III

[154] Eine warme milchweiße Dämmerung schwebte über der Stadt. Sinowij Borissowitsch war noch immer nicht von der Mühle heimgekehrt. Auch der Schwiegervater Boris Timofejewitsch war nicht zu Hause: er war zu einem alten Freund zum Namenstag gefahren und hatte angesagt, daß man ihn zum Abendessen nicht erwarten solle. Katerina Lwowna aß früh zu Abend, stand dann wieder am Fenster ihres Schlafzimmers, lehnte sich mit der Wange an den Pfosten und knackte Sonnenblumenkerne. Die Leute hatten eben in der Küche genachtmahlt und begaben sich zur Ruhe: der eine in die Tenne, der andere in den Speicher, der dritte auf den duftenden Heuboden. Als letzter kam aus der Küche Ssergej. Er schlenderte durch den Hof, ließ die Kettenhunde los, pfiff ein Liedchen, ging am Fenster Katerina Lwownas vorbei, blickte zu ihr hinauf und verneigte sich vor ihr.

»Guten Abend,« sagte Katerina Lwowna leise von ihrem Fenster herab, und auf dem Hofe wurde es plötzlich so still wie in einer Wüste.

»Gnädige Frau!« tönte es zwei Minuten später vor der versperrten Türe des Schlafzimmers.

»Wer ist da?« fragte Katerina Lwowna erschrocken.

»Erschrecken Sie nicht: ich bin es, Ssergej.«[154]

»Was willst du, Ssergej?«

»Ich habe eine Bitte an Sie, Katerina Lwowna. Gestatten Sie mir, daß ich für einen Augenblick eintrete.«

Katerina Lwowna sperrte die Türe auf und ließ ihn ein.

»Was willst du?« fragte sie, wieder ans Fenster tretend.

»Ich möchte Sie fragen, Katerina Lwowna, ob Sie mir nicht irgendein Büchlein zum Lesen geben können. Ich vergehe vor Langweile.«

»Ich habe gar keine Bücher, Ssergej, ich lese niemals,« antwortete Katerina Lwowna.

»So furchtbar langweilig ist es hier,« klagte Ssergej.

»Was weißt du von Langweile?«

»Erlauben Sie einmal! Wie soll ich mich nicht langweilen? Ich bin ja ein junger Mensch, wir leben hier wie in einem Kloster, und ich habe vor mir keine andere Aussicht, als hier in der Einsamkeit zugrunde zu gehen. Zuweilen verzweifle ich an meinem Leben.«

»Warum heiratest du nicht?«

»Ja, heiraten, das ist leicht gesagt! Wen soll ich hier heiraten? Ich bin ja ein unbedeutender Mensch; ein Mädchen aus dem Kaufmannsstande wird mich nicht nehmen, und die von unserem armen Stande sind viel zu ungebildet, das wissen Sie doch selbst. Kann denn so ein Mädchen die Liebe richtig verstehen? Aber auch die Reichen verstehen sie nicht viel besser. Für jeden andern Menschen wären Sie wohl der Trost seines Lebens, Ihr Gemahl hält Sie aber wie einen Kanarienvogel im Bauer.«

»Ja, ich langweile mich,« sagte Katerina Lwowna unwillkürlich.[155]

»Wie soll man sich auch nicht langweilen bei solch einem Leben, gnädige Frau! Selbst wenn Sie einen Geliebten hätten, wie die andern Frauen, so hätten Sie gar keine Möglichkeit, mit ihm zusammenzukommen.«

»Nein, du redest Unsinn. Ich glaube aber, daß es mir lustiger zumute wäre, wenn ich ein Kindchen hätte.«

»Erlauben Sie die Bemerkung, gnädige Frau: ein Kind kann man auch nicht so von heute auf morgen bekommen. Ich habe ja genug in den Kaufmannsfamilien gelebt und kenne mich in diesen Dingen gut aus. In einem Liede heißt es: ›Wenn du keinen Liebsten hast, stirbt das Herz vor Schmerzenslast.‹ Diesen Schmerz empfinde ich so stark, Katerina Lwowna, daß ich mir das Herz aus der Brust schneiden und es Ihnen vor die Füßchen werfen könnte. Und es würde mir dann viel leichter zumute werden ...«

Seine Stimme zitterte.

»Was erzählst du mir von deinem Herzen? Ich brauche es nicht. Geh ...«

»Nein, erlauben Sie, gnädige Frau,« sagte Ssergej, am ganzen Leibe zitternd und einen Schritt näher kommend. »Ich weiß, ich sehe und begreife, daß auch Sie es nicht leichter haben als ich. Alles hängt jetzt aber nur von Ihnen ab, alles ruht in Ihrer Hand!« Die letzten Worte hauchte er nur.

»Was willst du? Was willst du? Was bist du zu mir gekommen? Ich werde mich aus dem Fenster stürzen,« sagte Katerina Lwowna, von einer namenlosen Angst erfaßt, und griff mit den Händen nach dem Fensterbrett.

»Du Unvergleichliche, du mein Leben! Was sollst du[156] dich aus dem Fenster stürzen?« flüsterte Ssergej frech. Er riß die junge Frau vom Fenster los und umschlang sie mit seinen Armen.

»Laß los! Laß los!« stöhnte Katerina Lwowna leise, unter Ssergejs heißen Küssen ermattend und sich unwillkürlich an seine mächtige Brust schmiegend.

Ssergej nahm sie wie ein kleines Kind auf die Arme und trug sie in eine dunkle Ecke.

Im Zimmer trat nun eine Stille ein, die nur durch das gleichmäßige Ticken der Taschenuhr Sinowij Borissowitschs unterbrochen wurde, die über dem Bette Katerina Lwownas hing. Dieses Ticken störte aber niemand.

»Geh,« sagte Lwowna nach einer halben Stunde, ohne Ssergej anzublicken, ihr zerzaustes Haar vor dem kleinen Spiegel richtend.

»Was soll ich jetzt von hier fortgehen?« fragte Ssergej mit seliger Stimme.

»Der Schwiegervater wird die Türe zusperren.«

»Ach, meine liebe Seele! Hast du denn nur solche Männer gekannt, die eine Türe brauchen, um zur Geliebten zu gelangen? Wenn ich zu dir oder von dir will, so finde ich überall eine Türe,« antwortete der Bursche, auf die Balken, die die Galerie stützten, zeigend.

Quelle:
Ljesskow, Nikolai: Eine Teufelsaustreibung und andere Geschichten. München 1921, S. 154-157.
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