Sechstes Kapitel

[321] Wie Gil Blas dem Herzog von Lerma sein Elend offenbarte, und wie der Minister sich gegen ihn verhielt


Als der König im Eskorial war, bewirtete er dort jedermann, so daß ich nicht mehr fühlte, wo mich der Schuh drückte. Ich schlief neben dem Zimmer des Herzogs in einem Ankleideraum. Als der Minister eines Morgens wie gewöhnlich mit Tagesanbruch aufgestanden war, ließ er mich einige Papiere und ein Schreibzeug holen und befahl mir, ihm in die Gärten des Palastes zu folgen. Wir setzten uns unter ein paar Bäume; dort mußte ich auf Befehl des Herzogs die Stellung eines Menschen annehmen, der als Schreibunterlage seinen Hut benützt, während er ein Blatt Papier in die Hand nahm und tat, als läse er. Aus der Ferne mußten wir mit ernsten Dingen beschäftigt scheinen, aber in Wirklichkeit sprachen wir nur über Bagatellen, denn das tat Seine Exzellenz nicht ungern.

Länger als eine Stunde schon erheiterte ich ihn durch die Einfälle, die meine blühende Laune mir lieferte, als zwei Elstern in die Bäume flogen, die uns mit ihrem Schatten deckten. Sie begannen so geräuschvoll zu schwatzen, daß wir aufmerksam wurden. Die Vögel da, sagte der Herzog, scheinen sich zu zanken. Ich möchte wissen, worüber. Euer Gnaden, sagte ich, Eure Neugier erinnert mich an eine indische Fabel, die ich bei Pilpay oder einem andern Märchendichter gelesen habe. Der Minister fragte nach dieser Fabel, und ich erzählte:

In Persien herrschte ehemals ein guter König, der, weil er nicht genügend Geistesgröße besaß, um selber seine Staaten zu regieren, seinem Großwesir die Sorge dafür überließ. Dieser Minister, der Atalmuk hieß, war ein genialer Mann. Er trug die Last dieser ungeheuren Monarchie, ohne daß sie ihn drückte. Er erhielt sie in tiefem Frieden. Er besaß sogar die Kunst, die königliche Macht, indem er ihr Achtung verschaffte,[322] liebenswürdig zu machen, und die Untertanen hatten in einem dem Fürsten treu ergebenen Wesir einen liebevollen Vater. Unter seinen Sekretären hatte Atalmuk einen jungen Mann aus Kaschmir namens Seangir, den er mehr als die andern liebte. Er fand Gefallen an seiner Unterhaltung, nahm ihn mit auf die Jagd und enthüllte ihm selbst seine geheimsten Gedanken. Eines Tages, als sie zusammen im Walde jagten, sah der Wesir auf einem Baum zwei Krähen, die krächzten, und sagte zu seinem Sekretär: Ich möchte wissen, was diese Vögel in ihrer Sprache sagen. Herr, versetzte der junge Mann, Eure Wünsche lassen sich erfüllen. Ah! wie denn? fragte Atalmuk. Ein zauberkundiger Derwisch, entgegnete Seangir, hat mich die Sprache der Vögel gelehrt. Wenn Ihr wünscht, will ich lauschen und Euch Wort für Wort wiederholen, was sie sagen.

Der Wesir willigte ein. Seangir näherte sich den Krähen und schien ihnen aufmerksam zuzuhören. Dann kehrte er zu seinem Herrn zurück und sagte: Gnädiger Herr, solltet Ihr es glauben? Der Gegenstand ihres Gespräches sind wir. Unmöglich! rief der persische Minister. Und was sagen sie über uns? Die eine, versetzte der Sekretär, sagte: Da ist er selber, der große Wesir Atalmuk, der Schutzadler, der Persien wie ein Nest mit seinen Flügeln deckt und unaufhörlich über seine Wohlfahrt wacht! Um sich von mühsamer Arbeit zu erholen, jagt er mit seinem treuen Seangir in diesen Wäldern. Wie glücklich ist dieser Sekretär, einem Herrn zu dienen, der ihm so viel Güte erweist! Sachte, sachte! unterbrach die andre Krähe; rühmt das Glück des jungen Mannes nicht! Atalmuk unterhält sich freilich vertraulich mit ihm, er ehrt ihn mit seinem Vertrauen, und ich zweifle nicht, daß er die Absicht hat, ihm eines Tages ein hohes Amt zu geben; aber zuvor wird Seangir Hungers sterben. Der arme Teufel wohnt in einer möblierten Kammer; es fehlt ihm am Nötigsten. Mit einem Wort, er führt ein elendes Leben, ohne daß jemand[323] bei Hofe es merkt. Der Großwesir denkt nicht daran, zu fragen, ob es ihm gut oder schlecht ergehe; er begnügt sich damit, daß er ihm wohlgesinnt ist, und läßt ihn der Armut zur Beute.

Hier hielt ich inne, denn der Herzog von Lerma trat auf mich zu und fragte lächelnd, welchen Eindruck diese Fabel auf Atalmuk gemacht hätte und ob der Großwesir an der Verwegenheit seines Sekretärs keinen Anstoß genommen hätte. Nein, Euer Gnaden, erwiderte ich ein wenig verwirrt; die Fabel erzählt vielmehr, er hätte ihn mit Wohltaten überhäuft. Das ist ein Glück, versetzte der Herzog ernst; manche Minister fänden es nicht richtig, daß man ihnen Lehren erteilte. Aber, fuhr er fort, indem er die Unterhaltung abbrach, ich glaube, der König wird bald erwachen; meine Pflicht ruft mich zu ihm. Mit diesen Worten ging er rasch auf den Palast zu, ohne mir Weiteres zu sagen; er schien von meiner indischen Fabel sehr unangenehm berührt zu sein.

Ich folgte ihm bis zur Tür des Zimmers Seiner Majestät, um dann die Papiere, die ich trug, dorthin zurückzubringen, woher ich sie genommen hatte. Ich trat in ein Zimmer, in dem unsre beiden Schreiber arbeiteten, denn auch sie machten die Reise mit. Was habt Ihr, Herr von Santillana? fragten sie, als sie mich sahen. Ihr seid bewegt! Wäre Euch ein Unglück zugestoßen?

Ich war zu sehr von dem schlimmen Erfolg meiner Fabel erfüllt, als daß ich ihnen meinen Schmerz hätte verbergen können. Ich erzählte ihnen, was ich dem Herzog gesagt hatte, und sie zeigten für meine tiefe Betrübnis Verständnis. Ihr habt Grund zum Kummer, sagte der eine. Seine Gnaden nehmen solche Dinge bisweilen übel. Das ist nur zu wahr, sagte der andre. Möget Ihr eine bessere Behandlung erfahren als der Sekretär des Kardinals Spinosa. Dieser Sekretär nahm sich, als er es müde war, seit fünfzehn Monaten – so lange beschäftigte ihn Seine Eminenz – nichts zu erhalten, eines Tages[324] die Freiheit, ihm seine Not darzulegen und um etwas Geld zum Leben zu bitten. Es ist nur gerecht, sagte der Minister, daß Ihr bezahlt werdet. Herr, fuhr er fort, indem er ihm eine Anweisung reichte, erhebt die Summe beim Königlichen Schatzamt. Aber merkt Euch zugleich, daß ich Euch für Eure Dienste danke. Der Sekretär hätte sich über seinen Abschied getröstet, wenn er seine tausend Dukaten erhalten und man ihm erlaubt hätte, anderswo Dienst zu suchen; aber als er das Haus des Kardinals verließ, wurde er von einem Alguasil verhaftet und in den Turm von Segovia geführt, wo er lange gefangen blieb.

Diese historische Anekdote vermehrte meine Angst. Ich hielt mich für verloren; und in meiner Trostlosigkeit begann ich mir meine Ungeduld vorzuwerfen, als wäre ich nicht geduldig genug gewesen. Ach! sagte ich, weshalb mußte ich diese unglückliche Fabel erzählen, die dem Minister mißfallen hat! Vielleicht stand er im Begriff, mich meinem Elend zu entreißen; vielleicht sollte ich sogar plötzlich mein Glück machen, wie es bisweilen zu jedermanns Staunen geschieht. Wieviel Reichtum, wieviel Ehre entgeht mir durch meinen Leichtsinn! Ich hätte mir überlegen sollen, daß viele Große es nicht lieben, wenn man sie mahnt; denn sie wollen, daß man die geringfügigsten Dinge, die zu geben sie verpflichtet sind, als eine Gnade hinnehme. Ich hätte lieber weiter hungern sollen, ohne es dem Herzog zu sagen; ich hätte ruhig Hungers sterben sollen, dann hätte alles Unrecht bei ihm gelegen.

Hätte ich noch ein wenig Hoffnung gehabt, so hätte mein Herr, als ich ihn nachmittags sah, sie mir genommen. Er war gegen seine Gewohnheit sehr ernst und sprach überhaupt nicht mit mir, was mir den Rest des Tages hindurch tödliche Sorge machte. Auch die Nacht verbrachte ich nicht ruhiger: die Trauer, daß all meine angenehmen Einbildungen verblaßten, und die Furcht, ich würde die Zahl der Staatsgefangenen mehren, erlaubten mir nur zu seufzen und zu klagen.[325] Der folgende Tag war der Tag der Krisis. Der Herzog ließ mich morgens rufen. Ich trat in sein Zimmer; ich zitterte stärker als ein Verbrecher vor seinem Richterspruch. Santillana, sagte er, indem er auf ein Blatt Papier wies, das er in der Hand hielt, nimm diese Anweisung ... Ich bebte bei dem Wort Anweisung und dachte bei mir: O Himmel, der Kardinal Spinosa! Der Wagen nach Segovia steht bereit. Die Angst die mich erfaßte, war so groß, daß ich den Minister unterbrach, indem ich mich ihm zu Füßen warf: Euer Gnaden, rief ich unter Tränen, ich flehe Eure Exzellenz demütigst an, mir meine Kühnheit zu vergeben; nur die Not zwang mich, Euch mein Elend zu offenbaren.

Der Herzog konnte sich nicht enthalten, über meine Verstörtheit zu lachen. Tröste dich, Gil Blas, sagte er, und höre mich an. Obgleich du mir dadurch, daß du deine Not enthülltest, den Vorwurf machtest, daß ich ihr nicht vorgebeugt hätte, nehme ich es dir nicht übel, mein Freund. Ich bin eher böse auf mich selber, weil ich dich nicht gefragt habe, wie du lebtest. Aber um diesen Mangel an Aufmerksamkeit wieder gutzumachen, gebe ich dir zunächst eine Anweisung auf fünfzehnhundert Dukaten, die dir auf Sicht vom Königlichen Schatzamt ausgezahlt werden. Doch nicht genug, ich verspreche dir für jedes Jahr die gleiche Summe; und ferner: wenn reiche und freigebige Leute dich um einen Dienst ersuchen, so verbiete ich dir nicht, zu ihren Gunsten mit mir zu reden.

In meinem Entzücken über diese Worte küßte ich dem Minister die Füße. Er aber befahl mir, mich zu erheben, und fuhr fort, sich vertraulich mit mir zu unterhalten. Ich meinerseits suchte meine gute Laune zurückzugewinnen, aber ich konnte nicht so plötzlich vom Schmerz zur Freude übergehn. Ich blieb verstört wie ein Unglücklicher, der seine Begnadigung erst mit dem Augenblick erfahren hat, in dem er den Todesstreich erwartete. Mein Herr schrieb meine Aufregung einzig der Angst zu, sein Mißfallen erregt zu haben,[326] obgleich die Furcht vor ewiger Gefangenschaft nicht weniger teil daran hatte. Er gestand mir, daß er absichtlich kühler gewesen sei, um zu sehn, ob ich die Veränderung empfinden würde; er schließe daraus auf die Lebhaftigkeit meiner Neigung zu ihm und liebe mich darum nur um so mehr.

Quelle:
Le Sage, Alain René: Die Geschichte des Gil Blas von Santillana. Wiesbaden 1957, S. 321-327.
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