Zwölftes Kapitel

[500] Gil Blas kehrt in sein Schloß zurück. Von seiner Freude, als er seine Patin Seraphine mannbar vorfindet, und in welche Dame er sich verliebte


Ich verwandte vierzehn Tage auf die Reise nach Lirias, da mich nichts zur Eile trieb; ich wünschte einzig, wohlbehalten anzukommen, und mein Wunsch erfüllte sich. Der Anblick meines Schlosses flößte mir zunächst einige traurige Gedanken ein, da er mich an Antonia erinnerte; aber bald verbannte ich diese Gedanken, da ich mich nur mit dem befassen wollte, was mir Freude machen konnte; und dann hatten die zweiundzwanzig Jahre, die seit Antonias Tode hingegangen waren, die Empfindung sehr geschwächt.[500]

Als ich ins Schloß einzog, kamen Beatrix und ihre Tochter herbei, um mich erfreut zu begrüßen; Vater, Mutter und Tochter umarmten sich unter stürmischen Äußerungen der Freude. Nach all den Umarmungen sagte ich, indem ich meine Patin, die ich sehr reizend fand, aufmerksam ansah: Ist es möglich, daß dies die Seraphine ist, die ich beim Aufbruch aus Lirias in der Wiege zurückließ! Ich bin entzückt, sie so groß und hübsch wiederzusehn; wir müssen daran denken, sie zu versorgen. Wie! mein teurer Pate, rief meine Patin, indem sie über meine letzten Worte leicht errötete, Ihr seht mich erst einen Augenblick, und schon denkt Ihr daran, Euch meiner zu entledigen! Nein, meine Tochter, erwiderte ich, wir denken Euch nicht zu verlieren, wenn wir Euch verheiraten; wir wollen einen Mann, der Euch besitzt, ohne daß er Euch Euren Eltern entführt, und er sozusagen bei uns lebt.

Ein solcher hat sich schon eingefunden, sagte Beatrix da. Ein Edelmann dieser Gegend hat Seraphine eines Tages in der Kapelle des Fleckens gesehn und sich in sie verliebt. Er hat mich aufgesucht, mir erklärt, daß er meine Tochter liebe, und um meine Einwilligung gebeten; Ihr könnt Euch denken, was ich ihm geantwortet habe. Wenn Ihr meine Einwilligung habt, habe ich ihm gesagt, so seid Ihr darum noch nicht weiter; Seraphine hängt von ihrem Vater und ihrem Paten ab, die allein über sie verfügen können; alles, was ich für Euch tun kann, ist, daß ich an sie schreibe und ihnen von Eurer Werbung, die meine Tochter ehrt, Mitteilung mache. Und wirklich wollte ich Euch, meine Herren, unverzüglich davon benachrichtigen; aber nun seid Ihr heimgekehrt, und Ihr werdet tun, was Ihr für gut haltet.

Und, sagte Scipio, welchen Charakter hat dieser Hidalgo? Ist er nicht wie die meisten seinesgleichen? Ist er nicht stolz auf seinen Adel und unverschämt gegen Bürgerliche? O nein, erwiderte Beatrix, er ist ein Mann von vollendeter Gesittung[501] und Höflichkeit, übrigens von guter Erscheinung und noch nicht ganz dreißig Jahre alt. Ihr entwerft uns, sagte ich zu Beatrix, ein recht schönes Bild von diesem Kavalier; wie heißt er? Don Juan de Jutella, erwiderte Scipios Frau; er hat vor nicht langem die Erbschaft seines Vaters angetreten, und er lebt in seinem Schloß, eine Stunde von hier entfernt, mit einer jüngern Schwester, deren Vormund er ist. Ich habe, sagte ich, früher einmal von der Familie dieses Edelmanns gehört; sie ist eine der edelsten im Königreich Valencia. Ich schätze, rief Scipio aus, den Adel geringer als gute Eigenschaften des Herzens und des Geistes; und dieser Don Juan soll uns willkommen sein, wenn er ein Ehrenmann ist. Er steht im Ruf eines solchen, sagte Seraphine, indem sie in das Gespräch eingriff; die Einwohner von Lirias, die ihn kennen, sagen ihm alles Gute nach. Bei diesen Worten meiner Patin blickte ich mit einem Lächeln auf den Vater, der sie so gut verstanden hatte wie ich und sich dachte, daß der Liebhaber seiner Tochter nicht mißfiel.

Bald hörte der Kavalier von unserer Ankunft in Lirias, und zwei Tage darauf sahen wir ihn schon im Schloß erscheinen. Er begrüßte uns höflich; und statt durch sein Auftreten Beatrix Lügen zu strafen, flößte er uns eine hohe Meinung von seinem Charakter ein. Er sagte, er komme als Nachbar, um uns zu unsrer glücklichen Heimkehr zu gratulieren. Wir nahmen ihn so liebenswürdig wie möglich auf, aber der Besuch war ein reiner Höflichkeitsbesuch; er verging unter beiderseitigen Komplimenten; und ohne ein Wort von seiner Liebe zu Seraphine zu sagen, zog Don Juan sich zurück, indem er uns nur bat, ihm zu erlauben, daß er wiederkommen und eine Nachbarschaft ausnutzen dürfe, die ihm so viel Annehmlichkeiten verspreche. Als er fort war, fragte Beatrix uns, was wir von diesem Edelmann hielten. Wir entgegneten, er hätte uns sehr für sich eingenommen, und uns schiene, das Schicksal könnte Seraphine keine bessere Partie bieten.[502]

Gleich am folgenden Tage erwiderte ich mit Scipio Don Juans Besuch. Unter der Leitung eines Führers schlugen wir den Weg zu seinem Schlosse ein, und nach einer dreiviertel Stunde sagte uns der Bauer: Da liegt das Schloß des Herrn Don Juan de Jutella. Wir sahen uns im ganzen Felde um und konnten es lange nicht finden; erst als wir da waren, entdeckten wir es, denn es lag am Fuß eines Berges mitten in einem Walde, dessen hohe Bäume es unsern Blicken verbargen. Es sah alt und verfallen aus und bewies weniger den Wohlstand seines Herrn als seinen Adel. Aber als wir eintraten, sahen wir, daß die Gebrechlichkeit des Baues durch die Sauberkeit der Möbel wettgemacht wurde.

Don Juan empfing uns in einem schön geschmückten Saal, wo er uns eine Dame vorstellte, die er seine Schwester Dorothea nannte und die etwa neunzehn bis zwanzig Jahre alt sein mochte. Sie war sehr geputzt, wie jemand, der unsern Besuch erwartet hatte und uns reizend erscheinen wollte; und als sie sich mit all ihren Reizen meinen Blicken darbot, machte sie denselben Eindruck auf mich wie Antonia, das heißt, ich wurde verlegen; aber ich verbarg meine Befangenheit so gut, daß selbst Scipio sie nicht bemerkte. Unsere Unterhaltung drehte sich wie am Tage zuvor darum, daß wir uns gegenseitig das Vergnügen machen wollten, uns zuweilen zu besuchen und als gute Nachbarn miteinander zu leben. Er sprach uns auch diesmal noch nicht von Seraphine, und wir sagten nichts, was ihn dazu hätte veranlassen können, seine Liebe zu ihr zu erwähnen. Während unsrer Unterhaltung warf ich oft den Blick auf Dorothea, während ich so tat, als sähe ich sie so wenig wie möglich an; und sooft meine Blicke den ihren begegneten, sandte sie mir neue Pfeile ins Herz. Um aber dem geliebten Wesen streng gerecht zu werden, so will ich doch sagen, saß sie keine vollkommene Schönheit war: war ihre Haut von blendender Weiße und ihr Mund rosiger als die Rose, so war ihre Nase ein wenig zu[503] lang und ihre Augen ein wenig zu klein; aber das Gesamtbild bezauberte mich.

Kurz, ich verließ das Schloß Jutella nicht, wie ich es betreten hatte; und als ich nach Lirias zurückkehrte, ganz erfüllt von Dorothea, da sah ich nur sie und sprach nur von ihr. Wie! teurer Herr, sagte Scipio, indem er mich erstaunt ansah, Ihr beschäftigt Euch sehr mit Don Juans Schwester! Hätte sie Euch Liebe eingeflößt? Ja, mein Freund, erwiderte ich, und ich errötete vor Scham. O Himmel! ich, der ich seit Antonias Tode gleichgültig tausend hübsche Personen gesehen habe, muß noch einer begegnen, die mich in meinem Alter, ohne daß ich mich wehren kann, entflammt! Nun, gnädiger Herr, sagte Scipio, Ihr solltet Euch Glück wünschen, statt zu klagen; Ihr steht in einem Alter, in dem es noch nicht lächerlich ist, in Liebesglut zu brennen, und die Zeit hat Eure Stirn noch nicht so sehr gewelkt, daß Ihr nicht mehr hoffen könntet zu gefallen. Glaubt mir, wenn Ihr Don Juan wiederseht, so bittet ihn kühnlich um seine Schwester: er kann sie einem Mann wie Euch nicht abschlagen; und wenn der Gatte Dorotheas denn durchaus ein Edelmann sein muß, seid Ihr es nicht? Ihr habt Euren Adelsbrief, das genügt für Eure Nachkommenschaft. Wenn die Zeit über diesen Brief jenen dichten Schleier gelegt hat, der den Ursprung aller Häuser deckt, nach vier oder fünf Generationen, dann wird das Geschlecht von Santillana zu den erlauchtesten zählen.

Quelle:
Le Sage, Alain René: Die Geschichte des Gil Blas von Santillana. Wiesbaden 1957, S. 500-504.
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