XV

[207] Ein kalter trüber Tag mit durchdringendem Wind und einem mit Schnee vermengten Regen empfing den Transport vor dem Tore des dumpfen Etappengefängnisses.[207] Katerina Lwowna trat recht frisch und munter ins Freie. Als sie sich aber an ihren Platz stellte, erbebte sie am ganzen Leibe und wurde grün. Es wurde ihr finster vor den Augen, und alle ihre Glieder begannen zu schmerzen. Sie hatte Ssonetka in den ihr wohlbekannten blauen wollenen Strümpfen mit den grellfarbigen Zwickeln erblickt.

Katerina Lwowna schleppte sich mehr tot als lebendig vorwärts; sie blickte wie irrsinnig und wandte ihre Augen nicht von Ssergej.

Auf der ersten Station ging sie ruhig auf ihn zu, flüsterte »Schurke!« und spuckte ihm ganz unerwartet in die Augen.

Ssergej wollte sich auf sie stürzen, man hielt ihn aber zurück.

»Warte nur!« sagte er, sich das Gesicht abwischend.

»Wie tapfer sie doch gegen dich ist!« spotteten unterwegs die Sträflinge über Ssergej. Am lustigsten lachte Ssonetka.

Dieses Zwischenspiel war ganz nach ihrem Geschmack.

»Ich werde es dir schon zeigen!« drohte Ssergej Katerina Lwowna.

Vom anstrengenden Marsch bei dem schlechten Wetter ermüdet, schlief Katerina Lwowna mit blutendem Herzen auf der Pritsche der nächsten Etappe ein. Sie hörte gar nicht, wie in die Frauenabteilung zwei Männer kamen.

Bei ihrem Erscheinen erhob sich Ssonetka von der Pritsche, zeigte stumm auf Katerina Lwowna, legte sich wieder hin und hüllte sich in ihren Kittel.

In diesem Augenblick wurde Katerina Lwowna der Kittel über den Kopf gezogen, und auf ihren Rücken,[208] der nur noch mit dem groben Hemd bekleidet war, sauste das dicke Ende eines doppelt zusammengedrehten Strickes nieder.

Katerina Lwowna schrie auf. Der Kittel, der ihr über den Kopf geworfen war, erstickte aber ihre Stimme. Sie versuchte aufzuspringen, konnte sich aber nicht rühren; auf ihren Schultern saß ein kräftiger Mann, der sie an den Händen festhielt.

»Fünfzig!« zählte schließlich eine Stimme, in der sie unschwer die Stimme Ssergejs erkennen konnte. Die nächtlichen Gäste verschwanden ebenso plötzlich, wie sie gekommen waren.

Katerina Lwowna befreite ihren Kopf und sprang auf. Niemand war mehr in der Zelle. In der Nähe kicherte aber jemand. Katerina Lwowna erkannte Ssonetkas Stimme.

Ihr Schmerz wurde nun grenzenlos; grenzenlos war auch der Haß, der in diesem Augenblick in ihrem Herzen aufloderte. Sie sprang auf, um sich auf Ssonetka zu stürzen und fiel ohnmächtig in die Arme Fionas, die ihr zu Hilfe eilte.

An der Brust der stumpfsinnigen Nebenbuhlerin, die erst vor kurzem den ungetreuen Geliebten Katerina Lwownas vor Wollust zittern ließ, weinte sie nun vor unerträglichem Schmerz. Sie schmiegte sich an Fiona, wie sich ein Kind an seine Mutter schmiegt. Nun waren sie beide gleich: beide waren im Werte gesunken, beide waren verlassen.

Die sich jedem Zufall hingebende Fiona und die Heldin der Liebestragödie, Katerina Lwowna, waren nun einander gleich![209]

Katerina Lwowna fühlte sich aber dadurch gar nicht verletzt. Als sie alle ihre Tränen ausgeweint hatte, erstarrte sie zu Stein und machte sich bereit, zum Appell zu gehen.

Die Trommel wirbelt; die gefesselten und nicht gefesselten Sträflinge stürzen in den Hof; auch Ssergej ist darunter, auch Fiona, Ssonetka und Katerina Lwowna; ein mit einem Juden zusammengeketteter Sektierer, und ein Pole an der gleichen Kette mit einem Tataren.

Alle drängten sich zuerst zu einem unordentlichen Haufen zusammen, stellten sich dann in Reihen auf, und der Zug setzte sich in Bewegung.

Ein furchtbar trauriges Bild: ein Häuflein Menschen, die von der Welt losgerissen sind und auch nicht den Schatten einer Hoffnung auf eine bessere Zukunft haben, watet durch den kalten schwarzen Straßenkot. Alles ist so häßlich: der unendliche Schmutz, der graue Himmel, die entblätterten, nassen Weiden und die mürrische Krähe, die zusammengekauert in den nackten Ästen hockt. Der Wind stöhnt und wütet, heult und brüllt.

Aus diesen höllischen, herzzerreißenden Tönen, die das Grauen des Bildes vervollständigen, klingen die Worte der Frau des biblischen Hiob: »Verfluche den Tag deiner Geburt und stirb!«

Wer diesen Worten nicht lauschen will, wen der Gedanke an den Tod selbst in dieser traurigen Lage nicht erfreut, sondern erschreckt, der muß alle die heulenden Stimmen mit einem noch häßlicheren Geheul übertönen. Das einfache Volk weiß das sehr gut: es entfesselt dann seine ganze tierische Natur und beginnt, sich selbst, die andern Menschen und alle Gefühle zu verhöhnen. Es[210] ist auch sonst nicht besonders zartfühlend; unter solchen Umständen wird es aber noch einmal so roh und boshaft.

»Wie geht's, Kaufmannsfrau? Sind Euer Wohlgeboren bei guter Gesundheit?« fragte Ssergej in frechem Tone Katerina Lwowna, als das Dorf, in dem der Transport die letzte Nacht verbracht hatte, hinter dem nassen Hügel verschwunden war.

Gleich darauf wandte er sich an Ssonetka, hüllte sie den Schoß seines Mantels und begann mit hoher Stimme zu singen:


»Hinterm Fenster leuchten deine Locken, Schätzchen,

Ach, mein Jammer schläft nicht, und du schläfst nicht, Kätzchen,

Mit des Mantels Saume will ich dich bedecken ...«


Bei diesen Worten umarmte er Ssonetka und küßte sie vor aller Augen ...

Katerina Lwowna sah es und sah es nicht. Sie war wie geistesabwesend. Die Leute stießen sie in die Seite und machten sie darauf aufmerksam, wie sich Ssergej gegen Ssonetka benahm. Sie wurde zur Zielscheibe des allgemeinen Spottes.

»Laßt sie in Ruhe,« trat Fiona für sie ein, sooft jemand von den Sträflingen über die halbohnmächtige Katerina Lwowna zu spotten anfing. »Seht ihr denn nicht, daß die Frau ganz krank ist?«

»Sie hat sich wohl die Füßchen durchnäßt,« scherzte ein junger Sträfling.

»Natürlich: sie ist ja vom Kaufmannsstande und verwöhnt,« versetzte Ssergej.[211]

»Wenn sie wenigstens warme Strümpfe hätte, würde es ihr wohl weniger machen,« fügte er hinzu.

Katerina Lwowna fuhr wie aus dem Schlafe auf.

»Gemeine Schlange!« sagte sie, unfähig, sich länger zu beherrschen. »Spotte nur, du Schuft, spotte nur!«

»Ich spotte ja gar nicht, sondern meine es ganz ernst: Ssonetka hat ein paar vortreffliche Strümpfe zu verkaufen. Ich frage mich, ob die Kaufmannsfrau sie nicht kaufen will.«

Viele lachten. Katerina Lwowna ging wie ein aufgezogener Automat weiter.

Das Wetter wurde immer schlechter. Aus den grauen Wolken, die den Himmel bedeckten, fielen nasse Schneeflocken herab, die, sobald sie nur den Boden berührten, tauten und den Straßenschmutz noch vergrößerten. Endlich zeigte sich am Horizont ein dunkler bleigrauer Streif, dessen Breite man gar nicht überblicken konnte: es war die Wolga. Über dem Strome zog ein steifer Wind, der breite, dunkle Wellen vor sich trieb.

Die durchnäßten und halberfrorenen Sträflinge gingen langsam zum Landungssteg und blieben in Erwartung der Fähre stehen.

Die nasse dunkle Fähre kam ans Ufer. Die Begleitmannschaften trieben die Sträflinge auf die Fähre.

»Auf dieser Fähre gibt es Schnaps zu kaufen,« sagte einer der Sträflinge, als die von nassen Schneeflocken überschüttete Fähre vom Ufer stieß und auf den Wellen des Stromes zu schwanken begann.

»Es wäre wirklich gut, einen Tropfen zu trinken!« sagte Ssergej. Zur Belustigung Ssonetkas machte er sich wieder an Katerina Lwowna heran und sagte: »Kaufmannsfrau,[212] wir sind ja alte Freunde: kauf mir etwas Schnaps. Geize nicht. Gedenke doch, Liebste, unserer alten Liebe! Weißt du noch, meine Freude, wie wir die langen Herbstnächte miteinander verbrachten und deine Verwandten ohne Popen und ohne Küster ins Jenseits schickten?«

Katerina Lwowna zitterte vor Kälte, die ihr unter den nassen Kleidern durch Mark und Bein drang. In ihr ging aber auch etwas anderes vor. Ihr Kopf brannte wie im Feuer; die Pupillen waren erweitert, von einem irren, scharfen Glanz belebt und starr auf die Wellen gerichtet.

»Auch ich würde gerne etwas Schnaps trinken: es ist so unerträglich kalt!« sagte Ssonetka mit ihrer hellen Stimme.

»Kaufmannsfrau, kauf uns doch Schnaps!« drang Ssergej in sie ein.

»Du hast wirklich kein Gewissen im Leibe!« sagte Fiona, vorwurfsvoll den Kopf schüttelnd.

»Das macht dir keine Ehre,« unterstützte der junge Sträfling Gordjuschka die Soldatenfrau.

»Wenn du dich vor ihr nicht schämst, so solltest du dich wenigstens vor den Leuten schämen!«

»Ach, du, Allerwelts-Schnupftabaksdose!« schrie Ssergej Fiona an. »Was redest du vom Gewissen? Vor wem brauche ich mich zu schämen? Vielleicht habe ich sie überhaupt niemals geliebt, und jetzt ... jetzt ist mir Ssonetkas ausgetretener Schuh lieber als die Fratze dieser geschundenen Katze. Was hast du mir vorzuwerfen? Soll sie nur den schiefmäuligen Gordjuschka lieben, oder ... (er blickte auf den kleinen Wachsoldaten, der in Uniformmütze und langhaarigem Filzmantel im Sattel saß,) oder[213] diesen Soldaten da: unter seinem Filzmantel ist sie wenigstens vom Regen geschützt.«

»Und dann wird sie Offiziersfrau heißen,« lachte Ssonetka.

»Gewiß! Und hat auch Geld, um sich Strümpfe zu kaufen,« fügte Ssergej hinzu.

Katerina Lwowna wehrte sich nicht; sie blickte immer starrer auf die Wellen und bewegte lautlos die Lippen. Zwischen den häßlichen Worten Ssergejs hörte sie die Wogen dröhnen und heulen. In einem sich brechenden Wolkenkamme erscheint plötzlich der blaue Kopf Boris Timofejewitschs; aus einer anderen Welle erhebt sich die Gestalt ihres Mannes; er schwankt und hält Fedja, der den Kopf gesenkt hat, umarmt. Katerina Lwowna will sich auf irgendein Gebet besinnen, ihre Lippen flüstern aber: »Wie wir die langen Herbstnächte miteinander verbrachten und die Verwandten ohne Popen und ohne Küster ins Jenseits schickten.«

Katerina Lwowna zitterte. Ihre irren Blicke waren auf einen Punkt gerichtet. Sie hob einige Male die Arme, streckte sie vor sich aus und ließ sie wieder sinken. Noch einen Augenblick – und sie beugte sich, ohne die Augen von einer dunklen Woge zu wenden, vor, packte Ssonetka an den Beinen und sprang mit ihr über das Geländer der Fähre.

Alle waren vor Schreck wie erstarrt.

Katerina Lwowna erschien auf dem Kamme einer Woge und ging wieder unter; aus einer andern Welle tauchte Ssonetka auf.

»Den Bootshaken her! Werft den Bootshaken aus!« schrieen die Leute auf der Fähre.[214]

Der schwere Bootshaken flog am langen Strick durch die Luft und fiel ins Wasser. Von Ssonetka war wieder nichts zu sehen. Nach zwei Sekunden warf sie, von der Strömung um ein weites Stück von der Fähre fortgetrieben, beide Arme aus dem Wasser empor; in diesem Augenblick tauchte aus einer anderen Welle fast bis zu den Hüften Katerina Lwowna empor. Sie stürzte sich wie ein kräftiger Hecht über eine schwache Plötze auf Ssonetka, und beide kamen nicht mehr zum Vorschein.[215]

Quelle:
Ljesskow, Nikolai: Der versiegelte Engel und andere Geschichten. München 1922.
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