Drittes Kapitel

[174] Von der großen Veränderung in Don Vincents Hause und dem seltsamen Entschluß, den die schöne Aurora aus Liebe faßte


Kurze Zeit nach diesem Abenteuer wurde Don Vincent krank. Die Symptome der Krankheit traten mit einer solchen Heftigkeit auf, daß man einen schlimmen Ausgang selbst dann hätte befürchten müssen, wenn er nicht in einem so vorgerückten Alter gestanden hätte. Gleich zu Beginn des Übels ließ man die beiden berühmtesten Ärzte von Madrid zu Hilfe rufen; aber der Tod, der ohne Zweifel fürchtete, sie könnten ihm gar seine Beute entreißen, kam ihnen zuvor und raffte meinen Herrn hinweg.

Als Aurora ihren Vater mit den Ehren begraben hatte, die einem Manne von seiner Herkunft gebührten, trat sie die Verwaltung ihres Besitzes an. Sie verabschiedete ein paar[174] Dienstboten, indem sie sie ihren Diensten entsprechend belohnte, und zog sich alsbald auf ein Schloß am Ufer des Tajos zurück, das zwischen Sacedon und Buendia lag. Ich war unter denen, die ihr auf das Landschloß folgen durften; ich hatte sogar das Glück, ihr unentbehrlich zu werden. Trotz meines treuen Berichtes über Don Luis liebte sie diesen Kavalier noch immer; oder vielmehr, da sie ihre Liebe nicht hatte bezwingen können, hatte sie sich ihr völlig hingegeben. Sie brauchte jetzt keine Vorsicht mehr anzuwenden, wenn sie mit mir reden wollte. Gil Blas, sagte sie seufzend, ich kann Don Luis nicht vergessen; wie sehr ich mich auch bemühe, ihn aus meinen Gedanken zu verbannen, er zeigt sich immer wieder, und nicht, wie du ihn mir geschildert hast, in allen möglichen Ausschweifungen versunken, sondern wie ich ihn wünsche: zärtlich, liebevoll und treu. Sie wurde gerührt, als sie diese Worte aussprach, und sie konnte ihre Tränen nicht unterdrücken. Um ein geringes hätte auch ich geweint, so sehr bewegte mich ihr Kummer. Ich hätte mich bei ihr nicht mehr einschmeicheln können als dadurch, daß ich mich ihren Schmerzen so zugänglich zeigte. Mein Freund, fuhr sie fort, als sie sich die schönen Augen getrocknet hatte, ich sehe, du bist von gutem Charakter, und ich bin mit deinem Eifer so zufrieden, daß ich dir verspreche, ihn gut zu belohnen. Deine Hilfe, mein lieber Gil Blas, ist mir notwendiger als je. Ich muß dir einen Plan enthüllen, der mich beschäftigt; du wirst ihn sicher wunderlich finden. Vernimm also, daß ich so bald wie möglich nach Salamanca aufbrechen will. Dort will ich mich als Kavalier verkleiden und unter dem Namen Don Felix mit Pacheco Bekanntschaft machen; ich werde versuchen, sein Vertrauen und seine Freundschaft zu gewinnen, und ihm oft von Aurora de Guzman erzählen, als deren Vetter ich gelten will. Vielleicht wird er sie sehen wollen; und da rechne ich auf deine Dienste. Wir werden in Salamanca zwei Wohnungen nehmen: in der einen werde ich Don Felix[175] sein, in der andern Aurora; und wenn ich mich Don Luis' Augen bald als Mann verkleidet, bald in meinem natürlichen Gewande zeige, hoffe ich, bei ihm allmählich zu dem Ziel kommen zu können, das ich mir gesteckt habe. Ich gebe zu, fuhr sie fort, mein Plan ist toll; aber meine Leidenschaft reißt mich fort, und die Unschuld meiner Absichten macht mich vollends blind gegen alles, was dem Schritt, den ich wagen will, entgegensteht.

Ich war ganz Auroras Meinung über ihre Absicht: sie erschien mir als Wahnwitz. Aber so unvernünftig ich sie auch fand, ich hütete mich, den Pedanten zu spielen; im Gegenteil, ich begann, sie zu beschönigen, und versuchte, meiner Herrin einzureden, daß der unsinnige Plan nur ein heiteres und folgenloses Spiel des Geistes sei. Ich entsinne mich nicht mehr, was ich ihr sagte, um das zu beweisen, aber sie fügte sich meinen Gründen; denn Liebende sind immer froh, wenn man ihren tollsten Phantasien schmeichelt. Wir sahen also in diesem verwegenen Unterfangen nur noch eine Komödie, bei der es einzig darauf ankam, die Aufführung vortrefflich einzuüben. Wir wählten die Schauspieler aus dem Haushalt und verteilten die Rollen; und da wir nicht Komödianten von Beruf waren, so ging es dabei ohne Geschrei und Zank ab. Es wurde beschlossen, daß die Dame Ortiz unter dem Namen Ximena de Guzman die Tante spielen sollte; sie erhielt als solche einen Diener und eine Zofe; und Aurora sollte, als Kavalier verkleidet, mich zum Kammerdiener und für den persönlichen Dienst ein als Pagen verkleidetes Mädchen haben. Als so die Rollen verteilt waren, kehrten wir nach Madrid zurück, wo, wie wir erfuhren, Don Luis noch war; er sollte in Kürze nach Salamanca aufbrechen. Wir ließen uns in Eile die nötigen Kleider machen, und als sie fertig waren, ließ meine Herrin sie sofort verpacken; denn wir wollten sie erst an Ort und Stelle anziehen. Dann übergab sie die Sorge für ihr Haus dem Verwalter und brach in einem von[176] vier Maultieren gezogenen Wagen auf. Sie schlug mit all den Dienern, die in diesem Stück eine Rolle zu spielen hatten, den Weg ins Königreich Leon ein.

Wir hatten Altkastilien schon durchquert, als die Achse des Wagens brach; es war zwischen Avila und Voillaflor, drei- oder vierhundert Schritte von einem Schloß, das am Fuße eines Berges lag. Die Nacht brach herein, und wir waren in großer Verlegenheit. Aber zufällig kam ein Bauer bei uns vorbei, der unserer Verlegenheit abhalf. Er sagte uns, das Schloß, das vor unsern Blicken liege, gehöre Doña Elvira de Pinares; und er erzählte uns so viel Gutes von dieser Dame, daß meine Herrin mich ins Schloß schickte und um ein Nachtlager bitten ließ. Elvira strafte den Bericht des Bauern nicht Lügen, sie empfing mich liebenswürdig und gab auf meine höfliche Bitte die Antwort, die ich wünschte. Darauf begaben wir uns ins Schloß, wohin die Maultiere langsam auch den Wagen zogen. An der Tür kam Doña Elvira meiner Herrin entgegen. Ich werde die Höflichkeiten, die zwischen den beiden gewechselt wurden, mit Schweigen übergehn. Ich will nur sagen, daß die alte Dame die Pflichten der Gastfreundschaft vortrefflich zu erfüllen verstand. Sie führte Aurora in ein prachtvolles Gemach, wo sie sie einige Augenblicke ruhen ließ, während sie bis ins kleinste für uns Diener sorgte. Dann, als das Nachtmahl bereitet war, ließ sie es in Auroras Zimmer auftragen, wo sie sich beide zu Tische setzten. Sie schlossen Freundschaft miteinander und versprachen sich, in brieflichem Verkehr zu bleiben. Da unser Wagen erst am folgenden Tage repariert werden konnte, und wir sonst in die Lage gekommen wären, erst sehr spät abends aufzubrechen, so wurde beschlossen, daß wir noch einen Tag im Schlosse verbringen sollten. Auch uns tischte man reichlich auf, und unsre Betten waren nicht schlechter als unsere Mahlzeit.

Quelle:
Le Sage, Alain René: Die Geschichte des Gil Blas von Santillana. Wiesbaden 1957, S. 174-177.
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