefängnis als eine Unglücksstätte anzusehn, in der ich vielleicht meine Tage beschließen sollte, erschien es mir vielmehr als ein Mittel, dessen das Schicksal sich bedienen wollte, um mich zu irgendeiner hohen Stellung zu erheben. Mein Gedankengang lief so: Der erste Minister hat Don Fernando de Borgia, den Pater Hieronymo de Firenze und vor allem den Frater Luis d'Alliaga, der ihm seine Stellung beim König verdankt, zu Parteigängern. Mit Hilfe dieser mächtigen Freunde wird Seine Exzellenz alle ihre Feinde vernichten, oder aber der Staat wird bald sein Angesicht ändern. Seine Majestät ist sehr kränklich. Sowie sie nicht mehr lebt, wird der Prinz, sein Sohn, den Grafen von Lemos sofort zurückrufen, der mich alsdann befreien und dem neuen Monarchen vorstellen wird; der aber wird mich, um mich für die überstandenen Leiden zu entschädigen, mit Wohltaten überhäufen. So also, ganz erfüllt[371] schon von den Genüssen der Zukunft, fühlte ich die gegenwärtigen Leiden kaum noch. Ich glaube aber gern, daß die beiden Säcke mit den Dublonen, die mein Sekretär dem Goldschmied in Verwahrung gegeben hatte, an dem plötzlichen Wandel, der sich in mir vollzog, ebensoviel teilhatten wie die Hoffnung.

Ich war viel zu zufrieden mit Scipios Eifer und Treue, als daß ich es ihm nicht gezeigt hätte. Ich bot ihm die Hälfte des Geldes an, das er aus der Plünderung gerettet hatte; er aber lehnte sie ab. Ich erwarte von Euch, sagte er, ein andres Zeichen der Erkenntlichkeit. Ebenso erstaunt über seine Worte wie seine Ablehnung, fragte ich, was ich für ihn tun könne. Wir wollen uns nicht mehr trennen, erwiderte er. Erlaubt, daß ich mein Schicksal an Eures binde. Ich hege für Euch eine Freundschaft, wie ich sie noch für keinen Herrn empfunden habe. Und ich, sagte ich, mein Junge, ich kann dir versichern, daß du keinen Undankbaren liebst. Vom ersten Augenblick an hast du mir gefallen. Wir müssen unter der Waage oder unter den Zwillingen geboren sein, denn man sagt, das seien die Sternbilder, die die Menschen verbinden. Gern nehme ich die Verbindung an, die du mir vorschlägst, und um sie gleich zu beginnen, will ich den Burgherrn bitten, dich mit mir in diesen Turm einzuschließen. Das soll mich freuen, rief er: Ihr kommt mir zuvor, ich wollte Euch schon beschwören, ihn um diese Gunst zu bitten. Eure Gesellschaft ist mir mehr wert als die Freiheit. Ich will nur zuweilen hinausgehen, um in Madrid die Schreibstubenluft zu atmen und zu sehn, ob bei Hofe nicht eine Änderung eintritt, die Euch günstig sein kann. So werdet Ihr in mir zugleich einen Vertrauten, einen Kurier und einen Spion haben.

Diese Vorteile waren zu beträchtlich, als daß ich mich ihrer hätte berauben mögen. Ich behielt also mit der Erlaubnis des liebenswürdigen Burgherrn, der mir einen so süßen Trost nicht versagen wollte, diesen nützlichen Menschen bei mir.

Quelle:
Le Sage, Alain René: Die Geschichte des Gil Blas von Santillana. Wiesbaden 1957, S. 369-372.
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