Erstes Kapitel

[425] Von der größten Freude, die Gil Blas je empfunden hatte, und welch trauriges Ereignis sie störte. Von den Veränderungen bei Hofe, die Gil Blas zur Rückkehr dorthin bestimmten


Beatrix und Antonia fanden sich ausgezeichnet ineinander; die eine war gewohnt, als gefügige Zofe zu leben, die andre gewöhnte sich leicht daran, die Herrin zu spielen. Wir, Scipio und ich, waren zu galante Ehemänner und unsre Frauen liebten uns zu sehr, als daß wir nicht bald die Genugtuung hätten haben sollen, Väter zu werden; sie wurden fast zu gleicher Zeit schwanger. Beatrix kam als erste nieder und brachte eine Tochter zur Welt; wenige Tage darauf krönte Antonia unsre Freude, indem sie mir einen Sohn gebar. Entzückt von einem so glücklichen Ereignis, schickte ich meinen Sekretär nach Valencia, damit er dem Statthalter die Nachricht überbringe; er kam mit Seraphine und der Marquise von Pliego nach Lirias, um die Kinder über das Taufbecken zu halten, und er machte sich ein Vergnügen daraus, dies Zeichen der Liebe zu all den andern hinzuzufügen, die ich von ihm schon erhalten hatte. Mein Sohn, der den Edelmann zum Paten und die Marquise zur Patin hatte, wurde Alphonso genannt; und da die Frau Statthalterin mir die Ehre antun wollte, durch doppelte Gevatternschaft mit ihr verbunden zu sein, so hielt sie mit mir zusammen Scipios Tochter, der wir den Namen Seraphine gaben, über die Taufe.

Die Geburt meines Sohnes erfreute nicht nur die Schloßbewohner: die Bauern von Lirias feierten sie gleichfalls durch Feste, die zeigten, daß der ganze Flecken teilnahm am Glück[425] seines Herrn. Aber, ach! unsre Freude war nicht von langer Dauer, oder besser, sie kehrte sich plötzlich in Seufzen, Klagen und Jammern, und zwar durch ein Ereignis, dessen Erinnerung mehr als zwanzig Jahre nicht haben verwischen können und das mir ewig vor Augen stehen wird. Mein Sohn starb; und seine Mutter folgte ihm nach, obgleich sie so glücklich von ihm entbunden worden war; ein heftiges Fieber raffte meine teure Gattin nach vierzehnmonatiger Ehe hinweg. Der Leser stelle sich meinen Schmerz vor, wenn er es vermag. Ich versank in stumpfe Apathie; je tiefer ich den Verlust empfand, um so empfindungsloser schien ich zu sein. Fünf oder sechs Tage lang blieb ich in diesem Zustand: ich wollte keine Nahrung zu mir nehmen; und ich glaube, ohne Scipio wäre ich verhungert oder es wäre mir der Kopf wirr geworden; aber dieser geschickte Sekretär verstand es, meinen Schmerz zu betrügen, indem er sich ihm einfügte; er fand das Geheimnis, mir Fleischbrühe einzuflößen, indem er sie mir mit so verzweifelter Miene bot, daß es aussah, als gäbe er sie mir nicht so sehr, um mein Leben zu erhalten, wie um meinen Kummer zu nähren.

Dieser liebevolle Diener schrieb an Don Alphonso, um ihn von meinem Unglück und meinem bejammernswerten Zustand zu benachrichtigen. Der gütige und mitleidige Edelmann, der großherzige Freund kam sofort nach Lirias. Ich kann nicht ohne Rührung an den Augenblick denken, in dem er vor mich trat. Mein teurer Santillana, sagte er, indem er mich umarmte, ich komme nicht, um Euch zu trösten: ich will Antonia mit Euch beweinen, wie Ihr mit mir Seraphine beweinen würdet, wenn die Parze sie mir raubte. Wirklich vergaß er Tränen und mischte seine Seufzer mit den meinen. So sehr meine Trauer mich niederdrückte, empfand ich dennoch die ganze Güte des Edelmanns.

Don Alphonso beriet sich lange mit Scipio, was zu tun sei, um meinen Schmerz zu besiegen. Sie sagten sich, man müsse[426] mich eine Weile von Lirias entfernen, wo mich alles an Antonia erinnerte. Don Cesars Sohn schlug mir vor, mich nach Valencia mitzunehmen, und mein Sekretär unterstützte den Vorschlag so lebhaft, daß ich ihn annahm. Ich ließ Scipio und seine Frau im Schloß und brach mit Don Alphonso auf. Als ich in Valencia war, versäumten Don Cesar und seine Schwiegertochter nichts, um meinen Kummer abzulenken; nacheinander setzten sie alle möglichen Vergnügungen ins Werk, die mich zerstreuen sollten; aber trotz all ihrer Sorgfalt blieb ich in einer Melancholie versunken, der mich nichts entreißen konnte. Auch an Scipio lag es nicht, wenn ich meine Ruhe nicht zurückgewann: er kam oft von Lirias nach Valencia; er kehrte um so trauriger oder um so lustiger heim, je nachdem er mich mehr oder minder geneigt fand, mich trösten zu lassen. Ich sah das nicht ohne Freude; ich rechnete ihm die Freundschaftsregungen, die er verriet, hoch an und beglückwünschte mich zu einem Diener, der so an mir hing.

Eines Morgens trat er zu mir ins Zimmer. Gnädiger Herr, sagte er sehr aufgeregt, in der Stadt verbreitet sich ein Gerücht, das die ganze Monarchie angeht; man sagt, Philipp III. lebe nicht mehr, und der Prinz, sein Sohn, sitze auf dem Thron. Man fügt hinzu, fuhr er fort, der Kardinalherzog von Lerma habe seine Stellung verloren; es sei ihm sogar verboten, bei Hof zu erscheinen, und Don Gaspar de Guzman, Graf von Olivares, sei jetzt erster Minister. Ohne zu wissen, weshalb, fühlte ich mich von der Nachricht ein wenig ergriffen. Scipio merkte es und fragte mich, ob ich an dieser großen Veränderung nicht Anteil nähme. Ach! welchen Anteil soll ich daran nehmen, mein Freund? erwiderte ich. Ich habe den Hof verlassen; alle Veränderungen, die eintreten, können, müssen mir gleichgültig sein.

Für einen Mann in Eurem Alter, versetzte Scipio, lebt Ihr zu abgeschieden von der Welt. An Eurer Stelle hätte ich einen[427] Wunsch. Und welchen? unterbrach ich ihn. Meiner Treu! rief er, ich ginge nach Madrid und zeigte dem jungen Monarchen mein Gesicht, um zu sehn, ob er mich wiedererkennt; dies Vergnügen würde ich mir nicht versagen. Ich verstehe, sagte ich; du möchtest, daß ich an den Hof zurückkehrte und von neuem mein Glück versuchte, oder vielmehr, wieder habgierig und ehrgeizig würde. Weshalb sollten Eure Sitten dort von neuem verderben? erwiderte Scipio. Habt mehr Vertrauen zu Eurer Tugend. Ich bürge Euch für Euch selber. Die gesunden Ansichten über den Hof, die Euer Sturz Euch eingegeben hat, bewahren Euch davor, seine Gefahren zu fürchten. Schifft Euch kühn auf einem Meere ein, dessen sämtliche Klippen Ihr kennt. Schweig, Schmeichler, rief ich lachend; bist du es müde, daß ich ein ruhiges Leben führe? Ich glaubte, meine Ruhe sei dir teurer.

In diesem Augenblick traten Don Cesar und Don Alphonso ein. Sie bestätigten mir die Nachricht vom Tode des Königs und vom Sturz des Herzogs von Lerma. Sie sagten mir ferner, der Minister habe um die Erlaubnis gebeten, sich nach Rom zurückzuziehn, und er habe diese Erlaubnis nicht, statt dessen aber den Befehl erhalten, sich auf sein Marquisat von Denia zu begeben. Und als hätten sie sich mit meinem Sekretär verabredet, rieten sie mir, nach Madrid zu gehn und mich dem jungen König zu zeigen, da er mich kenne und ich ihm Dienste geleistet hätte, die die Großen nur zu gern belohnten. Ich wenigstens, sagte Don Alphonso, zweifle nicht, daß er sie anerkennt; Philipp IV. muß die Schulden des Prinzen von Spanien bezahlen. Ich denke ebenso, sagte Don Cesar, und ich sehe Santillanas Reise zum Hof als eine Gelegenheit an, zu hohen Ämtern zu gelangen.

Wahrlich, meine gnädigen Herren, rief ich, es ist nicht Euer Ernst! Wenn man Euch hört, könnte es scheinen, als brauchte ich mich nur nach Madrid zu begeben, um den goldenen Schlüssel oder ein Gouvernement zu erhalten; Ihr seid im[428] Irrtum. Ich bin vielmehr überzeugt, daß der König mich gar nicht beachten würde, wenn ich mich seinen Blicken zeigte. Ich will die Probe machen, wenn Ihr es wünscht, um Euch die Illusion zu rauben. Die Herren von Leyva nahmen mich beim Wort, und ich mußte ihnen versprechen, unverzüglich nach Madrid zu reisen. Als mein Sekretär mich entschlossen sah, verriet er maßlose Freude; er bildete sich ein, ich brauchte nur vor dem neuen Monarchen zu erscheinen, und der Fürst würde mich in der Menge erkennen und mich mit Gütern und Ehren überhäufen. Er wiegte sich in den süßesten Hoffnungen und erhob mich zu den glänzendsten Ämtern des Staates und sich durch mich.

Ich schickte mich also an, zum Hof zurückzukehren, nicht um noch einmal dem Glück zu opfern, sondern um Don Cesar und seinen Sohn zu befriedigen, die es sich in den Sinn gesetzt hatten, ich werde mir bald die Gunst des Souveräns erobern. Freilich hatte im Grunde auch ich selber Lust, zu prüfen, ob der Fürst mich wiedererkennen würde. Von dieser neugierigen Regung fortgerissen, brach ich ohne Hoffnung und ohne die Absicht, Vorteil aus dem neuen Regime zu ziehn, mit Scipio nach der Hauptstadt auf, indem ich die Sorge für mein Schloß Beatrix überließ, die eine gute Haushälterin war.

Quelle:
Le Sage, Alain René: Die Geschichte des Gil Blas von Santillana. Wiesbaden 1957, S. 425-429.
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