Erstes Kapitel

[165] Gil Blas verläßt Arsenias Dienst und findet ein anständigeres Haus


Ein Rest von Empfindung für Ehre und Religion trieb mich zu dem Entschluß, nicht nur Arsenia zu verlassen, sondern auch jeden Verkehr mit Laura abzubrechen; freilich, obgleich ich wußte, daß sie mir tausendmal untreu war, hörte ich nicht auf, sie zu lieben. Glücklich, wer so die Augenblicke der Vernunft ausnutzt, die die Genüsse, mit denen er nur allzu beschäftigt ist, durchbrechen. Eines schönen Morgens schnürte ich mein Bündel; und ohne mit Arsenia abzurechnen, die mir freilich kaum etwas schuldete, ohne selbst von meiner teuren Laura Abschied zu nehmen, verließ ich das Haus, in dem man nur die Luft der Ausschweifung atmete. Kaum hatte ich diese gute Handlung vollbracht, als der Himmel mich dafür belohnte. Ich traf den Verwalter des verstorbenen Don Mathias, meines Herrn, und grüßte ihn. Er erkannte mich, blieb stehen und fragte, wem ich diente. Ich sagte ihm, ich sei seit wenigen Augenblicken ohne Stellung; ich sei einen Monat lang bei Arsenia gewesen, und da mir ihre Sitten nicht zusagten, so hätte ich sie meiner Unschuld zuliebe aus eignem Antrieb verlassen. Der Verwalter lobte meine Tugend, als wäre er von Natur aus sittenstreng, und sagte, er wolle mir, da ich so viel Ehrgefühl hätte, eine günstige Stellung verschaffen. Er erfüllte sein Versprechen und brachte mich noch selbigen Tages zu Don Vincent de Guzman, dessen Geschäftsverwalter er kannte.[165]

Ich hätte in kein besseres Haus geraten können; ich habe es auch nie bereut, daß ich dort blieb. Don Vincent war ein sehr reicher, alter Edelmann, der seit vielen Jahren ohne Händel und ohne Frau lebte; denn der seinen hatten ihn die Ärzte beraubt. Statt sich wieder zu verheiraten, hatte er sich ganz der Erziehung Auroras, seiner einzigen Tochter, gewidmet, die gerade ihr sechsundzwanzigstes Jahr begann und für eine vollendete Dame gelten konnte. Mit ungewöhnlicher Schönheit vereinigte sie einen ausgezeichneten und sehr kultivierten Geist. Ihr Vater war ein kleines Genie und dabei ein guter Geschäftsmann. Einen Fehler besaß er allerdings, den man aber Greisen wohl verzeihen kann: er sprach gern, und besonders über Krieg und Kämpfe. Wenn man versehentlich in seiner Gegenwart an diese Saite rührte, so setzte er sofort die heroische Trompete an den Mund, und seine Hörer konnten sich glücklich schätzen, wenn sie mit dem Bericht über zwei Belagerungen und drei Schlachten davonkamen. Man nehme hinzu, daß er stotterte und zerstreut war, und man wird begreifen, daß seine Art zu erzählen nicht besonders angenehm sein konnte. Im übrigen habe ich nie einen Edelmann von so gutem Charakter gekannt; er war stets gleichmäßiger Laune: weder eigensinnig noch grillenhaft, und das bewunderte ich bei einem Mann von Stande. Obgleich er sparsam war, lebte er angemessen. Sein Haushalt bestand aus mehreren Dienern und drei Frauen zur Bedienung Auroras. Ich erkannte bald, daß der Verwalter mir einen guten Dienst verschafft hatte, und ich dachte nur daran, ihn mir zu erhalten. Ich studierte die Neigungen aller, richtete mich danach und hatte mir bald meines Herrn und der andern Bedienten Gunst errungen.

Ich war schon länger als einen Monat bei Don Vincent, als ich zu bemerken glaubte, daß seine Tochter mich vor allen Dienern auszuzeichnen begann. Sooft ihre Blicke auf mir ruhten, meinte ich ein Wohlgefallen in ihnen zu lesen, das ich[166] nicht bemerkte, wenn sie die andern ansah. Hätte ich nicht mit den Elegants und Komödianten verkehrt, so hätte ich mir niemals einfallen lassen, daß Aurora an mich denken könnte; aber ich war unter diesen Herren verdorben, bei denen die vornehmsten Damen nicht immer in allzu gutem Rufe stehn. Wenn man, sagte ich mir, den Mimen glauben soll, so kommen die Frauen von Stande zuweilen Launen an, denen sie ohne weiteres nachgeben: was weiß ich, ob nicht meine Herrin solchen Launen unterworfen ist? Aber nein, fügte ich nach einem Augenblick hinzu, ich kann es nicht glauben. Sie ist keine von jenen Messalinen, die den Stolz ihrer Geburt verleugnen und ihre Blicke unwürdigerweise bis in den Staub erniedrigen und sich, ohne zu erröten, entehren; sie ist vielmehr eines jener tugendhaften, aber zärtlichen Mädchen, die, der Grenzen bewußt, die ihre Tugend ihrer Zärtlichkeit zieht, sich nicht bedenken, eine zarte Leidenschaft einzuflößen und zu empfinden, wenn keine Gefahr damit verbunden ist.

So etwa beurteilte ich meine Herrin, ohne daß ich ganz genau wußte, woran ich mich halten sollte. Sooft sie mich indes sah, verfehlte sie nicht, mir zuzulächeln und mir ihre Freude zu bezeigen. Man konnte sich, ohne als Narr zu gelten, recht wohl von so schönem Schein trügen lassen; und so vermochte ich mich auch nicht dagegen zu wehren. Ich hielt Aurora für sehr von mir eingenommen, und ich sah mich bald nur noch als einen jener glücklichen Diener an, denen die Liebe die Dienstbarkeit so süß macht. Um mich des Genusses, den mir mein Glück verschaffen wollte, weniger unwert zu zeigen, begann ich, mehr Sorgfalt auf mein Äußeres zu verwenden als bisher. Ich suchte eifrig nach allem, was mich ein wenig verlockend machen könnte. Ich gab mein ganzes Geld für Wäsche, Pomaden und Wohlgerüche aus. Das erste, was ich des Morgens tat, war, daß ich mich putzte und parfümierte, um nicht mehr im Morgengewand[167] zu sein, wenn es galt, vor meine Herrin zu treten. Ich schmeichelte mir bald, mein Glück sei nicht mehr fern.

Unter den Frauen Auroras war eine namens Ortiz. Es war eine alte Person, die seit mehr als zwanzig Jahren bei Don Vincent lebte. Sie hatte seine Tochter aufgezogen und hatte immer noch das Amt einer Dueña; aber sie nahm es damit nicht sehr genau. Im Gegenteil, statt wie früher von Auroras Handlungen Rechenschaft abzulegen, beschäftigte sie sich nur noch damit, sie zu verbergen. Kurz, sie besaß das volle Vertrauen ihrer Herrin. Eines Abends, als die Dame Ortiz Gelegenheit fand, ohne daß uns jemand hören konnte, mit mir zu sprechen, flüsterte sie mir zu, wenn ich verständig und verschwiegen sei, so brauchte ich mich nur um Mitternacht in den Garten zu begeben: da würde man mir Dinge sagen, die zu hören mich nicht betrüben würde. Ich drückte der Dueña die Hand und sagte, ich würde nicht verfehlen, mich einzufinden; und aus Furcht, überrascht zu werden, gingen wir rasch auseinander. Ich zweifelte nicht mehr daran, daß ich auf Don Vincents Tochter einen zarten Eindruck gemacht hatte, und ich konnte meine Freude kaum beherrschen. Wie mir die Zeit bis zum Nachtmahl lang wurde! und vom Nachtmahl bis zum Schlafengehen meines Herrn! Mir war, als geschähe an diesem Abend alles im Hause mit ungewöhnlicher Langsamkeit. Obendrein begann Don Vincent, als er sich in sein Zimmer zurückgezogen hatte, statt an die Ruhe zu denken, seine portugiesischen Feldzüge, mit denen er mich schon so oft betäubt hatte, nochmals zu führen. Aber, was er noch nie getan und was er für diesen Abend aufgespart hatte: er nannte mir die Namen aller Offiziere, die sich zu seiner Zeit ausgezeichnet hatten; er erzählte mir sogar all ihre Taten. Welche Leiden ich zu ertragen hatte! Schließlich aber hörte er auf und ging zu Bett. Ich schlüpfte alsbald in das kleine Zimmer, in dem mein Bett stand und aus dem man auf einer verborgenen Treppe in den Garten gelangte.[168] Ich rieb mir den ganzen Körper mit Pomade ein, ich nahm ein reines Hemd und parfümierte es, und als ich nichts mehr vergessen hatte, was der Laune meiner Herrin schmeicheln konnte, eilte ich zum Ort des Stelldicheins.

Ich traf die Ortiz nicht an. Ich glaubte, sie sei es müde geworden, mich zu erwarten, und in ihr Zimmer zurückgekehrt; die Schäferstunde sei versäumt. Ich schalt auf Don Vincent; aber als ich gerade seinen Feldzügen fluchte, hörte ich, wie es zehn Uhr schlug. Ich glaubte, die Uhr ginge falsch und es müßte sicherlich eine Stunde nach Mitternacht sein. Ich täuschte mich aber durchaus, denn eine gute Viertelstunde darauf hörte ich noch eine zweite Uhr zehn Schläge tun. Schön! sagte ich zu mir selber; da habe ich also nicht weniger als zwei Stunden zu warten. Wenigstens wird man sich nicht über Mangel an Pünktlichkeit beklagen. Ich will im Garten umhergehn und an die Rolle denken, die ich spielen soll; sie ist mir neu genug. Ich bin an die Launen der Damen von Stande noch nicht gewöhnt. Ich weiß, wie man Grisetten und Komödiantinnen behandelt: man spricht sie vertraulich an und bricht das Abenteuer übers Knie; aber bei einer vornehmen Dame muß man anders verfahren. Ich glaube, da muß man höflich, entgegenkommend, zärtlich und achtungsvoll sein, jedoch auch nicht schüchtern. Statt sein Glück stürmisch ereilen zu wollen, muß man es von einem Augenblick der Schwäche erwarten.

So überlegte ich, und ich versprach mir, Aurora gegenüber diese Haltung zu bewahren. Ich stellte mir vor, daß ich in Kürze das Vergnügen haben sollte, dieser reizenden Dame zu Füßen zu liegen und ihr tausend leidenschaftliche Dinge zu sagen. Ich rief mir sogar all die Stellen aus unsern Theaterstücken ins Gedächtnis zurück, deren ich mich bei unserm Tête-à-tête bedienen konnte, um Ehre einzulegen. Ich gedachte, sie gut anzubringen, und hoffte, nach dem Beispiel einiger Komödianten für geistreich zu gelten, während ich[169] nur Gedächtnis hatte. Inzwischen hörte ich es elf Uhr schlagen. Schön! sagte ich da, jetzt habe ich nur noch sechzig Minuten zu warten; wappnen wir uns mit Geduld. Ich faßte Mut und tauchte in meine Träume zurück; bald ging ich umher, bald setzte ich mich in eine Laube hinten im Garten. Endlich schlug die so lange erwartete Stunde. Auch die Ortiz war pünktlich, aber weniger ungeduldig als ich. Herr Gil Blas, sagte sie, als sie erschien, wie lange seid Ihr schon hier? Zwei Stunden, gab ich zurück. Ah! wahrlich, rief sie, indem sie auf meine Kosten lachte, Ihr seid pünktlich! Es ist ein Vergnügen, Euch nächtlich ein Stelldichein zu geben. Freilich könntet Ihr, fuhr sie mit ernsthafter Miene fort, das Glück, das ich Euch zu verkünden habe, nicht teuer genug bezahlen. Meine Herrin möchte Euch unter vier Augen sprechen und hat mir befohlen, Euch in ihr Zimmer zu führen, wo sie Euch erwartet. Mehr will ich Euch nicht sagen: das übrige ist ein Geheimnis, das Ihr erst aus ihrem Munde erfahren dürft. Folgt mir! Ich werde Euch führen.

Quelle:
Le Sage, Alain René: Die Geschichte des Gil Blas von Santillana. Wiesbaden 1957, S. 165-170.
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