Elftes Kapitel

[42] Durch welchen Zufall Gil Blas schließlich aus dem Kerker befreit wurde und wohin er ging


Während ich meine Tage damit hinbrachte, daß ich mich in meinen Gedanken aufzuheitern suchte, verbreiteten sich meine Abenteuer, wie ich sie zu Protokoll gegeben hatte, in der Stadt. Manche Leute wollten mich aus Neugier sehn. Sie kamen, einer nach dem andern, an ein kleines Fenster, durch das das Licht in mein Gefängnis fiel, und wenn sie mich eine Weile betrachtet hatten, gingen sie wieder davon. Ich wunderte mich darüber und entnahm diesem Umstand, daß man in der Stadt viel über mich sprach. Aber ich wußte nicht, ob ich das als gutes oder als schlimmes Omen ansehn sollte.

Als einer der ersten zeigte sich meinen Augen der kleine Kantor[42] aus Mondognedo, der sich wie ich vor der Folter gefürchtet hatte und geflohen war. Ich erkannte ihn, und er leugnete nicht, daß auch er mich wiedererkenne. Wir grüßten uns und spannen eine lange Unterhaltung an. Ich mußte meine Abenteuer von neuem eingehend erzählen, was auf meine Hörer eine doppelte Wirkung ausübte: ich brachte sie zum Lachen und weckte ihr Mitleid. Der Kantor seinerseits erzählte mir, was im Gasthof zwischen dem Treiber und der jungen Frau vorgefallen war, nachdem uns ein panischer Schrecken verjagt hatte. Als er von mir Abschied nahm, versprach er mir, unverzüglich an meiner Befreiung zu arbeiten. All die Neugierigen versicherten, sie wollten sich dem kleinen Kantor anschließen und ihr möglichstes tun, um mir die Freiheit zu verschaffen.

Wirklich hielten sie ihr Versprechen. Sie sprachen zu meinen Gunsten mit dem Korregidor, und drei Wochen darauf kam er, da er nicht mehr an meiner Unschuld zweifelte, zu mir ins Gefängnis. Gil Blas, sagte er, ich könnte dich hier noch zurückhalten, wenn ich ein strengerer Richter wäre; aber ich will die Dinge nicht in die Länge ziehn: geh, du bist frei, du kannst hinaus, wann du willst. Aber sage doch, fuhr er fort, würdest du, wenn man dich in den Wald führte, die Höhle finden? Nein, Herr, gab ich zur Antwort, da ich zur Nachtzeit dorthin kam und vor Tagesanbruch wegritt, so würde ich die Stelle nicht erkennen. Daraufhin zog der Richter sich zurück, indem er sagte, er werde dem Schließer befehlen, mir die Tore zu öffnen. Wirklich kam nach einigen Minuten der Kerkermeister mit einem seiner Pförtner, der ein Leinwandbündel trug. Sie nahmen mir mit ernster Miene und ohne ein Wort mein Wams und meine Hose, die aus feinem Tuch und noch fast neu waren, ab, zogen mir einen alten Leinenkittel an und stießen mich hinaus.

Meine Bestürzung über den schlechten Anzug störte die Freude des Gefangenen über die wiedererlangte Freiheit. Ich[43] war in Versuchung, die Stadt noch zur Stunde zu verlassen und mich den Augen des Volkes zu entziehn, dessen Blicke mir peinlich waren. Aber die Dankbarkeit siegte über die Scham: ich ging zu dem kleinen Kantor, in dessen Schuld ich stand. Er konnte sich nicht enthalten zu lachen, als er mich sah. Wie seht Ihr denn aus! rief er; ich erkannte Euch in dieser Verkleidung kaum; die Justiz hat Euch, wie ich sehe, hübsch mitgespielt. Ich beklage mich nicht über die Justiz, antwortete ich; ich wollte nur, all ihre Diener wären ehrliche Leute: sie hätten mir zumindest meinen Anzug lassen müssen; mir scheint, ich hatte ihn teuer genug bezahlt. Das gebe ich zu, sagte er; aber man wird Euch sagen, das seien die gebräuchlichen Formalitäten. Meint Ihr denn etwa, man habe Euer Pferd seinem ersten Herrn zurückgegeben? Aber nein, ich bitte sehr; es steht gegenwärtig im Stall des Amtsschreibers ... Aber reden wir von etwas anderm, fuhr er fort; was ist Euer Plan? Ich möchte, gab ich zur Antwort, nach Burgos. Dort will ich die Dame aufsuchen, deren Retter ich gewesen bin; sie wird mir ein paar Pistolen geben; ich kaufe mir eine neue Soutane und reise nach Salamanca, wo ich versuchen will, mein Latein zu Gelde zu machen. Das Schlimme ist nur, ich bin noch nicht in Burgos: ich muß unterwegs auch leben; Ihr wißt, man ißt nicht gut, wenn man ohne Geld reist. Ich verstehe, erwiderte er, und ich biete Euch meine Börse an: freilich ist sie ein wenig schmal; aber Ihr wißt ja, ein Kantor ist noch kein Bischof. Er gab sie mir so liebenswürdig in die Hand, daß ich mich nicht sträuben konnte und sie behielt, wie sie war. Ich dankte ihm, als hätte er mir alles Gold der Welt gegeben, verließ ihn und ging zur Stadt hinaus, ohne die andern, die zu meiner Befreiung beigetragen hatten, aufzusuchen; ich spendete ihnen im stillen tausend Segenssprüche.

Der kleine Kantor hatte recht, wenn er seine Börse nicht rühmte; ich fand nur ein paar Scheidemünzen darin. Zum[44] Glück war ich schon seit zwei Monaten an ein sehr frugales Leben gewöhnt, so daß ich noch ein paar Reale besaß, als ich in dem Flecken Ponte de Mula ankam, der nicht mehr weit von Burgos entfernt ist. Dort machte ich Halt, um mich nach Doña Mencia zu erkundigen. Ich trat in einen Gasthof, den eine kleine, trockene, lebhafte und hagere Frau hielt. Ich sah an ihrer unfreundlichen Miene, daß mein Kittel keineswegs nach ihrem Geschmack war; aber das verzieh ich ihr gern. Ich setzte mich an einen Tisch. Ich aß Käse und Brot und trank ein paar Schluck von einem abscheulichen Wein, den man mir brachte. Während dieser Mahlzeit versuchte ich, mit der Wirtin ein Gespräch anzuknüpfen. Obgleich sie mir durch eine verächtliche Grimasse zu verstehn gab, daß sie meine Unterhaltung verschmähte, bat ich sie, mir zu sagen, ob sie den Marquis de la Guardia kenne; ob sein Schloß vom Flecken weit entfernt sei, und vor allem, ob sie wisse, was aus der Marquise, seiner Frau, geworden sei. Ihr fragt da viel, erwiderte sie voll Hochmut. Aber sie sagte mir doch, wenn auch widerwillig, das Schloß sei nur eine kleine Stunde von Ponte de Mula entfernt.

Als ich gegessen und getrunken hatte, gab ich, da es Nacht geworden war, der Wirtin zu verstehn, daß ich zu ruhen wünschte, und verlangte ein Zimmer. Ein Zimmer, für Euch! sagte sie mit einem geringschätzigen Blick; für Leute, die ein Stück Käse als Abendbrot essen, habe ich keine Zimmer. Meine Betten sind alle bestellt. Ich erwarte vornehme Herren. Ich kann Euch höchstens in die Scheune lassen: es wird wohl nicht das erste Mal sein, daß Ihr auf Stroh zu Bett geht. Sie wußte nicht, wie wahr sie sprach. Ich antwortete nicht und beschloß klüglicherweise, mein Strohlager aufzusuchen, auf dem ich bald einschlief.

Quelle:
Le Sage, Alain René: Die Geschichte des Gil Blas von Santillana. Wiesbaden 1957, S. 42-45.
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