XIV

[202] Gleich in den ersten Tagen nach dem Ausmarsche aus Nischnij-Nowgorod begann sich Ssergej in auffälliger Weise um die Gunst der Soldatenfrau Fiona zu bewerben. Er hatte auch bald Erfolg. Die schöne Fiona ließ ihn nicht allzu lange zappeln und erfüllte sein Sehnen, wie sie in ihrer Herzensgüte auch jeden anderen beglückte. Auf der dritten oder vierten Etappe hatte Katerina Lwowna sich wieder die Möglichkeit einer Zusammenkunft mit Ssergej erkauft. Sie liegt auf ihrem Lager und wartet: gleich wird der Aufseher kommen und ihr zuraunen: »Lauf schnell hinaus!« Die Türe geht einmal auf, und eine der Frauen huscht hinaus; die Türe geht wieder auf, und von der Pritsche springt eine andere Frau und verschwindet im Korridor. Endlich zupft jemand Katerina Lwowna am Kittel. Sie springt schnell von der von so vielen Sträflingsrücken glattgescheuerten Pritsche, wirft sich den Kittel um und folgt dem Aufseher.

Als Katerina Lwowna durch den Korridor ging, der nur an einer Stelle ganz schwach von einem kleinen Lämpchen beleuchtet war, stieß sie auf zwei oder drei Paare, die sie aus der Entfernung nicht sehen konnte. Aus der Männerabteilung tönte durch das Türgitter verhaltenes Lachen.

»Wie die wiehern!« brummte der Begleiter Katerina Lwownas. Er nahm sie bei den Schultern, stieß sie in eine Ecke und zog sich zurück.[202]

Katerina Lwowna stieß mit der Hand auf einen groben Kittel und einen Bart; ihre andere Hand berührte ein heißes Frauengesicht.

»Wer ist's?« fragte Ssergej leise.

»Und mit wem bist du hier?«

Katerina Lwowna riß der Nebenbuhlerin im Finstern das Tuch vom Kopfe. Jene taumelte auf die Seite, fing zu laufen an, stolperte aber und fiel hin.

Aus der Männerabteilung erscholl lautes Lachen.

»Schurke!« flüsterte Katerina Lwowna und schlug Ssergej mit den Enden des Tuches, das sie seiner neuen Geliebten vom Kopfe gerissen hatte, ins Gesicht.

Ssergej erhob seine Hand; Katerina Lwowna huschte aber durch den Korridor zur Türe ihrer Zelle. Aus der Männerabteilung klang nun so lautes Lachen, daß der Wachtposten, der vor dem Lämpchen stand und sich gleichgültig auf die Spitze seines Stiefels spuckte, den Kopf hob und rief:

»Ruhe!«

Katerina Lwowna legte sich schweigend auf ihre Pritsche und lag so bis zum Morgen da. Sie wollte sich sagen: »Ich liebe ihn nicht mehr«, fühlte aber, daß sie ihn noch mehr, noch glühender liebte. Und sie malte sich aus, wie seine Hand, mit der er die Andere am Kinn gehalten, bei der Berührung mit der ihrigen gezittert, wie seine andere Hand die warmen Schultern der Andern umschlungen hatte.

Die arme Frau brach in Tränen aus und wünschte sich, daß die gleichen Hände in diesen Augenblicken ihr Gesicht streicheln und ihre krampfhaft zuckenden Schultern umfassen möchten.[203]

»Gib mir mein Tuch zurück«, mit diesen Worten wurde sie am Morgen von der Soldatenfrau Fiona geweckt.

»Du warst es also?«

»Gib's mir, bitte, zurück!«

»Warum trennst du uns voneinander?«

»Trenne ich euch denn? Ist es eine Liebe, oder habe ich irgendeinen Vorteil davon, daß du mir zürnen sollst?«

Katerina Lwowna dachte einen Augenblick nach, holte unter dem Kissen das Tuch, das sie der andern nachts vom Kopfe gerissen hatte, warf es Fiona zu und wandte sich zur Wand.

Sie fühlte sich ein wenig erleichtert.

»Pfui«, sagte sie sich, »werde ich denn auf so einen angemalten Mistkübel eifersüchtig sein? Mag sie in die Erde versinken. Es täte mir weh, mich mit ihr auch nur zu vergleichen.«

»Hör einmal, Katerina Lwowna«, sagte ihr am nächsten Tage Ssergej, an ihrer Seite gehend, »merke dir bitte, daß ich nicht Sinowij Borissowitsch, sondern ein Anderer bin und daß du nicht mehr die feine Dame bist. Tu darum, bitte, nicht so stolz. Bockigkeit gilt hier nicht.«

Katerina Lwowna erwiderte nichts. In den nächsten acht Tagen wechselte sie mit Ssergej weder ein Wort, noch einen Blick. Sie fühlte sich beleidigt und war stolz genug, um nicht den ersten Schritt zur Versöhnung mit Ssergej, mit dem sie sich zum erstenmal im Leben entzweit hatte, zu machen.

Während Katerina Lwowna ihm schmollte, begann Ssergej mit der weißen Ssonetka anzubandeln. Bald begrüßte er sie als »Ergebenster Diener«, bald lächelte er ihr zu, bald versuchte er sie zu umarmen und an sich zu[204] drücken. Katerina Lwowna sah alles, und in ihrem Herzen siedete es noch mehr.

»Soll ich mich mit ihm vielleicht doch aussöhnen?« fragte sie sich, in einemfort stolpernd.

Ihr Stolz erlaubte es ihr nun noch weniger als früher, den ersten Schritt zu tun. Ssergej klebte aber immer fester an Ssonetka, und allen kam es vor, als ob die unzugängliche Ssonetka, die sonst allen wie ein Aal durch die Finger glitt, etwas gefügiger geworden wäre.

»Du warst mir böse«, sagte einmal Fiona zu Katerina Lwowna: »was habe ich dir aber getan? Mit mir hat er ja nur ganz kurz angebandelt. Ich rate dir aber, auf die Ssonetka aufzupassen.«

– Jetzt gebe ich aber meinen Stolz auf: heute noch will ich mich mit ihm aussöhnen! – sagte sich Katerina Lwowna. Sie überlegte sich nur noch, wie sie am besten den ersten Schritt machen sollte.

Aus dieser schwierigen Lage befreite sie Ssergej selbst.

»Katerina Lwowna!« sagte er ihr auf einer Station: »Komm heute Nacht für einen Augenblick zu mir heraus: ich muß dich sprechen.«

Katerina Lwowna sagte nichts.

»Zürnst du mir vielleicht noch immer? Wirst du nicht kommen?«

Katerina Lwowna sagte noch immer nichts.

Ssergej und alle, die Katerina Lwowna beobachteten, sahen aber, wie sie sich vor dem Etappengebäude an den Oberaufseher heranmachte und ihm die siebzehn Kopeken, die sie unterwegs zusammengebettelt hatte, in die Hand drückte.[205]

»Wenn ich noch mehr zusammengebettelt habe, kriegst du noch zehn Kopeken«, flüsterte sie ihm zu.

Der Oberaufseher steckte das Geld in den Ärmelaufschlag und sagte:

»Gut.«

Als diese Unterhandlungen zu Ende waren, blinzelte Ssergej mit einem vielsagenden Hüsteln Ssonetka zu.

»Ach, Katerina Lwowna!« sagte er, sie auf den Stufen des Etappengebäudes umarmend. »Kinder, es gibt auf der ganzen Welt kein zweites Weib wie dieses!«

Katerina Lwowna errötete vor Glück, und ihr stockte der Atem.

Als nachts die Türe leise aufging, sprang sie ungestüm hinaus. Am ganzen Leibe zitternd, tastete sie den dunklen Korridor nach Ssergej ab.

»Meine liebe Katja!« sagte Ssergej, sie umarmend.

»Ach, du Böser!« antwortete Katerina Lwowna unter Tränen und drückte ihre Lippen auf die seinigen.

Der Wachtposten ging im Korrider auf und ab, blieb manchmal stehen, um sich auf die Stiefel zu spucken; die müden Sträflinge schnarchten in ihren Zellen; irgendwo knabberte eine Maus an einem Federkiel; hinter dem Ofen zirpten die Heimchen; Katerina Lwowna aber genoß in vollen Zügen ihr höchstes Glück.

Die Verzückung legte sich, und es begann die unvermeidliche Prosa des Alltags.

»Ich halt es nicht länger aus; das Bein schmerzt mir vom Knöchel bis zum Knie,« jammerte Ssergej, an ihrer Seite in einem Korridorwinkel sitzend.

»Was kann man dagegen tun?« fragte sie, sich unter seinen Kittel schmiegend.[206]

»Soll ich mich vielleicht in Kasan ins Lazarett legen?«

»Was fällt dir ein, Sserjoscha?«

»Was soll ich denn machen, wenn es mir so weh tut?«

»Du wirst im Lazarett bleiben, und ich soll allein weiter marschieren? ...«

»Was soll ich machen? Die Ketten werden mir bald die Knochen durchwetzen. – Wenn ich wenigstens ein Paar wollene Strümpfe unter die Ketten tun könnte,« fügte Ssergej nach einer Weile hinzu.

»Strümpfe? Sserjoscha, ich habe noch ein paar neue Strümpfe.«

»Ach, behalt sie nur!«

Katerina Lwowna sagte kein Wort. Sie lief in ihre Zelle, packte in aller Eile ihren Sack aus und brachte Ssergej ein Paar dicke blaue wollene Strümpfe mit grellfarbigen Zwickeln.

»Jetzt wird es irgendwie gehen,« sagte Ssergej, sich von ihr verabschiedend und ihr letztes Paar Strümpfe mitnehmend.

Katerina Lwowna kehrte überglücklich in ihre Zelle zurück und schlief sofort ein.

Sie hörte gar nicht, wie gleich darauf Ssonetka in den Korridor kam und wie sie erst bei Morgengrauen wieder zurückging.

Das spielte sich nur zwei Tagemärsche vor Kasan ab.

Quelle:
Ljesskow, Nikolai: Eine Teufelsaustreibung und andere Geschichten. München 1921, S. 202-207.
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